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Ehrlichkeit ist ein Geschenk
Illustration von Illustrateuse (Christina Baeriswyl), illustrateuse.ch.

Ehrlichkeit ist ein Geschenk

Ein unverstellter Blick auf die Realität ist oft unangenehm. Aber lohnenswert.

Wir lügen jeden Tag zweimal. Oder zweihundertmal, je nach Studie. Kommunikationsforscher unterscheiden zwischen Notlüge, Zwecklüge, sozialer und dissozialer Lüge, Ausrede, Schwindel und weiteren bewussten Äusserungen von Unwahrheit. Doch wichtig ist nicht nur, weshalb und wie wir wissentlich die Unwahrheit sagen, sondern vor allem: wen wir belügen.

Viele Menschen glauben, eines der zehn biblischen Gebote laute: «Du sollst nicht lügen.» Doch korrekt lautet das achte ­Gebot: «Du sollst kein falsches Zeugnis reden gegen deinen Nächsten.» Ein entscheidender Unterschied, zumal uns die Conditio humana verunmöglicht, jederzeit die Wahrheit zu sprechen. Wohlweislich meisselt Gott kein allgemeines «Lügeverbot» in Stein; er untersagt nur konkret, über Mitmenschen die Unwahrheit zu sagen.

Auch ausserhalb des rechtlichen Kontexts ist offensichtlich, dass es dem sozialen Gefüge schadet, wenn im Negativen wie im Positiven falsch über andere geredet wird. Diffamierung schadet, aber auch das Emporheben falscher Heilsbringer ist gefährlich; oder aber, wenn es ganzen Gruppen gelingt, sich ­gegen Kritik zu immunisieren. Dann kann es zu folgenschweren Verzerrungen der wahrgenommenen Realität kommen.

Es gibt kein Recht auf Wahrheit. Ehrlichkeit ist ein Geschenk, das man anderen machen kann, aber nicht muss. Auf wundersame Weise mehrt sich dieses Geschenk, je öfter man es vergibt. Ein Beispiel: Als mich meine Situation im Job überforderte, hätte ich dies verschweigen können und wäre in einen Strudel der Unwahrheit geraten, der in die Modekrankheit «Burn-out» münden kann. Stattdessen habe ich mir mein Problem eingestanden und das Gespräch mit meinem damaligen Vorgesetzten gesucht. Das resultierte nicht in der erhofften Verbesserung in meinem Job, stattdessen erhielt ich die Kündigung. Ich setzte meine Karriere andernorts fort, wo ich die grösste Chance meines Lebens erhielt und zum Unternehmer wurde. Die Ehrlichkeit gegenüber mir selbst ermöglichte mir die Ehrlichkeit gegenüber meinem Chef, der seinerseits zu Ehrlichkeit mir gegenüber fand. Zugegeben, das wird nicht immer so glücklich verlaufen, doch wer seine Herausforderungen und Bedürfnisse kommuniziert, erspart sich damit die Erfahrung, anderen etwas vormachen zu müssen, und erfährt auch eher Ehrlichkeit des Gegenübers. Das gilt nicht nur im Berufsleben, sondern auch für Liebesbeziehungen, in der Familie und im Freundeskreis. Wie eine Lüge die nächste schon in sich trägt, so zieht auch Ehrlichkeit Gleiches nach sich. Ob wir ein Kartenhaus aus Lügen basteln oder unser Leben auf das Fundament der Wahrheit stellen, beeinflusst unser Leben massgeblich.

Insel der Wahrhaftigkeit

Ohnehin ist ein grosszügiger Umgang mit der Ehrlichkeit für ein funktionierendes Miteinander sehr förderlich. Wenn wir uns der Wahrheit verpflichten, nähern wir uns der Realität an, ­finden uns besser zurecht in unserer Umgebung, erlangen Vertrauen und Solidarität. Ehrlichkeit ist eine unentbehrliche Stütze der Zivilisation. Dass unsere Zeit dermassen aus den ­Fugen geriet, ist zuallererst Folge mangelnder Aufrichtigkeit.

Es fällt leicht, diesen Mangel den Führungsfiguren anzulasten. Beweise für die Lügen führender Politiker und solcher, die es werden wollen, sind Legion, genauso wie die Falschaussagen der Konzernchefs, von religiösen Lehrern, von Royals, Stars und Sternchen. Doch es gibt einen einzigen Menschen, mit dem wir unbedingt immer ehrlich sein sollten, weil wir sonst die Kompetenz verlieren, die Realität zu erkennen: wir selbst. Sind wir nicht ehrlich zu uns selbst, liefern wir uns den Manipulationsversuchen von aussen schutzlos aus.

Die konsequente Ehrlichkeit mit sich selbst führt jedoch oft zu unangenehmen Situationen und grossen Herausforderungen. So kann es passieren, dass man sich in einem Meer der ­Unehrlichkeit auf einer winzigen Insel der Wahrhaftigkeit wiederfindet und die Brandung der Mehrheitsmeinung bedrohlich gegen die Grundfesten der eigenen Existenz schlägt. Doch ein unverstellter Blick auf die Realität ist Grundvoraussetzung für ein gelungenes Leben und eine menschenwürdige Gesellschaft.

Sie sehen also, Ehrlichkeit lohnt sich. Ungelogen!

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