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«Ich denke, dass Wissen und Wahrheit das Ziel ­universitärer Forschung sind und bleiben sollten»
Sally Haslanger, zvg.

«Ich denke, dass Wissen und Wahrheit das Ziel ­universitärer Forschung sind und bleiben sollten»

Die Philosophin Sally Haslanger arbeitet zu Konzepten, die auch in identitätspolitischen ­Debatten eine grosse Rolle spielen. Die MIT-Professorin ­ordnet deren unkritischen Gebrauch ein, findet aber nicht, dass das ­gesamte postmoderne Denken über Bord ­geworfen werden sollte.

Viele der jüngeren Aktivisten von heute behaupten, gegen «das Patriarchat», gegen «Heteronormativität» oder gegen «White Supremacy» zu kämpfen. Sie scheinen sich auf akademische Sprache zu stützen, wenn sie Urteile über die Welt oder über politische Probleme fällen. Eine ­ihrer wiederkehrenden Phrasen lautet, dass Dinge «sozial konstruiert» seien – eine ­Formulierung, die dem postmodernen Diskurs entlehnt scheint, die Sie aber ebenfalls benutzen. Wenn Sie sagen, dass etwas «sozial konstruiert sei», was meinen Sie damit?

Hierzu habe ich lange gearbeitet und fand das im gewöhnlichen Sprachgebrauch recht verwirrend. Wenn Leute manchmal davon sprechen, dass etwas «sozial konstruiert» sei, könnten sie sich darauf berufen, dass es nichts gebe, das mit einem Konzept korrespondiere: Alles findet in unserem Kopf statt, alles ist erfunden. Und mir scheint das eine sehr ungenaue Art und Weise, darüber nachzudenken.

 

Haben Sie hierfür ein Beispiel?

Es gibt da diese abschätzige Art, die Formulierung «soziale Konstruktion» zu verwenden, um ein Konzept zu hinterfragen. Wenn Leute sagen, «Race ist sozial konstruiert», meinen sie damit, dass es in der Biologie nichts gebe, das mit Race korrespondiere – dass gar keine «Rassen» existierten, wir uns das alles ausgedacht haben und es sich um eine Illusion handle. Die Formulierung wird zudem genutzt, um auf die Geschichte hinter einem Konzept hinzuweisen. Selbstverständlich haben alle Konzepte eine Geschichte, daran überrascht zunächst nichts. Konzepte erlernen wir in den Umgebungen, in denen wir aufwachsen, und verwenden sie dann so, wie sie uns beigebracht wurden. Das heisst aber nicht, dass nichts existierte, das sich nicht mit ihnen deckt.

 

Ihre Forschung gilt sozial konstruierten Objekten. Was heisst das?

Denken Sie an die Unterscheidung von Ehemann und Ehefrau oder zwischen Vermieterin und Mieter. Diese Unterscheidung ist einzig unter sozialen Bedingungen möglich – es gibt kein natürliches Verhältnis zwischen Eheleuten oder zwischen Hauseigentümern und Mietern. Diese Beziehungen existieren einzig deshalb, weil es einen sozialen Rahmen gibt, der Gesetze, Regeln und andere Vereinbarungen vorgibt. Die Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau ist sozial konstruiert.

 

Haben Sie hierfür weitere Beispiele?

Die Beziehung zwischen Eltern und ihrem Kind ist nicht dasselbe wie die rechtliche Beziehung zwischen den beiden. Ich selbst bin mit meinen Kindern nicht biologisch verwandt, weil ich sie nicht geboren habe, bin jedoch trotzdem ihr Elternteil, und die Eltern-Kind-Beziehung ist nicht nur eine biologische Beziehung, sondern auch eine sozial konstruierte. Eltern haben bestimmte Rechte in bezug auf ihre Kinder, können auf ihre Rechte verzichten und sie an andere Personen als Eltern weitergeben. Manchmal herrscht Verwirrung, wenn von Eltern und Kindern gesprochen wird, als ob es sich um eine rein natürliche Beziehung handle, was in unserer Gesellschaft jedoch nicht der Fall ist. Es handelt sich auch um ein rechtliches Verhältnis, was viele rechtliche Konsequenzen hat.

 

Der Titel Ihrer Monografie lautet «Der Wirklichkeit ­widerstehen». Was meinen Sie damit?

Einerseits gibt es viele Bestandteile der sozialen Welt, die als fix oder als natürlich gelten, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht sind. Ich wollte deshalb aufzeigen, dass sich unser eigener Handlungsspielraum stetig erweitern kann: Wir spielen eine Rolle bei der Herstellung der sozialen Realität, bauen Autobahnen, Lebensmittel- und Transport­systeme. Durch Technologie und die materielle Infrastruktur verändern wir die Realität, aber auch unsere Körper und unser Selbstverständnis. Andererseits wollte ich denjenigen argumentativ entgegentreten, die meinen, dass es im Sozialen lediglich Individuen gebe, und die sich beispielsweise der Realität widersetzen, die Gruppen oder soziale Kräfte hervorbringen. Meine Arbeit zielt darauf ab, den Widerstand gegen diese Faktoren zu benennen.

 

«Ich glaube, dass es ­einige Aspekte des ­Postmodernismus gibt, die sehr schädlich ­waren, vor allem der ­Widerstand gegen ­Wissen und Wahrheit.»

 

Glauben Sie, dass es in den Geisteswissenschaften eine Krise gibt, die durch den zunehmenden Einfluss postmodernen ­Denkens verursacht wird, wie gegenwärtig viele Kommenta­toren behaupten?

Diesbezüglich herrscht gerade eine gewisse Verwirrung, da die Postmoderne solch ein breiter Begriff ist – ähnlich wie im Fall der «sozialen Konstruktion» wird damit viel um sich geworfen. Ich glaube, dass es einige Aspekte des Postmodernismus gibt, die sehr schädlich waren, vor allem der Widerstand gegen Wissen und Wahrheit. Ich denke, dass Wissen und Wahrheit das Ziel universitärer Forschung sind und bleiben sollten. Beweise sind ebenfalls sehr wichtig. Ich glaube aber auch, dass eine der positiven Botschaften der Postmoderne darin besteht, dass wir nicht ver­suchen sollten, totalisierende Theorien aufzustellen, die beanspruchen, für alle Menschen und für alle Zeiten zu sprechen. Dieser Einwand ist zweiteilig.

 

Inwiefern?

Der eine Teil wehrt sich gegen die aus der Aufklärung stammende Idee vom rationalen, autonomen moralischen Akteur. Dies ist der reine Akteur, der – für die Zwecke der Theorie – keine «Rasse», kein Geschlecht, keine Klasse, keine Staatsbürgerschaft, keine Geschichte und keine Abhängigkeit aufweist. Wenn Philosophen fragen: «Was sollte ich tun (was sind meine moralischen Rechte und Pflichten)?», «Was kann ich wissen?», «Wie sollte ich leben?», dann wurde angenommen, dass wir diese Fragen für alle Personen beantworten können und dies sogar a priori ­versuchen. Dies führte jedoch dazu, dass die Unter­suchung entscheidende Fakten über die menschliche Existenz ­vernachlässigte. Zum Beispiel ist das, was man wissen kann, von den eigenen Lebensumständen und der eigenen Verkörperung derselben abhängig. Wie man leben sollte, hängt von der kulturellen Situation und von den familiären Bindungen ab.

 

Und der zweite Teil jener Kritik?

Dieser richtet sich gegen die Annahme, dass wir Erklärungen für das menschliche Leben und die Geschichte formulieren können, die über Zeit und Kultur hinweg Gültigkeit haben – etwa, dass der Marxismus Instrumente zum Verständnis aller Gesellschaften bereithält, dass der Kapitalismus für alle gut oder dass der Liberalismus immer und überall die beste Regierungsform sei. Postmodernismus steht für die Auffassung, dass derart weitreichende Theorien zum Teil eben deshalb zu weit gehen, weil sie mit jener verengten Vorstellung vom Individuum und dessen historischer Situation arbeiten.

 

Jedes Kapitel Ihres Buches hat eine Bibliografie. Die Namen, die zumeist mit postmodernem Denken assoziiert werden – ­Jacques Derrida, Michel Foucault oder Judith Butler –, tauchen dort nicht oft auf.

Stimmt. Jacques Derrida ist niemand, dessen Werk mir ­gewinnbringend vorgekommen wäre, ich gestehe aber, dass ich nie darin geschult wurde, ihn zu lesen. Es gibt ­einen Zweig in der französischen Tradition, der sich mit der Idee beschäftigt, dass Selbstwerdung ein Gegenüber erfordere: Man verfügt nicht über ein Selbst, wenn man sich nicht gegen einen anderen definiert. Mir kommt das einfach albern vor. Ich glaube nicht daran, und ich glaube auch nicht, dass die Psychologie das stützt. Dahinter steht eine Sprachtheorie, die davon ausgeht, dass Begriffe nur durch die Bezugnahme auf andere Begriffe definiert werden können; auch das scheint mir keine gute Sprachphilosophie.

 

Was bevorzugen Sie?

Mir liegen empirische Erkenntnisse und eine kritische ­Sozialwissenschaft sehr am Herzen, während mich die Brutalität und Ungerechtigkeit der derzeitigen politischen Systeme besorgt. Zudem glaube ich nicht, dass das Reden über «das Selbst und das Andere» und ähnlich dialektische Oppositionen überhaupt hilfreich sind. Mir hilft das einfach nicht weiter. Dennoch bin ich dem Werk von Judith Butler, Michel Foucault, Louis Althusser und anderen Vertretern der postmodernen Tradition zutiefst verpflichtet.

 

Die jüngere Generation von Aktivisten bedient sich einer ­stilisierten Sprache, die dem postmodernen Denken entlehnt scheint: Das Denken in Begriffen wie «Machtbeziehungen», der Widerstand gegen «binäre Oppositionen» und so weiter. Wie sehen Sie das?

Ich stehe Foucaults Idee wohlwollend gegenüber, dass Macht in den kleinen Beziehungen zwischen uns zirkuliert und es nicht nur darum geht, dass Obrigkeiten Gesetze ­machen und dominante Strukturen schaffen. Ich glaube, dass Macht auf viel heimtückischere Weise wirkt. Aber ich mache mir auch grosse Sorgen um Klassenaspekte und bin sehr besorgt über das Ausmass der Gewalt und der Rassi­fizierung in den Vereinigten Staaten. In einigen meiner ­Arbeiten habe ich vorgeschlagen, dass wir unser konzep­tionelles Repertoire «verbessern» könnten, und ich glaube, dass eine Form der Verbesserung Binaritäten aufbricht, um für grössere Vielfalt zu sorgen.

 

Das von den Geistes- und Sozialwissenschaften hervor­gebrachte Wissen hat der Wirkmächtigkeit der Sprache ­erhebliche Macht zugeschrieben.

Ich stimme zu, dass es eine Menge unergiebiger Debatten hierzu gibt. Dennoch scheint Sprache diesen normativen Aspekt aufzuweisen, weswegen ich nicht sagen würde, dass das keine Rolle spielt.

 

Wie stehen Sie dann zur gegenwärtigen aktivistischen Rhetorik? Diese kreist oft um die Idee, dass eine Veränderung der Sprache auch repressive soziale Strukturen verändern würde, insbesondere solche, die mit den Geschlechtern zu tun haben.

Um eine soziale Struktur zu verändern, muss man Praktiken ändern – das, was wir tun. Ändert man beispielsweise grüne Ampeln in blaue, wird sich das Verkehrsverhalten deswegen nicht verändern. Auch das Verändern eines Wortes ändert nicht das, was wir tun. Man muss einen Weg finden, um die Praxis zu unterbrechen. Manchmal erreicht man das durch die Gesetzgebung. Das Gesetz bestimmt zum Beispiel, wer als Flüchtling und wer als Migrant gilt. Im 20. Jahrhundert konnten in den Vereinigten Staaten nur Personen, die aus bestimmten Regionen flohen oder bestimmten Konflikten entkamen, einen Antrag auf Flüchtlingsstatus stellen. Diese regionalen und ideologischen Beschränkungen wurden 1980 formell aufgehoben, was jedoch nicht bedeutet, dass sie in der Praxis nicht bestehen blieben. Der Personenkreis, der nun einen Antrag auf Anerkennung des Flüchtlingsstatus stellen konnte, wurde breiter. In den Vereinigten Staaten haben wir auch die Ehe geändert, so dass gleichgeschlechtliche Paare heiraten können. Wir ändern Bedeutung auf Rechtswegen, und dann ändern wir das Verhalten. Oftmals reicht es ­jedoch nicht aus, nur die Bedeutung der Worte zu ändern, um das Verhalten zu ändern, weil Menschen weiterhin ­machen, was sie ohnehin tun, nur nennen sie es anders.

 

Hat die aktivistische Fixierung auf Sprache nicht reale ­Aus­wirkungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, wie die Debatten über die Zulassung von Transfrauen im ­Frauensport zeigen?

Ja, Sport ist allerdings kompliziert. Warum sollten wir «Frauen»-Sportarten und «Männer»-Sportarten haben? Mir ist nicht klar, dass Geschlecht immer der ausschlag­gebende Faktor dafür ist, gegen wen man antreten sollte, schliesslich gibt es sehr kleine und sehr grosse Männer sowie sehr kleine und sehr grosse Frauen. Und warum sollte es so sein, dass man, nur weil man das gleiche Geschlecht hat, gegen jemanden antreten muss, der viel grösser ist als man selbst und der körperlich viel mehr Vorteile hat als man selbst? Warum sollte ich nicht gegen eine Person antreten dürfen, die meine Grösse und mein Gewicht hat? Das könnte fairer ausfallen. Bezüglich der körperlichen Ver­änderungen, die mit einer Geschlechtsangleichung einhergehen, herrschen noch immer viel Unwissenheit und Verwirrung vor, ebenso was intersexuelle Menschen angeht. Es ist ein Fehler anzunehmen, dass es nur eine Art von weib­lichem und männlichem Körper gibt.

«Der Wirklichkeit widerstehen» endet mit der empathischen Bemerkung, dass wir repressive gesellschaftliche Probleme, ­darunter Rassismus, gemeinsam überwinden müssten. Viele der lautstarken Aktivisten von heute scheinen jedoch eher an gesellschaftlicher Parzellierung interessiert.

Es gibt verschiedene Arten von sozialen Bewegungen: solche, die sich wie die Friedens- oder die Vegetarierbewegung für soziale Verantwortung einsetzen, aber auch Befreiungsbewegungen, die sich um die Bedürfnisse, Rechte und Interessen einer bestimmten Gruppe kümmern – seien es Frauen, LGBTQ-Menschen oder Behinderte. Ich denke, dass diejenigen, die unmittelbar betroffen sind, einen besonderen Status haben, um die Arten von Unrecht und Schäden zu benennen, auf die sich die Bewegung konzentrieren sollte. In jeder Befreiungsbewegung gibt es Momente, in denen die Unterdrückten solidarisch sein und sich von der dominanten Gruppe abgrenzen müssen; sie brauchen Raum, um ihre Anliegen zu benennen und in ­ihren eigenen Worten zu beschreiben. Aber wenn wir nicht alle an der Veränderung der Dinge beteiligt sind, um Gerechtigkeit zu fördern, wird es schwierig sein, voranzukommen. Deshalb müssen wir zusammenarbeiten.

 

Wenn Sie auf Studenten treffen würden, die sich ebenfalls für jene Art von Aktivismus engagieren, über die wir gesprochen haben – Menschen, die ein bisschen zu leidenschaftlich, ein bisschen zu laut und ein bisschen zu aggressiv für die Idee ­eintreten, dass man die Sprache ändern muss, um die Welt zu verändern –, was würden Sie ihnen sagen?

Die Erfahrungen junger Menschen, wie die Welt aussieht und wie sie funktioniert, sind oftmals überschaubar. Müsste ich ihnen die Herausforderungen verdeutlichen, an denen sich die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit zu messen hat, würde ich sie auf einige Spaziergänge durch bestimmte Gegenden und Gemeinden mitnehmen und sie dort vielleicht mit bestimmten Menschen zusammen­treffen lassen, damit sie sehen, auf welche Weise diese von den materiellen Bedingungen erdrückt werden. Ich möchte, dass sie sehen, dass wir zwar die Sprache ändern müssen, dass eine solche Veränderung die Welt aber nicht unbedingt zu einem gerechten Ort macht. Die materielle Infrastruktur und die ökonomischen Bedingungen einer Gesellschaft ändern sich nicht, wenn man nur die Sprache ändert. Ich würde mich also nicht nur auf Argumente stützen, sondern auch auf Erfahrungen und Erlebnisse.

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