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Nach der Wahl ist vor der Wahl

Regierungsbildung nach Schweizer Art

Die diesjährigen Wahlen für das eidgenössische Parlament haben zwar den in den letzten Jahren sichtbaren Trend zur Polarisierung bestätigt. Überrascht hat jedoch die Stärke der Signale, die noch nicht alle abschliessend gedeutet worden sind. Die Vermutung liegt nahe, dass die in diesem Ausmass nicht erwartete Zunahme der Wahlbeteiligung den «Siegern» genützt und den «Verlierern» geschadet hat. Die starke und gelegentlich rüde Emotionalität des Wahlkampfs, mit der Zuspitzung kurz vor dem Urnengang, dürfte mehr als sonst Gelegenheits- und Protestwähler mobilisiert haben, die dem Politbetrieb eher fernstehen. Wer zur «Schicksalswahl» aufrief – betreffe diese nun einen Bundesrat und die Schweiz insgesamt oder die Umwelt und das Klima –, konnte davon profitieren. Und wahrscheinlich hat die etwas veränderte Zusammensetzung des Elektorats einige Altgediente den Sitz gekostet und mehreren Jungen zum Erfolg verholfen.

Wie üblich sinkt die Temperatur nach dem Wahltag jeweils rasch, und manche der aufgerüttelten Wähler werden jetzt augenreibend nach dem «Schicksal» Ausschau halten. Nun folgt mit der Erneuerungswahl des Bundesrates der nächste Akt, der den Höhepunkt des Schauspiels hätte darstellen sollen. Daraus dürfte aber nichts werden.

Kein ausländischer Beobachter begreift, wie die Schweiz ihre Regierung bestellt – und es scheint, als falle es auch uns zunehmend schwerer. Seit 160 Jahren halten wir am System und an den Abläufen eisern fest, nur in der parteipolitischen Zusammensetzung haben sich jeweils reiflich erdauerte Anpassungen ergeben. Das Verfahren, nach dem die Mitglieder des Bundesrates einzeln – in der Reihenfolge ihres Amtsalters – gewählt werden, macht viele im Wahlkampf diskutierte Szenarien von vornherein unmöglich. Für die Mehrheit, die jeder zu Wählende erzielen muss, reicht die Stimmenzahl einer Fraktion allein und auch eines Blocks aus zwei Parteien nicht aus; wer Bundesrat werden will, braucht eine breitere Abstützung. Und wenn sich im Vorfeld eine koordinierte Aktion zur Nichtwiederwahl eines Regierungsmitgliedes abzeichnen sollte, müssten die Beteiligten mit Retourkutschen gegen ihre Amtsinhaber rechnen.

Die durch dieses System erzwungene Konkordanz besteht in der Praxis darin, dass einigermassen kontrolliert Mehrheiten zustande kommen, die durchaus qualifizierende Unterschiede aufweisen. Gepokert wird in diesem Spiel, vor allem wenn es um neuzuwählende Personen geht, oft im Kleinen, doch lässt man im grossen Ganzen nichts anbrennen.

Man kann sich fragen, ob das bewährte, in letzter Zeit aber ziemlich ausgefranste System der nach Konkordanzregeln gebildeten Kollegialregierung noch zeitgemäss sei. Zweifel daran sind von der Regierung in der gegenwärtigen Zusammensetzung mit kollegialitätswidrigen Auftritten jedenfalls allzu oft genährt worden. Es hat auch schon zahlreiche Anstösse für Reformen der Staatsleitung gegeben. Sie sind alle am Beharrungsvermögen gescheitert, das wohl weniger der Tradition als den Interessen der politischen Klasse zuzuschreiben ist. Dass nun Rücktrittsforderungen ziemlich ungeniert öffentlich debattiert werden, weist auf Veränderungen im politischen Klima hin, die Überlegungen zu institutionellen Reformen neuen Auftrieb geben könnten. Dabei geht es nicht primär um ein institutionalisiertes System aus Regierung und Opposition, das in der Referendumsdemokratie mit ihren interessenbedingten Oppositionsrollen kaum eine Chance hat. Doch müsste zumindest der Wahlmodus für die Regierung, der auf Einzelkämpfer zugeschnitten ist, modifiziert und die Führung des Gesamtkollegiums gegenüber den departementalen Fürstentümern gestärkt werden.

Besser funktionierende Institutionen allein können jedoch die Glaubwürdigkeit eines politischen Systems nicht gewährleisten. Auch wenn Stilfragen in politischen Auseinandersetzungen nicht allzu zimperlich bewertet werden sollten, so hat doch der vergangene Wahlkampf manchmal Dimensionen der Despektierlichkeit erreicht, die das Vertrauen der Wähler in die Politik und ihre Exponenten nicht unbedingt gefördert haben.

Dass politische Standpunkte und Forderungen immer plakativer «verkauft» werden müssen, ist in der Medienflut wohl unvermeidlich. Solange aber den Stimmbürgern das letzte Wort bei Sachentscheidungen gegeben wird, müssen deren Inhalt, Bedeutung und längerfristige Auswirkungen weiterhin verständlich zur Darstellung gebracht werden können. Sie sind ja nicht einfacher geworden. Die Globalisierung hat die Handlungsspielräume zugleich erweitert und eingeengt, und die relevanten Zeiträume für die grossen Projekte in fast allen Politikbereichen sind in Jahrzehnten zu messen.

Man hat im Wahljahr erlebt, dass fast alle grösseren und schwierigeren Entscheidungen aufgeschoben wurden. Können wir es uns leisten, dass «nach der Wahl vor der Wahl» ist? Dem neugewählten Parlament und dem wiedergewählten Bundesrat ist zu wünschen, dass er die kurze Zeit energisch nutzt, in der effektiv gehandelt werden kann.

Ulrich Pfister, geboren 1941, ist Publizist in Zürich.

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