«Zeit und Demografie sind auf unserer Seite»
Pita Limjaroenrat wäre 2023 beinahe Regierungschef von Thailand geworden, wurde jedoch von der politischen Elite daran gehindert und aus der Politik verbannt. Er sagt, warum er für die Demokratie in Thailand weiterhin optimistisch ist und wie man mit China am besten umgeht.
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Was führt Sie in die Schweiz?
Ich bin hier, um eine Grundsatzrede über den Zustand Asiens zu halten. Es ist ein bedeutender Moment, um über die Beziehungen zwischen Europa und Asien in einer Welt zu sprechen, die ich als posthegemonial bezeichne. Ich sprach in demselben Raum, in dem Winston Churchill 1946 nichts Geringeres als die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa forderte. Wir befinden uns heute in einem ähnlichen Interregnum, in dem etwas zu Ende gegangen ist und ein neues Kapitel beginnt.
Warum glauben Sie, dass wir uns in einer ähnlichen Übergangsphase befinden?
Ich denke, dass die Ära nach dem Kalten Krieg – geprägt von amerikanischer Vormachtstellung, Globalisierung und liberaler Demokratie – vor unseren Augen zerfällt und wir nicht wissen, was als Nächstes kommt.
Was könnte das für Asien konkret bedeuten?
Asiens nächstes Kapitel sollte von einem Fokus auf «Beziehung statt Konfrontation» geprägt sein. In den 1950er-Jahren entstand Macht in Asien aus der blockfreien Bewegung (keine formelle Zugehörigkeit zu einem grossen Machtblock, Anm. d. Red.), in der Neutralität Macht bedeutete. Künftig wird Neutralität jedoch nicht mehr funktionieren. Stattdessen wird ein kleines, flexibles Netzwerk von Koalitionen eine Rolle spielen – denken Sie an Singapur, Indonesien oder Malaysia, die Prinzipien über Parteinahme stellen. Ausserdem wird sich Asien von der Werkbank der Welt zum Labor der Welt entwickeln. Und hoffentlich wird Asiens nächstes Kapitel darin bestehen, Frieden zu gestalten, statt nur auf ihn zu hoffen.
«Wenn Generäle Richter ernennen können, die Parteien auflösen, braucht man keine Panzer mehr.»
Wie begann Ihre politische Laufbahn?
Ich startete meine Karriere im Privatsektor, im Jahr 2000 bei der Boston Consulting Group. Nachdem der Tsunami 2004 Teile Thailands und Indonesiens verwüstet hatte, half ich der Regierung bei der Ausarbeitung einer Strategie zur Wiederbelebung des thailändischen Tourismus. Diese Erfahrung zeigte mir, wie viel komplexer öffentliche Politik im Vergleich zur Geschäftswelt ist. Deshalb diente ich von 2002 bis 2006 in der Regierung unter Premierminister Thaksin Shinawatra.
2023 wären Sie fast neuer Ministerpräsident Thailands geworden. Warum hat es nicht geklappt?
Kurz gesagt war es ein Kampf zwischen gewählten und ernannten Politikern. Ich war der Kandidat des Volkes, aber was folgte, war parlamentarisches Chaos. Meine Partei «Move Forward» ging mit 40 Prozent der Wählerstimmen, die mich persönlich unterstützten, als Sieger hervor. Die Wahlbeteiligung war die höchste in der thailändischen Geschichte. Doch ein nicht gewählter Senat, vom Militär ernannt, blockierte meine Nominierung. Wir hatten eine breite und komfortable Koalition mit 312 von 500 Sitzen aufgebaut, aber der Senat hob das Ergebnis auf.
Warum haben Ihre Gegner Sie blockiert?
Um an der Macht zu bleiben. Die Militärjunta hatte fast ein Jahrzehnt lang regiert, und als wieder echte Wahlen stattfanden, erzielten wir einen Erdrutschsieg. Sie wollten verhindern, dass Wahlergebnisse sich in konkreter Regierungsarbeit niederschlagen. Es ging nicht um mich als Person, sondern um ein System, das sich selbst verteidigt. Macht verschwindet selten, sondern verwandelt sich in neue Formen der Kontrolle. Das ist ein verbreitetes Muster in Autokratien weltweit. Autokraten lassen Wahlen zu, manipulieren aber das Ergebnis nach Bedarf.
Auf die Wahlen folgten Gerichtsbeschlüsse.
Ja, zwei an der Zahl. Beide sind Beispiele einer übergriffigen Justiz. Der erste war eine ungerechtfertigte Suspendierung. Man beschuldigte mich, Anteile an einem nicht mehr existierenden Medienunternehmen zu halten, das meinem Vater gehörte und vor 18 Jahren geschlossen wurde. Es gibt ein Gesetz, das Politikern den Besitz von Medienanteilen verbietet – zu Recht. Aber meine Gegner nutzten es taktisch, um mich für sechs Monate als Abgeordneten zu suspendieren, womit ich nicht mehr als Ministerpräsident in Frage kam. Nachdem ein neuer Regierungschef ernannt worden war, wurde ich von den Vorwürfen freigesprochen. Zweitens führte der Versuch, das Strafgesetzbuch zu ändern – insbesondere das Lèse-Majesté-Gesetz, das die Monarchie vor Verleumdung schützt –, zur Auflösung meiner Partei und zu einem zehnjährigen Politikverbot gegen mich.
Im Grunde genommen entscheiden also die Gerichte, wer Thailand regiert?
Genau. Im August dieses Jahres wurde Regierungschefin Paetongtarn Shinawatra (die Vorgängerin des amtierenden Anutin Charnvirakul) erneut durch eine verfassungsrechtliche Anordnung entmachtet. Das ist der dritte Justizputsch innerhalb von zwei Jahren. Diesmal wegen angeblich «unethischen Verhaltens» in einem durchgesickerten informellen Telefonat mit dem ehemaligen Führer Kambodschas. Der Mechanismus ist immer der gleiche. Auf diese Weise behalten die Eliten ihre Macht. Der derzeitige Regierungschef repräsentiert nur gerade 2,5 Prozent der Stimmen.
Ein Hauptgrund für Ihr Politikverbot war Ihr Wunsch, die Monarchie zu reformieren …
Wir wollten nicht die Monarchie reformieren. Wir stehen zur konstitutionellen Monarchie. Aber wir wollten das Lèse-Majesté-Gesetz ändern. Unser Ziel war Verhältnismässigkeit – Schutz der Meinungsfreiheit bei gleichzeitigem Schutz des Staatsoberhaupts. Thailand hat eine der strengsten Strafen der Welt für Kritik an der Monarchie, mit Haftstrafen von bis zu 15 Jahren. Zum Vergleich: in einigen europäischen Monarchien sind es nur wenige Monate. Übermässige Bestrafung erhöht die Ehrerbietung gegenüber dem König nicht. Ausserdem kann man durch die einfache Bezeichnung eines Projekts als «königlich» sicherstellen, dass man mit Sicherheit keiner Korruptionsprüfung unterzogen wird. Und das ist auch für den König nicht gut.
Würden Sie dies erneut zu einer Priorität machen, sollte sich eine weitere Gelegenheit ergeben?
Die Erlasse des Verfassungsgerichts bedeuten, dass der Handlungsspielraum für Reformen leider schrumpft, aber er ist nicht gleich null. Wir werden weiterhin innerhalb dieses engen Rahmens arbeiten, vorsichtig und im Einklang mit dem Gesetz, und versuchen, die thailändische Monarchie so weit wie möglich zu europäisieren.
Sie bezeichnen sich als progressiv. Was bedeutet das?
Unser Programm ähnelt sozialdemokratischen Parteien in Deutschland oder Dänemark – mit Fokus auf Arbeitnehmerrechte, Menschenrechte und inklusives Wachstum. Wir setzen uns auch für die gleichgeschlechtliche Ehe, indigene Rechte und Anti-Folter-Gesetze ein. Das wäre nach europäischen Massstäben Mitte oder Mitte-links; in einem konservativen buddhistischen Land wie Thailand hingegen gilt es bereits als progressiv und radikal.
Was haben Sie aus Ihrem gescheiterten Griff nach der Macht gelernt?
Dass die Eliten nicht leicht aufgeben. Thailand wurde 1932 erstmals demokratisch. In den ersten 80 Jahren gab es 13 Militärputsche. Die EU beendete Verhandlungen über ein Handelsabkommen aufgrund eines solchen Militärputsches. Mittlerweile wurden Militär- durch Justizputsche und eine Politik der Ernennungen ersetzt – eine diskretere und elegantere Methode. In den letzten zwei Jahrzehnten allein haben Gerichte 35 Parteien aufgelöst und Hunderte Politiker verbannt. Wenn Generäle Richter ernennen können, die Parteien auflösen, braucht man keine Panzer mehr.
Sie erwähnten Eliten, die an der Macht festhalten. Sie selbst sind ein erfolgreicher Unternehmer. Zählen Sie sich nicht zu dieser Elite?
Überhaupt nicht. Ich gehöre zur Mittelschicht – mein Vater arbeitete in einem Zellstoff- und Papierunternehmen, meine Mutter in einer Bank. Ja, ich habe im Ausland studiert, aber wir gehörten nie zum obersten Prozent.
Wer sind dann diese berüchtigten Eliten?
Das oberste Prozent. Laut Oxfam kontrollieren sie fast 80 Prozent der Vermögen in Thailand. Ich kenne sie, habe teils mit ihnen studiert, aber ich verfüge nicht über ihre Macht.
Wer regiert Thailand heute?
Die drei M: Monopole, Militär und Medien. Es ist ein System eines von oben gesteuerten Klüngel- und Khaki-Kapitalismus (Militärkapitalismus). Viele Menschen im Land haben genug und wollen kämpfen, glauben aber nach wie vor an schrittweisen Wandel durch Stimmzettel statt durch Gewehrkugeln.
Sind Sie optimistisch in Bezug auf die Zukunft der thailändischen Demokratie?
Ich kann meinen Optimismus quantifizieren. Jedes Jahr kommen 800 000 potentielle Erstwähler hinzu. Wenn mein Politikverbot endet, wird meine Tochter 18 Jahre alt sein. Und sie ist nicht alleine: Sie und rund sieben Millionen andere junge Wähler werden etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie sind mit dem Internet aufgewachsen, viele sind progressiv und werden die Zukunft Thailands prägen. Aber das ist keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen mit der jüngeren Generation in Verbindung bleiben. Zeit und Demografie sind auf unserer Seite. Das macht mir Hoffnung.
Wie blicken Sie auf die Wirtschaft?
Ich stehe für inklusives Wachstum durch den Abbau von Markteintrittsbarrieren. Monopole dominieren Thailand, weil sie die Gesetze schreiben. Es gibt zum Beispiel nur zwei Biermarken, weil kleine Produzenten durch Vorschriften wie hohe Kapitalanforderungen blockiert werden. Wir wollen Märkte öffnen, die Landwirtschaft aufwerten und KMU unterstützen.
Wie steht Thailand wirtschaftlich da?
Wir wachsen mit etwa 2 Prozent pro Jahr. Thailand ist die zweitgrösste Volkswirtschaft Asiens, wächst aber am zweitlangsamsten, nur knapp stärker als Myanmar.
«China kann man nicht einfach ignorieren. Der Schlüssel ist, eine Partnerschaft aufzubauen, ohne übermässig abhängig zu werden.»
Was sind die Gründe?
Ein Grossteil der Wirtschaftsmacht konzentriert sich auf etwa zehn Familien. Diese wachsen vielleicht, aber der Rest des Landes nicht.
Wie sind die Beziehungen zur Schweiz?
Ein lang verhandeltes Freihandelsabkommen zwischen ASEAN und der EFTA ist endlich in Kraft getreten. Die schweizerische Präzision und Neutralität sind Eigenschaften, von denen Asien lernen kann.
Gibt es asiatische Demokratien, die Sie als Vorbilder sehen?
Südkorea und Indonesien. Südkorea entwickelte sich nach vier Diktatoren zu einer High-Tech- und High-Touch-Demokratie. Vor einem Jahr verhängte der gewählte Präsident das Kriegsrecht, aber das Volk verteidigte die parlamentarische Demokratie gegen diesen Putschversuch und zeigte eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit. Indonesien reformierte sein System 1997 und zwang das Militär endlich zum Rückzug aus Politik und Wirtschaft.
Wie würden Sie die Beziehungen zu China gestalten?
China kann man nicht einfach ignorieren. Der Schlüssel ist, eine Partnerschaft aufzubauen, ohne übermässig abhängig zu werden. Wir müssen Handel und Investitionen stärker mit den USA, Europa, Australien und Lateinamerika diversifizieren. Dann kann China ein Freund statt ein Feind sein. Meiner Ansicht nach ist auch für Europa die Diversifizierung von Allianzen und die Vermeidung binärer Entscheidungen der Weg nach vorn.
Sie haben noch neun Jahre bis zum Ende Ihres Politikverbots. Was sind Ihre Pläne?
8,5 Jahre, um genau zu sein. Ich zähle die Tage, wie Sie sehen können (lacht). Ich möchte teilen und lernen. Ich versuche, mich in den Bereichen KI-Sicherheit, KI in der Medizin und Kohlenstoffbilanzierung weiterzubilden. Mein wichtigstes Projekt ist es, zukünftige Führungskräfte auszubilden. Ich bin zwar aus dem Spiel, aber ich kann immer noch coachen. Ich warte auf meine Zeit.
Arbeiten Sie an einem politischen Comeback?
Noch nicht. Ich sammle kleine Siege, Wissen und Menschen um mich herum. Beim letzten Mal waren wir ein kleines Team, das sich darauf konzentrierte, was zu tun ist und warum. Dieses Mal wird ein komplettes Kabinett bereitstehen, um zu regieren. Die Geschichte Thailands ist noch nicht zu Ende.

Das Interview wurde an der «State of Asia» Konferenz in Rüschlikon geführt, organisiert von der Asia Society Switzerland, bei der Pita Limjaroenrat als Redner auftrat.