Freihandel trotz aller Rivalitäten
Nach langwierigen Verhandlungen ist in Ostasien die weltgrösste Freihandelszone entstanden. Der Rest der Welt kann von der Region lernen.
Was zunächst beeindruckt, sind das ausgeprägte Selbstbewusstsein und die stolze Gewissheit, etwas Bedeutendes erreicht zu haben: «Wir, Asean, bringen sie alle zusammen, in einer grossen Region!» Was eine der Tophandelsdiplomatinnen so auf den Punkt bringt, ist das Ergebnis von 31 Verhandlungsrunden in acht Jahren und einer pandemiebedingt virtuellen Unterzeichnungszeremonie im November 2020. Mit der RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) ist ein sogenanntes megaregionales Freihandelsabkommen Realität geworden. Die meisten Länder implementierten es 2022, die Philippinen und Indonesien letztes Jahr, es ist also jetzt in Kraft für ganz Ostasien (ausser für Myanmar, aus politischen Gründen). Es umfasst die zehn Mitglieder der Vereinigung südostasiatischer Länder (Asean) sowie Australien und Neuseeland, die Volksrepublik China, Japan und Südkorea. Obwohl Indien beim Abschluss nicht mehr dabei war, ist das Gewicht dieses Handelsblocks gewaltig: Die RCEP umfasst eine Bevölkerung von 2,4 Milliarden Menschen (30,3 Prozent der Weltbevölkerung), ein regionales Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 25 873 Milliarden US-Dollar (30,6 Prozent des globalen BIP), einen regionalen Handel im Wert von 10 173 Milliarden Dollar (29,1 Prozent des Welthandels) und rund 31 Prozent der weltweiten Direktinvestitionen. Der Handel innerhalb der RCEP macht 44,1 Prozent des Aussenhandels der Mitgliedstaaten aus, für die Asean-Länder deckt das Abkommen sogar 50 bis 60 Prozent der jeweiligen Exporte und Importe ab.
Als ich vor 20 Jahren als noch recht junger Postdoc nach Südostasien kam, um Forschung zur regionalen Integration zu betreiben, war das noch nicht absehbar. Die Asean war zwar recht erfolgreich im Aufbau eines Freihandelsnetzes mit den wichtigsten Partnerländern in der Region Ostasien, aber die Abkommen waren strikt bilateral, haben also keinen einheitlichen Markt geschaffen. Die Rede war von der asiatischen Nudelschüssel (das Pendant zur Spaghetti Bowl im Englischen), einer Vielzahl variierender, sich kreuzender Abkommen mit immer leicht unterschiedlichen Regeln und Bestimmungen. Insbesondere im Norden der Region, wo die Rivalität zwischen China und Japan immer mehr zunahm und wo historische Themen und Territorialdispute immer wieder Anlass zu Spannungen gaben, war kein Handelsabkommen in Sicht.
Es waren aber gerade diese Rivalitäten im Norden, die den Handlungsspielraum für Asean schufen. 2012 lancierte Indonesien als Asean-Vorsitz die erfolgreiche Initiative und brachte alle bisherigen Partnerländer inklusive Indien an den Verhandlungstisch. Damit war der gordische Knoten zwar noch nicht gelöst, aber die Energien waren freigesetzt und gebündelt auf ein Ziel gerichtet. Die «langen acht Jahre», so nennen Beteiligte die Zeit der Verhandlungen, wurden immer wieder überschattet von Konflikten zwischen Verhandlungspartnern, zum Beispiel dem Grenzkonflikt zwischen China und Indien im Himalaya oder dem Minihandelskrieg Chinas gegen Australien. Es ist erstaunlich und beeindruckend, wie die beteiligten Staaten es geschafft haben, dass diese Spannungen den Verhandlungsprozess nicht zu beeinträchtigen vermochten. Dass die wirtschaftliche Integration von politischen Rivalitäten abgeschirmt werden konnte, ist sicher einer der zentralen Erfolgsfaktoren der regionalen Integration Ostasiens.
Ostasien verbessert seine Position
Und es war eben die Asean, welche die wirtschaftlichen Giganten an den Tisch brachte und sie alle, bis zu Indiens Abschied, auch bei Tisch hielt. Dass mit der RCEP Japan und Südkorea und Japan und China zum ersten Mal in Freihandelsbeziehungen zueinander stehen und dies Teil der die ganze Region Ostasien umfassenden Freihandelszone mit einem einheitlichen Regelwerk ist, ist eine Errungenschaft von historischer Bedeutung, für Ostasien wie auch für die Weltwirtschaft. Während der Rest der Welt kaum noch Projekte und Visionen hat und sich auf Deglobalisierung, Derisking und weitergehende Disruptionen einstellt, hat sich Ostasien in eine gute Ausgangsstellung für die nächste Globalisierungsrunde gebracht.
Konfrontiert man Beteiligte mit der vor allem in den USA geläufigen Annahme, die RCEP sei «China-driven», stösst man auf einhellige und bestimmte Ablehnung. Die Verhandlungen seien durchgängig unter indonesischem Vorsitz geführt, die zentrale Rolle der Asean sei von allen Beteiligten respektiert worden und das Ergebnis trage die «Handschrift» der Staatenvereinigung. Ein chinesisches Angebot, während der Verhandlungen ein RCEP-Sekretariat zu finanzieren, wurde dankend abgelehnt, die politische Unabhängigkeit war wichtiger. Stattdessen übernahm das Asean-Sekretariat in Jakarta wichtige Funktionen über diese acht Jahre. Die RCEP sei die Umwandlung des Asean-zentrierten Netzes von Freihandelsabkommen in ein umfassendes regionales Abkommen unter Beibehaltung der Asean-Prinzipien. Deshalb sei dieses im Ergebnis inklusiv, mit Sonderregeln und Unterstützungsmassnahmen für die weniger entwickelten Länder wie Laos und Kambodscha. China wie Japan hätten vieles nicht bekommen, was sie auf der Verhandlungswunschliste gehabt hätten, so sei das eben in konsensbasierten Verhandlungen.
«Ein chinesisches Angebot, während der Verhandlungen ein Sekretariat zu finanzieren, wurde dankend abgelehnt, die politische Unabhängigkeit war wichtiger.»
Interessanterweise sind 7 der 15 RCEP-Länder auch an der konkurrierenden CPTPP (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership) beteiligt – neben Japan, Australien und Neuseeland auch vier Asean-Staaten, nämlich Singapur, Brunei, Malaysia und Vietnam. Singapur und Brunei gehörten Anfang der 2000er-Jahre zu den global orientierten Begründern dieser transpazifischen Initiative, vor allem aus Frustration über die weitgehend ineffektive Asia-Pacific Economic Cooperation (Apec) heraus. Vietnam und Malaysia kamen 2010 zusammen mit den USA an Bord, und von da an war die Initiative eindeutig «US-driven». Für die anderen Asean-Länder war dies zunächst ein Schock, zumindest «für drei bis sechs Monate», wie sich ein indonesischer Topdiplomat an seine Reaktion erinnert. «Was passiert? Rennt ihr von euren Asean-Verpflichtungen weg?» Aber die Aufregung legte sich schnell. Faktisch war schon länger Praxis, dass einzelne Asean-Mitglieder allein vorangingen, zum Beispiel Vietnam in den Verhandlungen mit der EU. In den anderen Ländern herrscht die Grundhaltung: «Wenn ihr vorangehen wollt, geht voran … die Zeit wird kommen für ein Abkommen zwischen den Regionen, Asean-EU, wir sind flexibel.» Ein Auseinanderbrechen des Asean-Verbundes war nie eine ernst zu nehmende Gefahr.
«Faktisch war schon länger Praxis, dass einzelne Asean-Mitglieder allein vorangingen, zum Beispiel Vietnam in den Verhandlungen mit der EU.»
Reformdruck nimmt zu
Allerdings gibt es mit dem Inkrafttreten von RCEP (2022) und CPTPP (2018) ein Überlagern von Regelsystemen in der Region, mit noch unklaren Konsequenzen. Dass die beiden Initiativen sich gegenseitig beeinflussen und in einem Konkurrenzverhältnis standen, war schon während der Verhandlungen offensichtlich. Im Falle der sieben Länder, die in beide Prozesse involviert waren, nahmen oft dieselben Diplomaten und Experten an beiden Verhandlungen teil und brachten dementsprechend ihre Ambitionen und laufend gemachten Erfahrungen ein, zumal die CPTPP früher startete und deutlich rascher vorankam. Die RCEP-Verhandlungsführung verwahrte sich von Zeit zu Zeit gegen eine schleichende «TPPisierung» der RCEP. Aber die CPTPP warf ihren Schatten auf die RCEP, und das RCEP-Abkommen würde anders aussehen ohne die CPTPP.
Anders als die RCEP ist die CPTPP, und das ist der Hauptgrund für das schnellere Verhandlungstempo, selektiv. Es war ein zunächst von den USA geführter Club von Ländern, die ambitionierte Regeln für den Welthandel des 21. Jahrhunderts zu schreiben beabsichtigten, mit Regeln für Staatsunternehmen, ausgebautem Schutz geistigen Eigentums, Umwelt- und Arbeitnehmerrechten. Für Länder wie Vietnam und Malaysia bedeutete die Partizipation an der CPTPP zunächst grossen internen Reformdruck, um die Möglichkeit des Marktzugangs zur grössten Volkswirtschaft der Welt aufrechtzuerhalten. Als die USA unter Trump aus dem Abkommen ausstiegen, nahm dieser Druck massiv ab, aber im Prinzip ist das Regelniveau in der CPTPP immer noch das ursprüngliche. Vietnam begrüsst diesen Reformdruck von aussen in vieler Hinsicht sogar und nutzt die Dynamik für eine aggressive Modernisierungs- und Internationalisierungsstrategie. Das Land geht am aggressivsten «voran» und strebt eine Rolle als führender globaler Handels- und Investitionshub an. In einem autoritär geführten Parteistaat lässt sich das auch relativ einfach umsetzen. Für Malaysia war der US-Marktzugang als Motivation entscheidend, denn die bilateralen Verhandlungen mit den USA waren 2009 gescheitert, nicht zuletzt an der breiten internen Opposition gegen ein Freihandelsabkommen mit den USA. RCEP hingegen trifft praktisch auf keinen Widerstand, weil es eben als «eigene», als Asean-Initiative betrachtet wird.
Anders als für China und Südkorea ist ein Beitritt zur CPTPP für die anderen Asean-Länder kaum ein Thema. In vieler Hinsicht werden die CPTPP-Regeln als «imposing» gesehen, als von einigen Ländern aufgedrückt. Der ehemalige indonesische Handelsminister Wirjawan sagte einmal relativ deutlich, dass «es für durchschnittliche Laoten, Kambodschaner und Indonesier vor allem um Arbeitsplätze geht, die mit Fabriken entstehen, bevor wir anfangen, uns über Datenschutz und -sicherheit, geistiges Eigentum und Menschenrechte zu unterhalten». In Indonesien gibt es auch so etwas wie eine Reformmüdigkeit nach dem Erfolg mit der RCEP und ihrer Umsetzung, die auch zahlreiche Regelanpassungen erforderte. Weniger entwickelte Länder wie Laos und Kambodscha sagen zudem, sie hätten die Kapazität schlicht nicht, um ein Regelwerk wie die CPTPP umzusetzen, das müsse allenfalls im Asean-Kontext geschehen. Die beiden Abkommen werden also voraussichtlich lange Zeit neben- oder übereinander bestehen.