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Der fabrizierte Konsens

Die Politisierung im Zusammenhang mit Klimawandel und Covid-19 erschüttert die Grundlagen der Wissenschaft. Es braucht mehr Offenheit gegenüber Abweichlern.

Der fabrizierte Konsens
Die Klimaseniorinnen aus der Schweiz im Gerichtssaal während der Urteilsverkündung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg, Frankreich, am 9. April 2024. Bild: Keystone/EPA/Ronald Wittek.

Die politisch motivierte Fabrikation eines wissenschaftlichen Konsenses korrumpiert den wissenschaftlichen Prozess und führt zu schlechten ­politischen Entscheidungen.

Im 21. Jahrhundert ist die Menschheit mit einer Vielzahl komplexer gesellschaftlicher Probleme konfrontiert, die durch grosse Unsicherheiten, systemische Risiken und Uneinigkeit über Werte gekennzeichnet sind. Der Klimawandel und die ­Covid-19-Pandemie sind herausragende Beispiele. Bei solchen Problemen gleicht die einschlägige Wissenschaft zunehmend einem Rechtsstreit, bei dem die Suche nach der Wahrheit der Politik und dem Werben für eine bevorzugte politische Lösung untergeordnet ist.

Wie beeinflusst die Politik den wissenschaftlichen Prozess bei gesellschaftlich relevanten Themen? Politische Vorein­genommenheit beeinflusst die Prioritäten der Forschungs­finanzierung, die wissenschaftlichen Fragen, die gestellt werden, die Art und Weise, wie die Ergebnisse interpretiert werden, was ­zitiert und was kanonisiert wird. Tatsachenbehauptungen werden in wissenschaftlichen Berichten und in den Medien mit Blick auf die nachgelagerte politische Verwertbarkeit gefiltert.

Wissenschaft an der politischen Leine

Wie beeinflusst die Politik das Verhalten von Wissenschaftern? Auf Wissenschafter wird Druck ausgeübt, um Konsenspositionen, moralische Ziele und die entsprechende Politik zu unterstützen. Dieser Druck kommt von Universitäten und Berufs­verbänden, von Wissenschaftern, die selbst Aktivisten sind, von Journalisten und von staatlichen Fördereinrichtungen im Hinblick auf die Prioritäten bei der Forschungsfinanzierung. Da die Bewertung durch die Kollegen so wichtig für den Erfolg in der Wissenschaft ist, kann man leicht Angst vor sozialen Sanktionen haben, wenn man Ideen äussert, die zwar nicht unbedingt sachlich oder wissenschaftlich falsch sind, aber weithin unpopulär sind.

Aktivistische Wissenschafter nutzen ihre privilegierte Stellung, um moralische und politische Agenden voranzutreiben. Dieser politische Aktivismus erstreckt sich auch auf die Berufsverbände, die Fachzeitschriften herausgeben und Konferenzen organisieren. Dieser Aktivismus hat einen Kontrolleffekt darauf, was veröffentlicht wird, wer auf Konferenzen gehört wird und wer berufliche Anerkennung erhält. Praktisch alle Fach­gesellschaften, deren Mitglieder in irgendeiner Weise mit der Klimaforschung zu tun haben, haben politische Erklärungen zum Klimawandel abgegeben, in denen sie Massnahmen zur ­Beseitigung der Emissionen fossiler Brennstoffe fordern.

«Aktivistische ­Wissenschafter nutzen ihre privilegierte Stellung,

um moralische und politische Agenden voranzutreiben.»

Am schlimmsten ist die Politisierung der Wissenschaft, wenn Politiker, Interessengruppen, Journalisten und aktivistische Wissenschafter versuchen, Wissenschafter einzuschüchtern oder zum Schweigen zu bringen, deren Forschung ihren moralischen und politischen Vorstellungen zuwiderläuft.

Eine entscheidende Strategie bei der Politisierung der Wissenschaft ist die Herstellung eines wissenschaftlichen Konsenses zu politisch wichtigen Themen wie dem Klimawandel und ­Covid-19. Der UN-Klimakonsens wird als Berufung auf eine Autorität benutzt, um wissenschaftliche Ergebnisse als Grundlage für dringende politische Entscheidungen darzustellen. In der Tat hat die UNO einen «Macht-durch-Konsens»-Ansatz gewählt, der Unsicherheit und Dissens als problematisch ansieht und versucht, diese in einen Konsens zu überführen. Die Macht-durch-Konsens-Strategie spiegelt eine bestimmte Vorstellung davon wider, wie die Politik mit wissenschaftlichen Unsicherheiten umgeht.

Förderung von Gruppendenken

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen einem «wissenschaftlichen Konsens» und einem «Konsens der Wissenschafter». Wenn es eine echte wissenschaftliche Gewissheit gibt, zum Beispiel dass die Erde die Sonne umkreist, brauchen wir nicht von einem Konsens zu sprechen. Im Gegensatz dazu stellt ein «Konsens der Wissenschafter» eine bewusste Äusserung eines kollektiven Urteils durch eine Gruppe von Wissenschaftern dar, oft auf offiziellen Wunsch einer Regierung.

Institutionalisierte Konsensbildung fördert das Gruppendenken und bestätigt den Konsens auf selbstverstärkende Weise. Der Zwischenstaatliche Ausschuss der Vereinten Nationen für Klimaänderungen (IPCC) hat in den letzten 40 Jahren daran gearbeitet, einen wissenschaftlichen Konsens über den vom Menschen verursachten Klimawandel zu erzielen. Der IPCC-Konsens ist also ein «fabrizierter Konsens», der aus einem absichtlichen Konsensbildungsprozess hervorgegangen ist. Der IPCC-Konsens wurde durch einen politischen Prozess gesellschaftlich kanonisiert, wobei der lange und komplexe wissenschaftliche Validierungsprozess, der klären soll, ob die Schlussfolgerungen tatsächlich wahr sind, umgangen wurde.

Die Kehrseite des fabrizierten Konsenses ist die «Leugnung». Die Darstellung des Klimawandels in Frage zu stellen, ist im 21. Jahrhundert zur ultimativen Form der Ketzerei geworden. Praktisch alle akademischen Klimawissenschafter gehören dem sogenannten 97-Prozent-Konsens an, der besagt, dass es einen menschlichen Einfluss auf die Erwärmung des Erdklimas gebe. Welche Wissenschafter werden geächtet und als Leugner abgestempelt? Unabhängige Denker, die den IPCC-Konsens nicht unterstützen, sind verdächtig. Jede Kritik am IPCC kann zur Ächtung führen. Wer sich nicht für Massnahmen zur CO2-Reduzierung einsetzt, wird verdächtigt. Selbst wenn man die Kernenergie der Wind- und Solarenergie vorzieht, wird man als Leugner bezeichnet. Der zuverlässigste Weg, als Leugner abgestempelt zu werden, besteht darin, sich in irgendeiner Weise mit sogenannten Feinden des Klimakonsenses und der von ­ihnen bevorzugten Politik zu verbünden – mit Erdölunternehmen, konservativen Denkfabriken oder sogar der «falschen» politischen Partei.

«Selbst wenn man die Kernenergie der Wind- und Solarenergie vorzieht, wird man als Leugner bezeichnet.»

Der falsche Konsens bei Covid-19

Covid-19 ist ein sehr interessantes Beispiel für einen künst­lichen Konsens. Der Konsens, dass Covid-19 einen völlig natürlichen Ursprung habe, wurde Anfang 2020 durch zwei Artikel in «Lancet» im Februar und in «Nature Medicine» im März ­hergestellt. Im «Lancet»-Artikel hiess es: «Wir stehen zusammen, um Verschwörungstheorien, die nahelegen, dass Covid-19 keinen natürlichen Ursprung hat, aufs Schärfste zu verurteilen.» Die Äusserungen in diesen Stellungnahmen schlossen die Untersuchung eines möglichen Ursprungs als Leck in einem ­Labor in Wuhan effektiv aus. In den Artikeln der Mainstreampresse hiess es wiederholt, dass ein Konsens der Experten ein Entweichen aus dem Labor für ausgeschlossen oder äusserst unwahrscheinlich halte.

Die enorme Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Wissensstand Anfang 2020 und der in den beiden Stellungnahmen geäusserten Zuversicht hätte jedem auf dem Gebiet der Viro­logie Tätigen bzw. jedem kritisch denkenden Menschen klar sein müssen. Es gab Wissenschafter aus angrenzenden Fachgebieten, die das auch so sahen. Der Konsens wurde erst im Mai 2021 durch die Veröffentlichung eines längeren Artikels im «Bulletin of Atomic Scientists» umgestossen, in dem ein Interessenkonflikt der Wissenschafter, die den «Lancet»-Brief verfasst hatten, festgestellt wurde, da sie ihre Verbindungen zum Labor in Wuhan verschwiegen. Dieser Artikel löste eine Kaskade der Abkehr von Wissenschaftern aus – der gefälschte ­Konsens war nicht mehr durchsetzbar.

Besorgniserregend an dieser Episode ist nicht so sehr, dass ein Konsens umgestossen wurde, sondern dass ein falscher Konsens über ein Jahr lang so leicht durchgesetzt werden konnte. Einige wenige Wissenschafter meldeten sich zu Wort, aber sie wurden aggressiv aus den sozialen Medien verbannt. Die überwiegende Mehrheit der Wissenschafter, die wusste, dass die Herkunft des Virus mit grosser Unsicherheit behaftet war, hat sich nicht zu Wort gemeldet. Es wurde immer deutlicher, dass jeder Virologe, der die erklärten Ansichten der Gemeinschaft in Frage stellte, Gefahr lief, als Ketzer abgestempelt zu werden, in den sozialen Medien gelöscht zu werden und dass sein nächster Zuschussantrag von dem Gremium von Viro­logenkollegen, das die staatliche Zuschussverteilungsagentur berät, abgelehnt werden würde. Die hässliche Politik hinter ­diesem falschen Konsens wird erst jetzt aufgedeckt.

Politische und moralische Voreingenommenheit in einem künstlich hergestellten Konsens kann zu weithin akzeptierten Behauptungen führen, die eher die blinden Flecken der wissenschaftlichen Gemeinschaft widerspiegeln, als dass sie gerechtfertigte wissenschaftliche Schlussfolgerungen darstellen. Ein künstlicher Konsens behindert den wissenschaftlichen Fortschritt, weil Fragen nicht gestellt und Untersuchungen nicht durchgeführt werden. Ausserdem beeinträchtigt die Durchsetzung eines Konsenses die Selbstkorrektur der Wissenschaft durch Skepsis, die eine Grundlage des wissenschaftlichen Prozesses ist.

Vertragsbruch zwischen Wissenschaft und Politikern

Wenn man politischen Mächten einen Konsens vorgaukelt, werden Unsicherheiten, Unklarheiten, Meinungsverschiedenheiten und Unwissenheit hinter einem wissenschaftlichen Konsens verborgen. Mehr Offenheit in Bezug auf wissenschaftliche Unsicherheiten und Unwissenheit sowie mehr Transparenz in Bezug auf Dissens und Meinungsverschiedenheiten sind erforderlich, um den politischen Entscheidungsträgern ein vollständigeres Bild der politikrelevanten Wissenschaft und ­ihrer Grenzen zu vermitteln.

Ein künstlich hergestellter Konsens entsteht durch eine zu starke Vereinfachung des Problems, die zu einer Einschränkung des politischen Lösungsraums und zu der irrigen Annahme führt, dass das Problem beherrschbar sei.

Ein künstlich hergestellter Konsens über ein komplexes, ­unheilvolles Problem wie den Klimawandel oder Covid-19 führt zu der Naivität, zu glauben, dass es sich um einfache Risiken handle, und zu der Hybris, zu meinen, wir könnten das Risiko kontrollieren. Auch jenseits der technischen Fragen ist ein grösserer Realismus in Bezug auf die Ungewissheiten und die Politik erforderlich, die dem Streben nach Kontrolle bei schwierigen gesellschaftlichen Problemen innewohnt.

Die Pandemie veranschaulicht, dass unsere Instrumente zur Bewältigung eines komplexen globalen Problems – Experten, präzise wissenschaftliche Massstäbe, Computermodelle, erzwungene Beschränkungen – bei Weitem nicht die gewünschte Qualität der Kontrolle erreicht haben. Die globale Energiewende und der weltweite Wandel zur Nachhaltigkeit sind eine weitaus grössere Herausforderung als die globale Covid-19-Pandemie. Das modernistische Paradigma der Beherrschung, Planung und Optimierung ist für die schlimmsten Pro­bleme des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht geeignet.

Infolge des übertriebenen Gefühls von Wissen und Kon­trolle im Zusammenhang mit der Klima- und Covid-19-Politik werden einige höchst unsichere Fragen, die für die politische Debatte offenbleiben sollten, bei der Politikgestaltung ignoriert. Die verfrühte Ausblendung wissenschaftlicher Unsicherheiten und die Nichtberücksichtigung von Mehrdeutigkeiten im Zusammenhang mit unheilvollen Problemen wie Klima­wandel und Pandemien führen zu einer unsichtbaren Form der Unterdrückung, die eine alternative Zukunft ausschliesst.

Was den Klimawandel betrifft, so ist das, was hier geschieht, mehr als politisch motivierte Konsensdurchsetzung und Cancel Culture. Der Klimawandel ist zu einer säkularen Religion geworden, die von Dogmen, Ketzern und moralischen Stammesgemeinschaften durchsetzt ist. Die säkulare Religion des Klimawandels wirft Bedenken auf, die weitaus grundlegender sind als die Risiken einer schlechten Politik. In Gefahr sind die grundlegenden Tugenden der wissenschaftlichen Revolution und die Freiheit, Autoritäten in Frage zu stellen.

Judith Curry, zvg.

Der Weg, der vor uns liegt, erfordert eine Abkehr vom ­Ansatz der Konsens- und Cancel-Kultur, der den Dialog über komplexe gesellschaftliche Themen wie den Klimawandel ­einschränkt. Wir müssen Raum für Dissens und Meinungs­verschiedenheiten schaffen. Durch die Anerkennung wissenschaftlicher Unsicherheiten im Zusammenhang mit einem ­besseren Risikomanagement und einem besseren Entscheidungsfindungsrahmen in Kombination mit technischem Optimismus gibt es einen gangbaren Weg, damit die Menschheit im einundzwanzigsten Jahrhundert und darüber hinaus gedeihen kann.

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Die Klimaseniorinnen aus der Schweiz im Gerichtssaal während der Urteilsverkündung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg, Frankreich, am 9. April 2024. Bild: Keystone/EPA/Ronald Wittek.
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Die Politisierung im Zusammenhang mit Klimawandel und Covid-19 erschüttert die Grundlagen der Wissenschaft. Es braucht mehr Offenheit gegenüber Abweichlern.

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