Endlich Andersdenker
Jeder ist frei zu denken, was er will. Aber darf er auch sagen, was er denkt? Und wenn er es nicht mehr sagen darf, kann er dann noch frei denken? Plädoyer für mehr kritischen Geist in Zeiten des Konformismus.
Die Diskussion über Freiheit und soziale Ordnung wird in den immergleichen mentalen Bahnen geführt. Wer sie verlässt, gelangt zu unbequemen Einsichten, die heute die vielen Empörungsbereiten sogleich in Rage treiben, obwohl sie eigentlich ziemlich trivial sind. Zum Beispiel: eine angeblich freie Gesellschaft kann totalitäre Züge aufweisen. Eine Demokratie kann freiheitsfeindlich sein. Die demokratische Verfasstheit des Staates ist keine Garantie für die persönlichen Freiheiten – dazu braucht es mehr, mehr auch als einen ergänzenden Rechtsstaat. Es braucht kritischen Geist, mündige Bürger, echte Öffentlichkeit, das heisst: eine echte öffentliche Debattenkultur, die abweichende Meinungen nicht ächtet, sondern achtet. |
Es ist frappant: die demokratische Idee der politischen Partizipation entfaltet in modernen Demokratien eine eigenartige Suggestivkraft, die den Konformismus fördert statt hemmt. Die Demokratie bietet dem Bürger die Perspektive einer «Beteiligung» an der Macht an – woraus viele folgern, dass a) die herrschende staatliche Ordnung, wie sie nun mal ist, partout hinzunehmen sei und dass b) durch die «Beteiligung» das Phänomen der Macht bzw. der Herrschaft (der einen über die anderen) wie von Zauberhand verschwinde. Beides ist falsch, und beides führt zu geistiger Anpassung, zu dem, was Alexis de Tocqueville den demokratischen «Höflingsgeist» genannt hat. So tritt an die Stelle des kritischen einzelnen der teilnehmende, konforme Untertan. Dabei wäre intellektuelle Dissidenz der Kerngehalt der Demokratie.
Auch die Gesellschaft kann ein Tyrann sein
Die spezifisch moderne Gefahr für die Freiheit liegt in der Tyrannei des Kollektivs im Namen der herrschenden öffentlichen Meinung. Dass gerade die Massendemokratie unaufhaltsam zur Tyrannei der anderen treibt, haben Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill schon im 19. Jahrhundert klar erkannt und beschrieben – nur sind ihre scharfen, unbequemen Analysen in Vergessenheit geraten. Wenn das Volk herrscht, kümmert sich jeder um die Angelegenheiten eines jeden, stets unter Berufung auf die mutmassliche Meinung der Mehrheit. Man könnte auch sagen: die Gesellschaft selbst ist der despotischste Tyrann über die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt.
Die Tyrannei der Kollektivs etabliert allgemein geteilte Meinungen und Gefühle und ahndet Dissidenz mit sozialem Ausschluss und intellektueller Ächtung. Die Passage über das «Silencing», das Zum-Schweigen-Bringen der abweichenden Meinung, gehört zu den grossartigsten und aktuellsten Stellen in Mills Essay «Über die Freiheit» (1859). Sein Standpunkt ist von bewundernswerter Klarheit: auch die Immoralität einer Meinung ist kein Grund dafür, ihr Bekenntnis und ihre Diskussion zu beschneiden. Auch wenn nur ein einziger eine abweichende Meinung hat, gibt das der überwältigenden Mehrheit nicht das Recht, ihn zum Schweigen zu bringen. In einer Welt der durch die Tyrannei der öffentlichen Meinung befestigten, massenmedial animierten Mittelmässigkeit ist das Wagnis der Abweichung die eigentliche heroische Tat. Ein Beispiel des Nonkonformismus abzugeben, ist deshalb für Mill der grösste Dienst, den ein einzelner der Gesellschaft erweisen kann.
Die Tyrannei der Mehrheit führt dazu, dass einige stets zu wissen meinen, was das Beste für die anderen sei. Sie wollen die anderen auf dem Weg des Gesetzes, also demokratisch legitimiert, zu einem bestimmten Verhalten zwingen, nur weil es besser für sie wäre – zum Beispiel nicht zu rauchen oder Diät zu halten. Der Paternalismus erscheint denen gerechtfertigt, die glauben, dass man die Menschen vor der eigenen Willensschwäche schützen müsse. Dieser Gedanke, dass Selbstverantwortung für die Gesellschaft und den einzelnen selbst unzuträglich sei und durch eine beschränkte Wahlfreiheit für Inkompetente ersetzt werden müsse, hat neuerdings einen netten Namen bekommen: «Nudge». Das ist der Titel eines Buches von Richard Thaler und Cass Sunstein – zu Deutsch etwa: der Schubser in die richtige Richtung des aufgeklärten Verhaltens. Im Klartext geht es um eine Art Sozialvormundschaft im Namen der Mündigkeit.
Wenn es um Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge geht, hilft es nach Ansicht der neuen Paternalisten den Menschen nicht, wenn man ihnen eine Fülle von Wahlmöglichkeiten anbietet. Je komplexer die Lage, desto wichtiger das Sozialdesign, das die Bürger und Kunden in die richtige Richtung schubst. Andere tun für mich, was ich selbst tun würde, wenn ich bei klarem Verstand wäre.
Die modernen Paternalisten gehen also davon aus, dass einige den legitimen Auftrag haben, das Verhalten anderer Leute so zu beeinflussen, dass diese länger, gesünder und besser leben. Konkret sieht das so aus, dass ein allgemeiner Konsens mit dem herrschenden Verhalten unterstellt wird und jedes abweichende Verhalten ausdrücklich deklariert werden muss: ich will nicht teilnehmen am vernünftigen Leben der Guten. Das Glück wird als universalisierbarer Wert verstanden, und deshalb kann sich die positive Wohlfahrtspolitik als Entwicklungshilfe eines sich selbst bestimmenden einzelnen begreifen. Das ist eine schöne Paradoxie: der Staat betreibt Mitbestimmung bei der Selbstbestimmung des einzelnen. So wird Politik zum Glückszwangsangebot.
Faulheit und Feigheit dominieren
In der Heldenzeit der Aufklärung war das moderne Problem der sozialen Tyrannei durch den Druck der öffentlichen Meinung noch nicht so deutlich erkennbar. Das Recht auf Meinungsfreiheit und Redefreiheit stellt ja gerade die abweichende Meinung, den Dissens ins Zentrum der Freiheitsidee. Entscheidend ist dabei, dass ich mit meiner abweichenden Meinung zwar zu einer Minderheit gehöre – aber eben nur auf Zeit. Meine abweichende Meinung macht mich noch nicht zum Angehörigen einer kulturellen oder sozialen Minorität. Wer eine Minderheitenmeinung vertritt, gehört damit noch nicht permanent zur Minderheit.
Erstaunlich – und symptomatisch – ist in diesem Zusammenhang eine begriffliche Neuprägung von Jürgen Habermas. Er hat im Blick auf den Medienkonsum von einem «Autopaternalismus» gesprochen. Wer sich eine eigene Meinung bildet, entscheidet sich nicht auf einem Markt der Informationen nach eigenen Vorlieben, sondern er setzt sich «einem Lernprozess mit unbestimmtem Ausgang» aus. Und hier habe der Staat die Aufgabe, die geistige Energieversorgung der Gesellschaft sicherzustellen. Einflussreiche Leute, wie eben beispielsweise Jürgen Habermas, können dabei starke Signale für angemessenes Verhalten setzen. In der bürgerlichen Diskussion löse sich Herrschaft selbst auf, und zwar in einem «leichtfüssigen Zwang, der nur mehr in der zwingenden Einsicht einer öffentlichen Meinung sich durchsetzt». Wer von diesem Zwang gezwungen wird, seine abweichende Meinung preiszugeben, werde ihn im nachhinein als Befreiung begrüssen. Wobei zu ergänzen wäre: und wer sich dennoch lernunwillig zeigt, kommt an den Medienpranger. So bildet sich in der Tat die öffentliche Meinung.
In ihr dominieren «Faulheit» und «Feigheit» – für Immanuel Kant das zentrale Problem jeder Aufklärung. Unmündigkeit ist keine Frage mangelnder Intelligenz, sondern mangelnden Mutes. Es geht um den Mut zur Mündigkeit, den das schöne deutsche Wort «beherzt» meint. Dabei geht es Kant nicht primär um den Mut dessen, der gegen Zensur und Verfolgung an der eigenen Überzeugung festhält, sondern um den Mut des Selbstdenkens überhaupt. Aufklärung kämpft gegen die Versuchung, aus Bequemlichkeit andere für sich denken und entscheiden zu lassen.
Wenn die Unmündigkeit aber erst einmal zur zweiten Natur geworden ist und die Menschen sie sogar liebgewonnen haben, wird es für die Aufklärung schwierig, überhaupt noch einen Ansatzpunkt für freies Denken zu finden. Die Leute empfinden den Gängelwagen des Paternalismus und die Fussschellen der Unmündigkeit nicht mehr als bedrängende Unfreiheit, sondern als Sicherheit und Bequemlichkeit. Oder zugespitzt formuliert: wenn die öffentliche Meinung in einer Massendemokratie gesprochen hat, bringt kaum mehr jemand den Mut zum Widerspruch auf. Ihr Druck ist so gross, dass gesetzlicher Zwang vielfach überflüssig wird. Und so breitet sich ein ewiger Friede des Intellekts aus.
Auf den entscheidenden Grund für diese Verdunkelung der aufgeklärten Welt stossen wir in Alexis de Tocquevilles Darstellung der Versklavung des demokratischen Lebens durch die Tyrannei der öffentlichen Meinung. Er beschreibt in seinen beiden Bänden «Über die Demokratie in Amerika» (1835/1840), dass es in modernen Massendemokratien nicht um Argumente und Überzeugung gehe, sondern dass die öffentliche Meinung einen prägenden geistigen Konformitätsdruck ausübe. «Die Mehrheit», heisst es bei Tocqueville, «zieht einen drohenden Kreis um das Denken. Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei; aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt!» Massendemokratische Gesellschaften werden durch die Furcht vor der Meinung der anderen zusammengehalten. Je weniger sich die Meinungen der einzelnen in der massendemokratischen Öffentlichkeit zur Geltung bringen können, desto stärker wird der Druck der öffentlichen Meinung auf den einzelnen und sein Meinen. Man fürchtet nicht, eine falsche Meinung zu haben, sondern mit ihr allein zu stehen. Die Isolationsangst regiert die moderne Welt.
Das grosse Totschweigen
Die moderne Gesellschaft produziert, indem sie kommuniziert, immer auch Schweigen. Sie schliesst aus, was nicht anschlussfähig ist. Das Grundkonzept der aktuellen Schweigespirale, die Fortführung und Vervollkommnung von Mills «Silencing», lässt sich einfach darstellen. Wer den Zorn der anderen fürchtet, schliesst sich leicht der Meinung der angeblichen Mehrheit an, auch wenn er es eigentlich besser weiss. Er bringt sich selbst zum Schweigen, um seinen guten Ruf nicht aufs Spiel zu setzen. Man glaubt, was andere glauben, weil sie es glauben. Und wer zu einem Thema bisher eine andere Meinung hatte, kann sie ohne Gesichtsverlust ändern, wenn und solange er anonym bleibt, also schweigt. Man beobachtet deshalb ständig, wie die anderen die Welt beobachten, und dadurch wird in jedem von uns ein quasistatistischer Sinn trainiert, mit dem man Beobachtungen über die Meinung der anderen anstellen kann: was man so sagt.
Doch was man so sagt, stellt in Demokratien – und das ist entscheidend – zumeist die Meinung gut artikulierter Minderheiten dar. Niemand kann wissen, ob eine Meinungsäusserung der Ausdruck eines unabhängigen Urteils, einer Informationskaskade oder der Selbstzensur ist. Je besser die Massenmedien und die kämpferischen Minderheiten die öffentliche Meinung organisieren, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich die meisten Menschen in ihrem Urteil über die Meinung der meisten Menschen irren. Dieser Irrtum potenziert sich dann in der öffentlichen Meinung über die öffentliche Meinung. Und deshalb bestätigt sich immer wieder das Gesetz der «Pluralistic Ignorance», das Elisabeth Noelle-Neumann so formuliert hat: «Die Bevölkerung täuscht sich über die Bevölkerung.»
Öffentliche Meinung ist also nicht das, was die Leute meinen, sondern das, was die Leute meinen, «was die Leute meinen». Und die Massenmedien informieren uns vor allem darüber, dass die meisten der gleichen Meinung sind.
Der Staat profiliert sich als Verführer, das heisst als Designer der Gefühle, Hauptkunde der Marktforschung und Warenanbieter auf dem Markt der öffentlichen Meinung. Das erklärt die Schlüsselrolle der Demoskopie in der modernen Demokratie. Die Demoskopie hilft den Leuten, ihre Wahl zu treffen, denn dazu müssen die Leute wissen, wie die anderen wählen; und sie hilft den Politikern, sich im Wahlkampf zu profilieren, denn dazu müssen die Politiker wissen, was die Leute hören möchten.
Die Bedeutsamkeit der Demoskopie für die Demokratie erklärt sich zum einen sozialpsychologisch aus der Befriedigung, befragt zu werden, zum andern aus der Selbstbezüglichkeit der Meinungsumfragen. Das reine Dass der Befragung ist wichtiger als das Was. Meinungsumfragen produzieren Bedeutsamkeit für Themen, und der Befragte schliesst vom Faktum der Befragung auf die Bedeutsamkeit des Themas. So werden die Wähler schliesslich zu Zuschauern ihres eigenen vorausgesagten Verhaltens.
In der Mediendemokratie werden die Menschen durch eine Sprache versklavt, die als die unwiderrufliche Sprache der Mehrheit auftritt, in Wahrheit aber von gut organisierten Minderheiten lanciert wird. Die öffentliche Meinung verhilft also immer häufiger nicht der Mehrheit, sondern der Orthodoxie zum Ausdruck. Diese Orthodoxie ist nichts anderes als das, was heute unter dem Begriff der politischen Korrektheit kursiert.
Abweichende Meinung kritisieren statt verurteilen
Der politischen Korrektheit geht es nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch zu erweisen, sondern den abweichend Meinenden als unmoralisch zu verurteilen. Die beste Definition der politischen Korrektheit findet sich avant la lettre in Thomas Manns «Betrachtungen eines Unpolitischen: «die Auferstehung der Tugend in politischer Gestalt, das Wieder-möglich-Werden eines Moralbonzentums sentimental-terroristisch-republikanischer Prägung, mit einem Worte: die Renaissance des Jakobiners».
Den einzigen Begriff von Freiheit, den die politische Korrektheit akzeptieren kann, ist der Rousseausche. Nur wer moralisch gut ist, gilt auch als frei. Der politische Gegner ist dabei stets moralisch korrupt; deshalb muss man ihn mit Gewalt zu seinem wahren Willen befreien. Und wenn die Mehrheit der Bevölkerung korrupt ist, hat die tugendhafte Minorität das Recht zu einem «Despotismus der Freiheit». Man verwehrt dem einzelnen sein Recht auf Diskriminierung, zum Beispiel auf den freien Gebrauch des Eigentums, masst sich aber ganz selbstverständlich das Recht an, Gruppen zu diskriminieren, um die Diskriminierung anderer Gruppen zu bekämpfen.
Es stellt sich die Frage, warum die politische Korrektheit sich so nahtlos in eine moderne, westliche Kultur einfügt, die doch stolz auf ihren Individualismus ist. Doch die Antwort liegt nach dem bisher Gesagten auf der Hand. Die Rückseite des Individualismus ist der Paternalismus. Seine ungewöhnliche Aggressivität hat John Stuart Mill auf den grossartigen, analog zu «Crusade» gebildeten Begriff des «Civilizade» gebracht – man kritisiert abweichende Meinungen nicht mehr, sondern hasst sie einfach.
Politische Korrektheit ist in erster Linie Sprachdiktatur, die Versklavung der Menschen durch Sprachherrschaft, wobei gilt: die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Eine Gesellschaft, die sich weder an Religion noch an bürgerlicher Tradition und gesundem Menschenverstand orientieren kann, wird zum willenlosen Opfer eines Tugendterrors, der in Universitäten, Redaktionen und Antidiskriminierungsämtern ausgebrütet wird. Man darf ihn übrigens nicht offiziell als politische Korrektheit ansprechen – das wäre politisch unkorrekt. Alan Charles Kors und Harvey A. Silverglate haben in ihrem eindrucksvollen, beklemmenden Report «The Shadow University» die heutige Universität als den grössten Feind der freien Gesellschaft bezeichnet, weil sie die Studenten nicht mehr als Individuen, sondern als Verkörperungen von Gruppenidentitäten behandelt und sie entsprechend in Gruppenrechten unterrichtet. Die neuen Ingenieure der Seele arbeiten mit Sprachcodes, Gruppenidentitätszuschreibungen und Trainingscamps für «Sensitivity» und «Awareness». Wer das Wort «Individuum» benutzt, weckt den Verdacht, gegen den heiligen Geist der Gruppe zu sündigen.
In dieser «Schattenuniversität» der politischen Korrektheit ist die offene Diskussion freier Individuen längst durch Zensur, Einschüchterung und Indoktrination ersetzt worden. In der Vergangenheit diskriminierte Gruppen sollen durch positive Gegendiskriminierung Wiedergutmachung erfahren. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht. Das ist der Sieg von Herbert Marcuse über John Stuart Mill.
Da es auf Dauer zu anstrengend ist, anders zu denken, als man redet, denken die meisten auch schon politisch korrekt. Heute dürfen die Bürger sagen und schreiben, was sie wollen, weil sie ohnehin dasselbe denken. Angesichts dessen muss man bezweifeln, ob das Recht auf Redefreiheit ein ausreichendes Fundament für die Freiheit darstellt. Wir haben die Pressefreiheit als Ersatz für Gedankenfreiheit.
Der amerikanische Champion der politischen Korrektheit, Stanley Fish, hat deshalb ganz selbstbewusst dekretiert, freie Rede gebe es genauso wenig wie selbständiges Denken. Wenn wir diese Provokation als Problembestimmung ernst nehmen, gelangen wir zu einem wichtigen Ergebnis. Dass man die Freiheit hat, zu sagen, was man denkt, besagt nicht viel, wenn man nicht mehr zu denken wagt, was man nicht sagen darf. Dass die Gedanken frei sind, ist keine hinreichende Bedingung für freie Gedanken.
Hannah Arendt hat diese Problematik reiner Gedankenfreiheit klar erkannt. Keine menschliche Fähigkeit ist verletzlicher als das Denken. Und unter Bedingungen der sozialen Tyrannei ist es immer noch leichter, frei zu handeln, als frei zu denken. Der Schutz der Freiheitsrechte kann nicht selbst dafür sorgen, dass es das, was geschützt wird, überhaupt gibt. Was nützt der Schutz der Meinungsfreiheit, wenn die Leute nicht diskutieren wollen und nicht urteilen können?
Nichts tut heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, mehr not als eine Kultur der freien Rede, die zum Dissens ermutigt. Das müsste zumindest denjenigen einleuchten, die ständig von «Innovation» reden und neuerdings auf die «Weisheit der vielen» setzen. Denn Innovation ist eine Gestalt des Dissenses. Und auch die Weisheit der vielen setzt die Freiheit der einzelnen voraus; sie ist das Gegenteil der öffentlichen Meinung. Es geht hier um Unabhängigkeit als die Kraft, in der Gruppe Freiheit zu bewahren. Ich stehe zu meinen Überzeugungen – im vollen Bewusstsein der Alternativen.
Die Aufklärung tut gut daran, den Geist der Konfrontation neu zu entdecken. Sie tut sich allerdings von Haus aus heute schwer damit. Freiheit ist für sie ja das selbstverständliche Recht, anders zu sein, ohne dafür bestraft und an den Pranger gestellt zu werden. Aufgeklärt ist ein Mensch, der nicht dem Impuls nachgibt, denjenigen, der eine andere Meinung hat, zu massregeln oder zu bestrafen. Mit einem Wort: Feindschaft fällt dem Aufgeklärten schwer. Aber in der Konfrontation mit der politischen Korrektheit muss er erkennen, dass er in seiner Existenz in Frage gestellt wird. Der Preis des Schweigens ist längst viel zu hoch.
Die aufgeklärten Dissidenten haben die Feinde der Freiheit oft in der falschen Richtung gesucht. Nicht nur der Staat bedroht die Freiheit des einzelnen, sondern vor allem die organisierten Interessen, die Gruppen, die die Gesellschaft im Griff haben. Gedanken- und Meinungsfreiheit setzen heute den Mut voraus, diesen Gruppen und den Medien zu trotzen. Die Frage ist: wie vielen ist die Freiheit genug wert, um dieses Wagnis einzugehen?