Nacht des Monats
mit Ursula Fricker
Vojin Saša Vukadinović dringt mit Ursula Fricker in fremde Gärten ein.
Rund eine Stunde dauert die Autofahrt von Berlin in die Märkische Schweiz. Vorbei an vielen Seen, durch diverse Kleinstädte und einige Dörfer. Das östliche Brandenburg ist weniger dicht besiedelt als das westliche; es wirkt luftiger und würde wohl noch immer den Eindruck machen, dass Deutschland hier endet, stünden da nicht zahlreiche Windräder in der Landschaft, die mittlerweile in alle Himmelsrichtungen das Gegenteil signalisieren.
Buckow ist der einzige staatlich anerkannte Kneipp-Kurort des Bundeslandes. Im frühen 20. Jahrhundert errichteten hier gutbetuchte Berliner ihre Sommerresidenzen, nach dem Zweiten Weltkrieg folgte mit Bertolt Brecht und Helene Weigel literarische Prominenz nach. Heute lebt Ursula Fricker hier, die in Schaffhausen geborene Schriftstellerin; mit «Gesund genug» hat sie letztes Jahr einen herrlich frischen Roman über einen todgeweihten Gesundheitsfanatiker verfasst, einen Hypermoralisten, der mit seinen «biodynamischen» Vorstellungen körperlicher Reinheit Angehörige wie weitere Mitmenschen auf die Probe stellt.
An einem kleinen Hang, von dem aus der Blick auf einen gerade prächtig blühenden Kirschbaum, auf einen Weiher sowie auf eine Villa mit dem sprechenden Namen «Sans Souci» fällt, liegt Frickers Wohnung. Diese teilt sie sich mit Wanja, einer quirligen Zwergpudeldame, die mich sofort umspringt. «Es schnauft jemand bei jemandem, der ansonsten gerne allein ist. Nicht verkehrt», fasst die Autorin das «ziemlich konfliktarme» Leben mit der kleinen Gefährtin zusammen. «Wir sind ein gutes Team.» Tatsächlich macht Wanja einen auffallend glücklichen Eindruck, und angesichts dieser Umgebung erschliesst sich mir auf einmal die Bedeutung des Begriffs «pudelwohl».
Zur Begrüssung präsentiert Fricker eine ganze Kiste voller Morcheln, die sie in der Frühe in der unmittelbaren Umgebung geerntet hat. «500 Euro das Kilo!» kosteten die, wenn man sie nicht selber sammle, lacht sie, bevor sie die köstlichen Funde für uns in die Pfanne haut. Während wir essen, berichtet sie von Schaffhausen. Es sind ambivalente Eindrücke: Einerseits «wunderbare Sommer auf, am und im Rhein», aber auch eine «enge Kindheit» und die «Erinnerung daran, wie aufregend, wie belebend und befreiend es sein kann zu gehen».
Nach den wilden 1990er-Jahren hatte sie dann irgendwann auch von Berlin genug und zog hinaus aufs Land. Nach verschiedenen Stationen im Brandenburgischen lebt sie nun in Buckow, und die Qualitäten dieser abgelegenen Kleinstadt kann sie sehr genau benennen: «Man kennt fast jeden, man trifft sich zufällig, wechselt ein paar Worte, geht weiter. Trotzdem fühlt man sich nicht kontrolliert. Und die Stille mag ich schon sehr.»
Nach dem Dinner erheben wir uns, denn am anderen Ende des Ortes hat Fricker beim Spazieren ein verlassenes Haus entdeckt, das recht seltsam aussehe und auch bei Dunkelheit einen Besuch wert sei. In dieser fast eisigen Frühlingsnacht machen wir uns also auf den Weg. Am Grundstück angekommen, steigen wir zunächst über den Gartenzaun, was die Nachbarn mitbekommen, worüber sie sich aber kein bisschen erstaunt zeigen. Vom Handylicht geleitet, schlagen wir uns durch den verwilderten Garten. Die Tür ist zwar verschlossen, aber die Fenster gewähren zumindest einen Blick ins Innere. Womöglich hat hier jemand alles stehen und liegen gelassen.
«Eine Carte blanche für Geschichten», freut sich die Autorin. Der Gruselfaktor ist recht offensichtlich, denn so ganz wohl ist mir beim Umherschleichen nicht, Assoziationen an eine sprichwörtliche «Leiche im Keller» dieses Gebäudes kommen unweigerlich auf. Fricker denkt derweil schon weiter: «Warum steht ein Haus an einer solchen Lage leer? Die Architektur ist ungewöhnlich für diese Gegend. Wer hat darin gewohnt, warum wurde es aufgegeben? Es hat ja eine irgendwie warme Ausstrahlung und tut einem fast ein bisschen leid, wie es da in seinem desolaten Zustand auf bessere Zeiten oder den Abriss wartet.»
Das Rätsel um den oder um die Eigentümer vermögen wir allerdings nicht zu lösen. Wir steigen erneut über den Zaun, um das leicht unheimliche Grundstück zu verlassen, und begeben uns stadteinwärts. Im Wissen um Frickers hervorragendes Gespür für Lokales ahne ich, wo ihr kommender Roman spielen könnte. Sie lächelt, und Wanja springt zur Verabschiedung im Dunkeln auf und ab.