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Vom Glück der Nachkriegsgeneration
Benedikt Weibel, zvg.

Vom Glück der Nachkriegsgeneration

Meine Altersgenossen und ich erlebten in den 1960er-Jahren eine einzigartige Zeit des Hochgefühls – und deren abruptes Ende. Sie prägt unsere Welt bis heute.

Unsere Eltern haben noch den Krieg erlebt. Obwohl das Land verschont blieb, war es eine entbehrungsreiche Zeit. Wir Nachkriegskinder wurden in eine Welt geboren, in der die Rollen klar verteilt waren. Der Mann arbeitete, die Mutter kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Heim und Arbeitsplatz waren so nahe, dass die ganze Familie zu Hause Mittag essen konnte. Punkt 12.30 Uhr hörten wir den Mittagsnachrichten von Radio Beromünster mäuschenstill zu. Nach dem Essen legte sich der Vater für ein kurzes Nickerchen aufs Sofa, Mutter wusch ab und servierte dann den Mittags­kaffee. Der Erziehungsstil war autoritär, zu Hause und in der Schule – Teppichklopfer und Bambusstock waren probate Erziehungsmittel.

«Der Erziehungsstil war autoritär, zu Hause und in der Schule –

Teppich­klopfer und Bambusstock waren probate Erziehungsmittel.»

Bald schon setzte ein beispielloses Wirtschaftswachstum ein. Kühlschrank, Fernsehapparat, Auto, Einfamilienhaus waren die äusseren Zeichen des rasch zunehmenden Wohlstands eines immer breiter werdenden Mittelstandes. Der Übergang vom Zeitalter der Notwendigkeit in das Zeitalter des Überflusses vollzog sich innert kürzester Zeit. Das sei der Grund, sagen Historiker, dass die Kluft zwischen Eltern und ihren Kindern nie tiefer gewesen sei als in dieser Epoche.

Die Generation der Babyboomer, zu denen auch die 68er gehören, umfasst die Jahrgänge von 1946–1964. Illustration: Ama Design.

Das anhaltende Wachstum bescherte der Weltwirtschaft bis in die Mitte der 1970er-Jahre das «goldene Zeitalter», die längste Boomphase der Geschichte, obwohl die Welt keineswegs friedlich war. Die USA und die Sowjetunion rüsteten massiv auf, das nukleare Drohpotenzial wurde immer grösser. Das erste geschichtliche Ereignis, das ich bewusst wahrgenommen habe, war 1956 der Einmarsch der Sowjettruppen in Ungarn. Die 1960er-Jahre begannen mit einem Paukenschlag: Mit dem jugendlichen, blendend aussehenden US-Präsidenten John F. Kennedy trat ein völlig neuer Typ Politiker auf die Bühne. Sein Wahlslogan «New Frontier» war das Zeichen zum Aufbruch. Wer in diesem Jahrzehnt jung war, hat den ­Moment nie vergessen, als sie oder er erstmals den neuen Sound hörte. Beatles, Rolling Stones, Bob Dylan… John Lennon hat gesagt, die Welt sei vor den Beatles grau gewesen, nun sei sie farbig. Die neuen Töne verbreiteten sich rasend schnell; weltweit entwickelte sich eine globale Jugendkultur. Hiess es zu Beginn noch «Yeah, yeah, yeah», wurden die anspruchsvoller werdenden Songtexte bald zu globalen Botschaften.

Der 23. Juni 1960 hat die Welt verändert, ohne dass es zunächst jemand merkte. Die US Food and Drug Administration erteilte dem Verhütungsmittel Enovid die Zulassung, ein Jahr später kam die Antibabypille in Europa auf den Markt. Es war eine Zeit, in der das Konkubinat vielerorts gesetzlich verboten war (im Kanton Wallis bis 1995), Damenbesuche in Studentenbuden ebenso. Die sexuelle Revolution machte auch vor dem bürgerlichen Schlaf­zimmer nicht halt. Oswald Kolle führte in seinen vielbeachteten Filmen durch die Welten eines erfüllten Liebes­lebens jenseits der Missionarsstellung. Die Heranwachsenden fanden in der Zeitschrift «Bravo» die entsprechenden Anleitungen. Auf den Transparenten stand: «Make love, not war».

Auch wir in der Kleinstadt wurden vom Groove dieses Jahrzehnts erfasst. Damit wir dem frühen Beizenschluss entgehen konnten, mieteten wir ein Stöckli bei einem Bauernhaus in der ländlichen Umgebung. Wichtigste Utensilien waren die Schuhschachtel mit 45-Touren-Schallplatten und ein Grammophon. Endlich konnten wir nächtelang durchtanzen. Am anderen Morgen diskutierten wir an den Tischen unter den Apfelbäumen über die Probleme der Welt. Die Beatles prägten nicht nur die ­Musik, sondern auch die Mode, insbesondere den männ­lichen Haarschnitt, der immer länger wurde. Es dürfte wenige Themen geben, über die sich Väter und Söhne zu dieser Zeit heftiger gestritten haben. Nicht verwunderlich, dass ein Meilenstein der Popgeschichte schlicht «Hair» heisst. Die langen Mäntel, wie wir sie im stilprägenden Film «Once upon a Time in the West» gesehen hatten, beschafften wir uns im Brockenhaus. Die Tendenz bei der Frauenmode verlief genau umgekehrt: Die Röcke wurden kürzer und kürzer. Niemand hat das damalige ­Lebensgefühl besser wiedergegeben als Polo Hofer mit seinem Song «D’Rosmarie und i»: Zwei junge Menschen reisen mit Gitarre und Tamburin per Anhalter nach Paris und nach Spanien – um sich nach der Rückkehr in die Schweiz zu trennen.

«Wichtigste Utensilien waren die Schuhschachtel mit

45-Touren-Schallplatten und ein Grammophon.

Endlich konnten wir nächtelang durchtanzen.»

Plädoyer für eine neue Gesellschaft

In das neue Lebensgefühl mischten sich nach und nach politische Elemente. Der Algerienkrieg entfachte eine bis heute anhaltende Auseinandersetzung um das Erbe der Kolonialisierung. Der mit schmutzigsten Mitteln geführte Krieg der USA in Vietnam führte zu weltweiten Protesten. In der Tschechoslowakei, hinter dem Eisernen Vorhang, fanden sanfte Reformationen statt. Der Philosoph Herbert Marcuse plädierte für eine neue Gesellschaft ohne Krieg, Ausbeutung, Armut, Unterdrückung und Verschwendung. Als 1967 in Berlin während einer Demonstration gegen den Schah von Persien ein Student von einem Polizisten erschossen wurde, protestierten die Studierenden an den Universitäten. Mit dem Slogan «Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren» lehnten sie sich gegen die starren Hierarchien und formalen Autoritäten auf. Den Höhepunkt erreicht ihre Revolte im Mai 1968 in Paris. Ein Generalstreik legte das Land während mehrerer Tage lahm. Auf den Pariser Mauern stand: «L’imagination au pouvoir». Wenige Monate später standen sowjetische Panzer in Prag und beendeten den «Prager Frühling». Noch nie habe sich eine Gesellschaft in so kurzer Zeit so grundlegend verändert, stellt der britische Historiker Eric Hobsbawm fest. Selbst in der Schweiz: 1959 stimmten zwei Drittel der Männer gegen die Einführung des Frauenstimmrechts, 1971 sagten zwei Drittel der Männer Ja.

Das Hochgefühl der Sechzigerjahre endete zu Beginn des nächsten Jahrzehnts abrupt. Die politische Szene, die lange unstrukturiert, spontan und oft chaotisch agierte, spaltete sich auf in Splittergruppen. Ihre extremste Ausprägung, die Rote-Armee-Fraktion (RAF), hinterliess in Deutschland eine Blutspur. Der Club of Rome veröffentlichte den Bericht «Grenzen des Wachstums». Erstmals wurde die Übernutzung der Erde thematisiert. Im Herbst 1973 beendete der «Erdölschock» das goldene Zeitalter. Auch für mich begann der Ernst des Lebens. Als ich nach einer langen Assistenz an der Uni eine Stelle suchte, erhielt ich dreissig Absagen und landete nur durch einen Zufall bei den SBB.

Mitgerissen vom Zeitgeist

Während die Klagen der Älteren über den Nachwuchs seit der Antike anhalten, ist die Etikettierung von Alters­gruppen wie Babyboomer und so weiter ein neues, wissenschaftlich kaum abgestütztes Phänomen. Die dahinterliegende Idee einer gewissen Homogenität dieser Alters­gruppen ist umstritten. Nicht zuletzt, weil seit dem goldenen Zeitalter eine beispiellose Individualisierung der Gesellschaft stattgefunden hat. Meine Generation wurde wohl durch ein ähnliches familiäres Umfeld und die gleichen kulturellen, politischen, technologischen und gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflusst. Nur hat dieses ­Umfeld die Menschen völlig unterschiedlich geprägt. Die einen haben sich vom Zeitgeist mitreissen lassen, die ­anderen haben sich dagegen aufgelehnt. Die einen trugen ihr Haupthaar lang, die anderen im Bürstenschnitt. Ihre Lebenswege sind so vielfältig wie jene der nachfolgenden Generationen. Jens Stoltenberg hat als langhaariger Jugendlicher gegen den Vietnamkrieg protestiert, nun ist er Generalsekretär der Nato. Das Erbe, das diese Generation hinterlassen hat, ist vielfältig: Die Jeanshose wurde zur weltweiten Uniform, aus dem Dorfladen tönt «Paint It Black» von den Rolling Stones, die überhandnehmende Duz-Kultur weicht Autoritäten weiter auf.

Heute sieht sich meine Generation mit einer Welt konfrontiert, in der sich die Risiken in einem Ausmass häufen, wie wir es noch nie erlebt haben. Mit Sorge denken wir an die Zukunft unserer Enkelkinder. Auch der Blick zurück weitet sich, man beginnt unmerklich, Bilanz zu ziehen. Das Magazin «Der Spiegel» hat es auf den Punkt gebracht: «Aus flammenden Hoffnungen wurden unaufgeregte Reformen und kulturelle Klimaverschiebungen.» Persönlich bin ich dankbar für all das Glück, das mir beschieden war. Nicht zuletzt das Glück, in einer trotz aller Wirren sorglosen und aufregenden Zeit jung gewesen zu sein.

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