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Neues Avantgardevergnügen

Bruce Bégout: Der ParK.
Aus dem Französischen von Franziska Humphreys-Schottmann.
Zürich: diaphanes, 2011.

Der Vergnügungspark, der die Speerspitzen unserer Spassgesellschaft ausnahmslos in den Schatten stellt, liegt auf einer 624 km2 grossen Privatinsel vor Borneo. Ein Architekt und Cyperpunk-Futurist namens Licht hat ihn im Auftrag des russischen Waffen- und Unterhaltungsindustriellen Kalt für rund 4 Milliarden Dollar erbaut. Die «universelle Quintessenz aller realen und möglichen Parks» wird schlicht «ParK» genannt und täglich von maximal hundert Personen in Fünfergruppen besucht, die für die Eintrittskarte je 15 000 Dollar auslegen. ParK beschäftigt 175 000 Angestellte, darunter Ingenieure, Neurobiologen, Schauspieler, Tierpräparatoren und Militärberater. Die Informationen über die eigentlichen Attraktionen sind bruchstückhaft und bisweilen rätselhaft: Im Uterus-Theater reitet der Tourist «auf wild gewordenen Spermien»; im Viertel der Einsamen beobachtet er Menschen, die ohne jeglichen Kontakt zueinander leben; die Terroristischen Gewächshäuser präsentieren fleischfressende Pflanzen neben Folterinstrumenten; in der «perfekten Nachbildung eines amerikanischen Gefängnisses im Irak können die Besucher Folterknecht spielen», das Hotel-Casino Todeskamp I lädt zu Glücksspielen in den stinkenden Baracken von Zwangsarbeitern ein; im Konservatorium der Schreie dokumentieren Tonaufzeichnungen den Todeskampf von ParK-Bewohnern, die wilden Tieren zum Opfer gefallen sind. Den zahlenden Besuchern droht freilich keine Gefahr: Sie werden von Aufsehern begleitet, und versteckte «Elitescharfschützen» garantieren das «Nullrisiko». Die Konfrontation mit Wildnis und Grausamkeit findet unter Bedingungen totaler Kontrolle statt.

«Der ParK» zeigt, was auf die «Gesellschaft des Spektakels» folgt: ein vollkommen neuer Begriff von Unterhaltung. ParK ist «genauso gut ein Park der Sensationen wie der Aversionen». Die lästige Mauer zwischen Zerstreuung und Unbehagen ist gefallen: «Das Wunderbare und das Furchtbare, das Spielerische und das Pathetische, alles, was starke Emotionen weckt, ob angenehme oder nicht: das ist das spektakuläre Versprechen von ParK.»

Dass ausgesuchte Kunden alle zwei Wochen der Vergasung einiger ParKianer in den Duschen oder Saunas
beiwohnen, ist ein von der Parkleitung dementiertes Gerücht. Dennoch entspricht die Logik von ParK einer Vermischung von «Disneyland und Treblinka», und ein im Buch zitierter Journalist einer Zeitung aus Tomsk bringt es so auf den Punkt: «Die extreme Frage, die ParK aufwirft, ist die: Wie kann man sich nach Auschwitz noch amüsieren? Seine Antwort: Man kann sich gemäss Auschwitz amüsieren.» So erstaunt es nicht, dass die Institution oft Besuch von Menschenrechtskommissionen und Politikern erhält, doch bezeichnenderweise amüsieren sich ausgerechnet diese Gäste am besten und «ziehen mit lauter neuen Ideen im Kopf fröhlich von dannen».

Passagen wie diese zeugen von der satirischen Lust des 1967 geborenen Autors Bruce Bégout, Philosophieprofessor an der Universität Bordeaux. Als Spezialist für Edmund Husserl ist Bégout bekennender Phänomenologe und widmet sich in seinen theoretischen Texten den Zusammenhängen zwischen Alltagswelt und Stadtentwicklung. Seine Verbindung von Reportage und Gesellschaftsanalyse knüpft an die kulturkritischen Ansätze seiner Landsleute Jean Baudrillard, Paul Virilio oder auch Michel Foucault an – «Der ParK» erinnert aber auch an Peter Sloterdijks vor einem guten Jahrzehnt heiss umstrittene Thesen über den «Menschenpark» und an den italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der die heutige «condition humaine» mit den Paradigmen des Zwangslagers, des Ausnahmezustandes und des «nackten Lebens» beschreibt.

Was den Philosophen Bégout umtreibt, ist die Frage, inwieweit und wie sich Menschen der Welt um sie herum öffnen oder aber sich von ihr abkapseln. In den beiden Essays «Lieu commun» und «Zeropolis» (letzterer auch auf Deutsch erschienen) hat er das Motel und die Casinos von Las Vegas als Spielarten solcher Fluchtburgen untersucht. Weitere Beispiele wären gated communities, akademische Elfenbeintürme oder eben: Vergnügungsparks und Arbeitslager. ParK zelebriert die «heilbringende Enklavenbildung» – im Hauptausstellungsraum prangt der Satz: «Ungeachtet unserer Sehnsucht nach dem Unendlichen bestimmt das Bedürfnis nach Eingrenzung unser Wesen.»

«Der ParK» ist eine Hommage an H. G. Wells’ «Insel des Doktor Moreau» und steht in der Tradition negativer Utopien wie George Orwells «1984» oder Aldous Huxleys «Schöne neue Welt». Der wesentliche Unterschied: Bégouts Insel ist kein totales Modell, das alle Bereiche des Lebens umfasst. Entsprechend ist der «Roman» auch alles andere als ein Roman, viel eher: Invention, Analyse, Gedankenexperiment, fiktive Reportage, philosophierender Tagtraum. Dass namentlich bekannte Figuren nur am Rande auftreten und höchstens Ansätze zu einem Plot vorhanden sind, ist aber nicht der Grund dafür, dass «Der ParK» als literarischer Text nur bedingt geglückt ist. Dies liegt eher am manchmal etwas sperrigen und umständlichen Stil. Bégouts ausgeprägte Vorliebe für Aufzählung, Chiasmus und Oxymoron hingegen passen immerhin gut zum grotesken und ambivalenten Inhalt des Buches. Das namenlose «Wir» des Berichterstatters ist ein dubioser Bursche ohne klare Position und Funktion – literaturtheoretisch gesprochen ein «unzuverlässiger Erzähler».

Im Unterschied zu den totalitären Weltentwürfen Orwells und Huxleys liefert Bégout eine chaotische Vision in Bruchstücken – auf seiner Insel gibt es keinerlei Übersichtskarten oder Wegweiser. Unter dem Stichwort «Neuro-Architektur» denkt er die Interaktion zwischen Phantasma und Lebensraum an, und so erweist sich das künstliche Paradies von ParK als ebenso nomadisch und plastisch wie das Begehren des Wunschwesens Mensch. Eines der grössten Phantasmen unserer Zeit steckt zweifelsohne in den Fragen: Wie vergnügen sich die Reichen? Wofür lohnt es sich, sehr viel Geld anzuhäufen? Für das Recht, Tabubrüche zu begehen, lautet der schreckliche Verdacht, den das Buch zumindest vordergründig nährt. Die Besucher von ParK sind in ihrem Schwanken zwischen Euphorie und
Melancholie Erben der Libertins aus den Romanen des Marquis de Sade oder auch der dekadenten Dandies des französischen Fin de Siècle im späten 19. Jahrhundert. Insbesondere Lady W., die dank einer Sonderbewilligung ihren Tudor-Landsitz im ParK errichtet und «nur das Ungeniessbare geniessen» kann, wirkt wie aus Octave Mirbeaus «Garten der Qualen» (1899) entsprungen.

Die Pointe von Bruce Bégouts Beitrag zur Diskussion über die Spassgesellschaft besteht darin, dass er die Avantgarde des Vergnügens verlagert: weg von den Subkulturen der Bohème, hin zu den «vorgewarnten Kunden» aus der Finanzelite. «Post-gregäre Unterhaltung» emanzipiert sich von der populären Massenkultur herkömmlicher Themenparks. In der perversen Abweichung liegt die letzte Chance des Widerstands gegen die Routine. Eine Revolution von oben und eine souveräne Geste, die dem Katzenjammer dennoch nicht entgeht: Denn selbst die grösste Überschreitung findet nur unter Kontrolle statt: «Grenzerlebnisse in festen Erlebnisgrenzen».

Aber die Reichen und Mächtigen, so mag man Bégout entgegnen, werden doch nicht allen Ernstes nach Borneo reisen, um sich am Leiden der Gemarterten zu weiden. In der Tat, dieses Leiden wird traditionellerweise eher verschwiegen, beschönigt oder verdrängt. Insofern ist Bégouts Buch vielleicht gerade keine Schreckensvision der Zukunft, sondern eine Parabel auf den Ist-Zustand. Oder schärfer noch: der schwarzhumorige Appell, Lust und Schmerz in ihrem real existierenden Zusammenhang zu zeigen und die gnadenlosen Demarkationslinien unserer Welt nicht fortlaufend zu vertuschen. ParK wäre dann, wie der Text selber sagt, «die Weltausstellung der Übel unserer Zivilisation, die gerade dadurch abgewendet werden, dass sie öffentlich ausgestellt werden».

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