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Zweierlei Wirtschaftswunder

R. James Breiding/Gerhard Schwarz: Wirtschaftswunder Schweiz. Ursprung und Zukunft eines Erfolgsmodells. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2011.

Zwischen 1949 und 1970 sah die Bundesrepublik Deutschland mehr als eine Verdopplung des Pro-Kopf-Sozialprodukts. Vergleicht man dieses gigantische Wachstum der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit den mageren Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, so wundert man sich nicht, dass damals von einem Wunder gesprochen wurde – dem berühmten «Wirtschaftswunder».

«Wirtschaftswunder» – dieser Begriff erfüllte die Deutschen, die sonst in diesen Jahren mit gutem Grund allzu grossem nationalem Gepränge abhold waren, mit so etwas wie patriotischem Stolz. Vergeblich warnte schon Ludwig Erhard, dass es sich keineswegs um ein unerklärliches Wunder handle, sondern um die logische Folge einer konsequent liberalen Ordnungspolitik. Das Gefühl, einem Wunder beigewohnt zu haben, hat sich jedoch tief in das Kollektivgedächtnis der Deutschen eingeprägt.

Was soll man als Deutscher dazu sagen, wenn nunmehr unsere südlichen Nachbarn, die Schweizer, den Begriff des «Wirtschaftswunders» für sich reklamieren? Das sogenannte «Wunder» ist zwar natürlich auch in der Schweiz keines, allerdings vermögen es die Eidgenossen wie kein anderes Volk in Europa, eine Wirtschaftspolitik zu verfolgen, die in vielen Bereichen durchaus beispielhaft und im eigentlichen Sinne gar «wunderbar» ist.

Die Frage lautet folglich: Wer schafft es künftig besser, der Wirtschaft die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen, damit sie den Wohlstand dauerhaft mehren kann? Deutschland – ein Land mit günstigen natürlichen Grundlagen – hat für rund zwei Jahrzehnte genau das Richtige getan, nämlich auf die Kreativität und Produktivität möglichst freier Individuen gesetzt. Indessen hat die Schweiz – ein bergiges Land mit ungünstigen natürlichen Grundlagen – eine (mindestens) seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich fortgeführte Wahrung ordnungspolitisch kluger Bedingungen betrieben. Wie es dazu kam und was erreicht wurde, fasst nun der anschaulich und schön edierte Band «Wirtschaftswunder Schweiz» von James Breiding und Gerhard Schwarz zusammen.

Als Beispiel sei hier die lange Tradition des Föderalismus und der kommunalen Autonomie genannt. Beides ist in der Schweiz wesentlich ausgeprägter und fruchtbarer als in Deutschland. Das Buch veranschaulicht die tieferen Zusammenhänge zwischen Föderalismus, Kleinstaat, Gemeinsinn, Rechtsordnung und produktivem Wettbewerb in einfachen und klaren Worten. Beim Erfolgsmodell Schweiz greift alles auf mannigfache Weise ineinander. Kantonale Hoheiten, etwa bei der Besteuerung, richten die Produktivitätsströme immer wieder neu aus und stiften dennoch nur sehr selten Unfrieden: der Bürgersinn der kleinen Einheit schafft eine Wirtschaftskultur, die gleichzeitig den Rechtssinn fördert und den Schweizern seit jeher den Antrieb nahm, sich in zentralistisch-sozialistischen Utopien zu verlaufen.

Spricht die deutsche Politik von diesem eindrücklichen Wohlstand der Schweiz, dann tendiert sie in letzter Zeit vermehrt dazu, die Diskussion auf den schweizerischen Bankensektor und den durch ihn erlangten – vermeintlich unfairen – Vorteil zu reduzieren. Man erinnert sich noch an einen Finanzminister, der in schräger Analogie von den Schweizern als «Indianern» sprach, die man mit der Kavallerie einschüchtern müsse. Einmal abgesehen davon, dass sich Politiker wettbewerbsaverser Hochsteuerländer immer gerne dergestalt über Länder beschweren, die ihren Bürgern weniger Lasten aufbürden und dennoch besser wirtschaften, stimmt das Bild der Schweiz als eines von netten Bergen umrahmten Bankenviertels hinten und vorne nicht. Die Schweiz ist in erster Linie ein Unternehmer-, kein Bankenland.

Aber es stimmt: die Schweiz verfügt über einen grossen und überaus erfolgreichen Bankensektor. Das Buch, das sich Kapitel für Kapitel durch die verschiedenen Wirtschaftszweige hindurchdekliniert, zeichnet auch die Banken¬geschichte des Landes nach, die stark durch den Protestantismus geprägt ist. Dabei machen die Autoren – und das sei der deutschen Politik zur Lehre gedacht – auf den Segen des Schweizer Bankgeheimnisses für Deutschland und Europa während der Notjahre der Inflation, der Grossen Depression und des Weltkriegs aufmerksam. Denkt heute noch jemand daran, wie viele vor dem Nationalsozialismus fliehende Juden aus Deutschland das Bankgeheimnis vor Ruin und Not rettete?

Das eigentliche Rückgrat der Wirtschaft, lernt der Leser, ist jedoch – und hier gleicht die Schweiz einmal mehr Deutschland – ein sehr dynamischer Mittelstand. Oft waren es geniale Tüftler und solide Geschäftsleute, die aus kleinen Anfängen grosse Weltmarkenführer entwickelten. Das Buch erzählt einige ihrer spannendsten Geschichten. Von der Chemieindustrie über den Maschinenbau bis hin zum Handelssektor hat die Schweiz Weltwirtschaftsgeschichte jenseits des Bankensektors geschrieben, die vielfach deutschen Systemkritikern und schweizerischen Haarspaltern den Wind aus den Segeln ihrer Kritik nimmt. Nicht zu vergessen: die Tourismusbranche, ein Pflaster schweizerischer Pionierleistungen und auch in Zeiten eines starken Frankens noch gut im Geschäft, und die Textilindustrie, die einst der Motor der Industriellen Revolution war, heute aber eher ein Nischendasein pflegt – auch hier wieder in Analogie zum nördlichen Nachbarn.

Und noch ein beliebtes Vorurteil beseitigt das Buch: Die Schweiz gilt vielen Deutschen – wohl durch die übertriebene und auch bisweilen verfälschte Berichterstattung über einige jüngere Referenden – als tendenziell xenophob. Die Statistiken des Buches belehren den Leser eines Besseren: in keinem europäischen Land – mit Ausnahme Luxemburgs – leben und arbeiten (unbehelligt) anteilig so viele Ausländer wie in der Schweiz. Früh hat die Schweiz erkannt, dass gerade ein an natürlichen Rohstoffen armes Land in besonderem Masse des Rohstoffs «Humankapital» bedarf. Als konkretes Beispiel wird der libanesische Einwanderer Nicolas G. Hayek angeführt, der mit seiner weltbekannten «Swatch» letztlich für die wirtschaftliche Rettung einer ganzen Traditionsbranche, nämlich der Uhrenindustrie,
verantwortlich zeichnete. Die Schweiz hat es stets verstanden, sich die besten Köpfe aus dem Ausland zu sichern – und die blosse Einwanderung in den Sozialstaat erfolgreich einzudämmen. Auch hier könnte sich, das zeigt die letztjährige, emotional geführte Debatte um Herrn Sarrazin, Deutschland durchaus eine Scheibe abschneiden.

Wer hatte also nun das wunderbarste Wirtschaftswunder? Eindrücklich sind sicher beide Erfolgsgeschichten – die der Schweiz und die des Nachkriegsdeutschlands, das sich mit der sozialen Marktwirtschaft die wirtschaftliche Grundlage für das Gelingen seiner Demokratie schuf, was eine nicht unbeträchtliche Errungenschaft darstellt, wovon sicher auch die Schweiz gelernt hat. Zu konstatieren ist aber, dass das Schweizer Modell sich als langlebiger oder auch – um einen abgegriffenen Modebegriff einmal sinnvoll zu verwenden – als nachhaltiger herausgestellt hat.

Während es eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten bei der Wirtschaftsstruktur (relativ non-zentral, mittelständisch) gibt, sind die institutionellen Voraussetzungen und ihre historischen Evolutionen aber doch zu verschieden, um beide Länder einfach miteinander vergleichen zu können. Von einer jahrhundertelang andauernden Friedenszeit und einem hohen Mass an geschichtlicher und institutioneller Kontinuität geprägt, pflegt der Schweizer einen natürlicheren und selbstbewussteren Umgang mit den Grundlagen dessen, was das Wunder zum Wunder werden liess. In Deutschland, das mit gewaltigen (oft selbstverschuldeten) politischen Umbrüchen und wenig Kontinuität gesegnet war, scheint dies nur selten zu gelingen. Deshalb haben wir in Staat, Sozialsystemen, öffentlichen Haushalten und Bürokratismus mittlerweile falsche Anreize geschaffen, die langfristig das Erbe des «Wirtschaftswunders» zu verspielen drohen.

Gerade deshalb sollten wir Deutsche uns ab und an das Beispiel anderer Länder zur Inspiration angedeihen lassen. Ein Blick in das Buch «Wirtschaftswunder Schweiz», diese lebendige Geschichtsstunde, wäre da ein guter Anfang.

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