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Zwei Seiten, Drei Säulen, Ein Problem

Verkrustete Vorgaben, unrealistische Zinsversprechen und Reformresistenz: Die berufliche Vorsorge ist erstarrt. Wie lässt sich das System dennoch bewegen? Ein Streitgespräch.

Zwei Seiten, Drei Säulen, Ein Problem

Herr Zeier, Hand aufs Herz – haben Sie Ihren Vorsorgeausweis schon einmal näher angeschaut?

Zeier: Ich kenne den Vorsorgeausweis vom Studium her und von meinem früheren Arbeitgeber. Wenn wir aber ehrlich sind, kennen ihn die meisten Leute nicht.

Wissen Sie, wie hoch die Verwaltungskosten Ihrer Pensionskasse sind?

Zeier: Nein. Jetzt haben Sie mich erwischt!

Auf unserem Vorsorgeausweis steht dieser Aufwand schwarz auf weiss vermerkt. Frau Bianchi, wie hält es die Pensionskasse des Gewerkschaftsbundes mit der Kostentransparenz?

Bianchi: Da steht auch nichts drauf. Aber dies hat einen nachvollziehbaren Grund: Bei den Gewerkschaften zahlt der Arbeitgeber alle Verwaltungsgebühren. Die Versicherten sind von dieser Last befreit.

Das Ziel des Gewerkschaftsbundes ist das Rentenalter 62 und ein Lohnersatz von 75 Prozent – so hat es uns Daniel Lampart einst erläutert. Glauben Sie weiterhin daran?

Bianchi: Das traf in der Tat früher zu. Seit ich die Geschäftsführung der Pensionskassen übernommen habe, musste ich einen Primatwechsel durchführen: vom Leistungs- zum Beitragsprimat. Wir sind immer noch bei sehr guten 70 Prozent des letzten versicherten Lohnes. Diese Leistung kann sich trotz Wechsel sehen lassen.

Macht sich Ernüchterung breit? Um es mit einer Metapher Ihres Vorgängers zu sagen: Das darf als ein sehr gut ausgestattetes Auto gelten, aber nicht mehr als Luxuskarosse.

Bianchi: Jetzt ist es kein Rolls-Royce mehr, aber immer noch ein Mercedes.

Herr Rentsch, Sie sind pensioniert, geben aber selbstverständlich weiterhin Vollgas. Setzen Sie auf eine Rente der beruflichen Vorsorge, oder haben Sie das ganze Kapital schon bezogen?

Rentsch: Als Liberaler liegt mir an der Verfügungsmacht über mein Eigentum. Ich habe in meiner Berufskarriere nie gewusst, wer mein Kapital verwaltet. Das war für mich Grund genug, das Kapital zu beziehen und damit die Verwaltung meines Kapitals den anonymen Gremien zu entziehen. Ich habe dies im Wissen getan, dass ich, rein statistisch gesehen, davon profitieren würde, wenn ich eine Rente bezöge. Denn ich gehöre zu der Generation, die bereits die Ersparnisse der Aktiven aufzehrt.

SP-Bundesrat Alain Berset will den erst seit 1995 möglichen Kapitalbezug einschränken beziehungsweise verbieten, damit die Leute – angeblich – das Kapital nicht mehr verjubeln können und nachher auf Ergänzungs- und Sozialleistungen angewiesen sind. Was halten Sie von dieser Idee, Herr Zeier?

Zeier: Gar nichts! Das Angesparte gehört ja von Gesetzes wegen dem Versicherten. Es geht hier um eine fundamentale Frage der Eigenverantwortung. Die meisten Menschen können mit ihrem Kapital umgehen. Für das Versagen einiger weniger alle zu bestrafen, ist völlig daneben. Darüber hinaus ist klar: den Bezug zu verbieten wäre bloss Symptombekämpfung. Das kann es definitiv nicht sein.

Bianchi: Ich freue mich, wenn nun auch die Jungfreisinnigen indirekt das System der Ergänzungsleistungen loben, das sehr gut funktioniert.

Zeier: Die Gewerkschaften werden sich nicht mehr lange über die neue Generation der FDP freuen. Wir Jungfreisinnigen sagen: es braucht eine Reform, aber die muss viel weiter gehen als die von Berset geplante…

Bianchi: Zurück zur Sache: die Rente ist eine stabilere Vorsorge als der Kapitalbezug. Aber Leute mit tiefen Einkommen, die rund 100 000 Franken zusammengespart haben, sollten auch das Geld beziehen können. Die wollen keine Rente, auch nicht mit einem Mindestumwandlungssatz von 6,8 Prozent – selbst wenn sie davon profitieren. Diese Leute wollen das Kapital, weil sie damit endlich jemand sind. Das ist aus meiner Sicht ein legitimes Motiv.

Der Kapitalbezug muss also bleiben: Das halten wir gerne so fest, Frau Bianchi. Somit stellen Sie sich gegen den Bundesrat, mit dem Sie sonst zu sympathisieren pflegen?

Bianchi: Der Kapitalbezug kann in einem Zwangssparsystem nicht völlig ausgeschlossen werden. Die Frage wird sein, welches Netz wir sonst noch haben für jene Leute, die diese Eigenverantwortung nicht so gut wahrnehmen können, wie sie sich selbst das womöglich wünschen.

Rentsch: Leute, die freiwillig nichts gespart haben, könnten in der Tat einen Anreiz haben, das Kapital zu beziehen, es zu verpulvern und dann über Ergänzungsleistungen zur AHV auf ein Einkommen zu kommen, das rund vierzig Prozent über dem Einkommen der AHV-Maximalrente liegt. Als Ökonom muss ich hier zur Vorsicht rufen! Man darf die Anreize nicht verkennen, die hier eingebaut sind – und die eine Verbindung haben zu den anderen Systemen, zur AHV und zu den EL. Das Leben auf Kosten anderer zu fördern, war bestimmt nicht der Wille des Gesetzgebers. Das gehört geändert.

Sie wollen als Liberaler den Kapitalbezug verbieten?

Rentsch: Nein. Man müsste auf der anderen Seite etwas ändern, auf der Seite der Zuschüsse – wer sein Kapital bezieht und verpulvert, verzichtet auf allfällige Ergänzungsleistungen.

Bianchi: Das ist weder wünsch- noch durchsetzbar!

Schon jetzt zeichnet sich ab: Vorsorgefragen sind ideologisch und politisch aufgeheizt. Herr Zeier, was würden Sie als Jungspund ändern, wenn Sie denn könnten?

Zeier: Wir Jungfreisinnigen wollen die Entpolitisierung des Umwandlungssatzes und des Rentenalters. Oder positiv formuliert: die Koppelung von Rentenalter und Umwandlungssatz an die Lebenserwartung. Und wir wollen endlich die freie Pensionskassenwahl der Versicherten.

Bianchi: Was heisst denn hier «entpolitisieren»? Jede Formel hat letztlich eine politische Bewertung dahinter. Ich bin gespannt auf Ihre Vorschläge, wie man einen entpolitisierten Umwandlungssatz festlegen würde. 

Zeier: Man kann das Rentenalter an die Lebenserwartung koppeln. Auch den Umwandlungssatz kann man objektiv festlegen. Ich sehe da keinerlei politische Färbung. Sie wollen einfach nichts am Status quo ändern – weil er in Ihre Hände spielt.

Gehen wir von folgendem Szenario aus. Frau X hat 100 000 Franken Alterskapital. Sie wird mit 64 Jahren regulär pensioniert: Ihre durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 23 Jahre. Der risikoarme Zins beträgt um die 0 Prozent. 100 000 geteilt durch 23 Jahre gibt etwa 4,3 Prozent. Der korrekt gerechnete Umwandlungssatz müsste also ungefähr 4,3 Prozent sein. De facto beträgt er – dank politischer Bestimmung – 6,8 Prozent. Er soll jetzt gemäss angedachter Reform gesenkt werden auf 6 Prozent. Schon herrscht Aufruhr. Das kann doch nicht sein. Herr Rentsch – wo liegt das Problem? 

Rentsch: Wir haben zu viele Pflöcke eingeschlagen. Es ist, als ob Sie ein quadratisches Feld abstecken mit vier Pflöcken. Dann müssen sie einen Zaun darum herum machen und die Seitenlänge ist zehn Meter. Sie bekommen aber nur 35 Meter Draht. Sie müssen irgendeinen Pflock verstellen. Bei uns ist der falsche Pflock invariabel: Der Umwandlungssatz ist gesetzlich vorgeschrieben. Diesen Pflock müsste man verstellen. Und zwar lieber gestern als heute!

Ich habe mir eine Laienlösung überlegt. Man koppelt die Rente an die Lebenserwartung und den risikoarmen Zins, man setzt eine -Formel ein, und das ergibt einen ehrlichen Umwandlungssatz – das ist der Fixteil. Wenn die Renditen auf dem Kapital grösser sind als erwartet, gibt es zusätzlich einen variablen Teil. Fixteil und variabler Teil: wie wär’s damit, Frau Bianchi?

Bianchi: Gut gedacht, nur eben nicht zu Ende gedacht: Wie wollen Sie einem Karosseriespengler erklären, dass sein Mindestumwandlungssatz an die Lebenserwartung von Uni-Professoren gekoppelt ist? Zudem: wenn die fixe Rente so miserabel ist, weil Sie auf Bundesobligationen abstellen, die ja nicht das ganze Anlagespektrum einer Pensionskasse abbilden, gibt es einen Aufstand. Eine miese Fixrente mit Aussicht auf Besserung schluckt kein Rentner. Die Leute wollen im Alter ein berechenbares Einkommen.

Zeier: Die Leute wollen vor allem Transparenz – und keine wohlfeilen Versprechungen, die am Ende ohnehin nicht eingehalten werden. Das ist typisch Gewerkschaften: man sagt, es funktioniert nicht, bloss weil man politisch dagegen ist! Was Sie machen, ist reine Illusionsbewirtschaftung. Oder Sie haben etwas anderes im Sinne: mehr Umverteilung!

Bianchi: Das ist eben der Mehrwert der beruflichen Vorsorge, dass wir gemeinsam im Kollektiv Anlageschwierigkeiten meistern – durch das, was Sie Umverteilung nennen, was aber nichts anderes ist als Risikotragung im Kollektiv. Wenn man das alles individualisiert, kann man einfach ganz auf die dritte Säule setzen.

Rentsch: Es gibt sozialdemokratisch regierte bzw. stark sozialdemokratisch geprägte Länder, Dänemark und Schweden, die versicherungsmathematisch saubere Lösungen haben. Die Versicherten wählen ab 61, wann sie in Pension wollen. Arbeiten sie länger, erhöht das die Rente. Das wird versicherungsmathematisch berechnet. Ich frage mich, warum das dort möglich ist, während wir seit Jahrzehnten eine solche Diskussion führen, ohne dass eine nachhaltige Lösung sichtbar wäre.

Ja, Herr Rentsch, warum? Sagen Sie es uns!

Rentsch: Das dürften Sie nicht gerne hören, ich sage es aber trotzdem: weil wir ein halbdirektes politisches System haben. Wir mussten und müssen immer Referenden gewinnen oder vermeiden. Dieser Umstand hat auch die berufliche Vorsorge geprägt. Das rächt sich nun mit einem überdeterminierten, bürokratischen System, über das alle klagen. Wer es wirklich reformieren will, wird aber an der Urne scheitern – weil natürlich niemand auf die gemachten Versprechungen zu seinen Gunsten verzichten will, umso mehr als es sich um Rechtsansprüche handelt.

 Ich werde nun erstmals unseren Pensionskassenspezialisten Marco Betti aktivieren. Marco, siehst du es als realistisch an, dass wir eines Tages eine versicherungsmathematisch saubere Lösung haben werden wie in Schweden – oder bleibt dies auf absehbare Zeit ein frommer Wunsch?

Betti: Es gibt ja bereits solche Modelle, wie zum Beispiel jenes der PwC. Herr Rechsteiner hat das mit Vehemenz bekämpft, als es bei den SBB zur Debatte stand. Ich weiss, ehrlich gesagt, auch nicht, wie wir in absehbarer Zeit aus dieser Bredouille kommen können. Es gibt so viele Partikularinteressen. Bald wird das AHV-Rentenalter mit dem Argument der Gleichstellung bei den Löhnen gefordert. Das sind alles Lösungen, die sich – plastisch ausgedrückt – in den eigenen Schwanz beissen.

Frau Bianchi, Sie kennen sich sehr gut aus mit Pensionskassen. Welches wäre aus Ihrer Sicht die optimale Lösung, wenn es nicht die ist, die wir bereits haben?

Bianchi: In Schweden gibt es neben diesem Pensionskassenmodell eine umlagefinanzierte Vorsorge, ausserdem viele GAV-basierte Altersrücktrittsmodelle. Wir haben nun aber ein anderes politisches System. Das spielt bei der Lösungsfindung eine so wichtige Rolle wie die Versicherungsmathematik. Ich staune, wenn politische Kreise, die sich ansonsten für die direkte Demokratie aussprechen, bei Aspekten wie Rentenhöhe und -alter die Sache an Technokraten delegieren wollen. Wir entscheiden solche Fragen an der Urne – zum Glück! Wir haben kein Altersvorsorgechaos. Das redet man sich politisch ein, aber die Systeme sind intakt.

Rentsch: Die zweite Säule verteilt gegen vier Milliarden pro Jahr von den Aktiven zu den Rentnern, damit die Rentenhöhe gehalten werden kann. Sie können nicht sagen, dieses System sei stabil – es ist gesetzeswidrig, was wir machen! Punkt. Wir haben 1972 ein 3-Säulen-System beschlossen, ein Umlagesystem mit AHV, mit enormer Umverteilung und ein kapitalgedecktes System, dessen Prinzip lautet: die Renten werden finanziert aus den Erträgen des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks. Davon sind wir weit entfernt. Wir haben das System geritzt. Es ist im aktuellen Zustand ein Verstoss gegen einen früheren Volksentscheid.

Herr Zeier, pro Jahr werden in der beruflichen Vorsorge je nach Studie und Berechnung zwischen drei und acht Milliarden von den Einzahlenden zu den Empfängern umverteilt. Es geht also bereits ein Teil Ihres Kapitals aus der 2. Säule verloren, aber Sie spüren nichts. Schweigen darum die Jungen – Sie natürlich ausgenommen – so beharrlich?

Zeier: Dass man es nicht spürt, ist Teil des Problems. Das politische System trägt insofern zum Problem bei, als man nur von Rentenklau reden muss, um die Leute auf seine Seite zu bringen – gegen alle Vernunft und Evidenz! Es wäre technokratisch, wenn ein Gremium den Umwandlungssatz oder das Rentenalter bestimmen würde. Da sind wir dagegen. Unser Punkt ist ein anderer: mehr Mathematik, also mehr Ehrlichkeit, weniger Politik. Mein Eindruck: je länger es geht und je länger man wartet, desto klarer zeichnet sich ab, dass aus der 2. eine zweite 1. Säule wird. Dann sind die Pläne des Gewerkschaftsbundes und der Linken erfüllt. Kompliment, Frau Bianchi!

Frau Bianchi, Sie unterscheiden zwischen Risikodiversifikation und Umverteilung. Was denken Sie zur momentanen Lage: Gibt es diese Umverteilung jenseits der Risikodiversifikation oder gibt es die aus Ihrer Sicht nicht? Denn es ist klar: auf die Dauer darf es sie von Gesetzes wegen nicht geben.

Bianchi: Momentan reichen die erwirtschafteten Erträge nicht aus, um die technischen Zinssätze für die Renten sauber zu finanzieren. Es reicht nicht, weil der dritte Beitragszahler, der Kapitalmarkt, nicht hergibt, was man sich erhoffte. Das kann, das dürfte sich aber auch wieder ändern. Wir reden im Bereich der Vorsorge von einem langen Anlagehorizont. Ich staune, wie auch grosse Kapitalismusfreunde jetzt sagen, die nächsten vierzig Jahre werde sich die Anlagewelt mit einem Zinssatz von gegen null oder negativ bescheiden müssen. Kapitalisten, wo bleibt denn das Vertrauen in den Kapitalismus? Schon in zehn oder zwanzig Jahren kann die Situation ganz anders aussehen.

Selbst den Gewerkschaften bleibt nur die Hoffnung auf die Segnungen des Kapitalismus – das nenne ich mal eine schöne Konstellation!

Bianchi: Ein Kapitaldeckungssystem, deren Verantwortliche nicht an Erträge glauben, ist ein Unding. Dann können wir gleich alles auf Umlage setzen. Schauen Sie: die Umverteilungsproblematik ist ein Thema, das vor allem in den Publikationen der Pensionskassen sehr gehypt wird. Ich habe noch keinen jungen Beitragszahler getroffen, der mir mit grosser Empörung gesagt hätte: «So geht das nicht, wir zahlen für die Rentner, also proben wir den Aufstand.» 

Rentsch: Wir haben seit 1985 das Volk so konditioniert, dass genau das erwartet wird, was Frau Bianchi gesagt hat: gesicherte, immergleiche Renten. Das ist in einem kapitalgedeckten System schlicht nicht möglich, weil der Ertrag des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks risikobehaftet ist. Man kann den Leuten nicht fixe Renten aus der 2. Säule versprechen. Das kann man in der AHV vielleicht bis zu einem gewissen Grad, aber auch dort ist es problematisch. Die Linke war immer skeptisch gegenüber der 2. Säule. Eigentlich wollten sie lieber eine Volkspension. Die haben sich angepasst, aber sie wollen immer noch die AHV ausbauen. Wir stehen mittendrin in einer Verunreinigung des Systems.

Bianchi: Herr Rentsch hat recht, was die Skepsis betrifft. Aber er vergisst zu sagen, dass wir die sind, die sich für gute Renten einsetzen und nun sagen, auch die 2. Säule müsse ein leistungsstarkes System sein. Und zweitens: die berufliche Vorsorge ist nun einmal kein reines Kapitaldeckungssystem. Wir müssen uns an Leistungsziele halten, die die Bundesverfassung vorgibt. Entweder wir revidieren die Verfassung und sagen, es gehe nicht mehr, mit AHV- und Pensionskassenrente das gewohnte Leben weiterführen zu können, sondern wir müssten uns mit der nackten Existenz begnügen. Dann sind wir bei Herrn Rentsch. Ich bezweifle, dass das Schweizer Volk mit einem solchen Downsizing einverstanden wäre.

Rentsch: Sie haben politisch natürlich recht. Das ist die Konditionierung, mit der man die Abstimmungen gewonnen hat. Die meisten Leute kennen die Details und Zusammenhänge nicht. Laut Vox-Analyse haben die Jungen unter 25 im Jahre 2010 das Referendum gegen den angeblichen Rentenklau unterstützt. Dass Sie noch keine Jungen getroffen haben, die sich gegen diese Umverteilung wehren, Frau Bianchi, liegt daran, dass die Rechnung erst in ferner Zukunft präsentiert wird.

Herr Rentsch, dann ist Ihre Message, dass es keine sicheren Renten gibt, aber mit der Unsicherheit lässt sich keine Politik machen?

Rentsch: Ich habe da nun einmal eine ganz grundlegend andere Sicht, gerade als Ökonom. Wenn Sie den Leuten ein System versprechen, welches die Fortführung des gewohnten Lebensstandards staatlich garantiert, können Sie sicher sein, dass das private Sparverhalten der Leute dadurch beeinflusst wird. Das ist ein Problem des Wohlfahrtsstaats. Wenn Sie den Leuten zu viele staatliche Garantien versprechen, verändern die deren Verhalten. Diese Anreizwirkungen sind fundamental, werden aber kaum thematisiert. Leider.

Bianchi: Ich denke nicht, dass in der Schweiz zu wenig gespart wird. Wenn wir die zweite und dritte Säule und Wohneigentum zusammenrechnen, kommt einiges zusammen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass auch das Konsumieren quasi eine Bürgerpflicht ist. Ansonsten läuft der Laden nicht. Das Leistungsziel der Altersvorsorge ist ein guter Wirtschaftsmotor. Auch die Alten bringen Gelder in Umlauf. Es wäre für die Volkswirtschaft nachteilig, wenn die Alten auf niedrigem Niveau gehalten würden.

Rentsch: Ich spreche eben davon, dass obligatorisches Zwangssparen ersetzt wird durch freiwilliges privates Sparen! Dann haben Sie nicht weniger Konsum, sondern Sie senken bloss das Zwangssparen – und haben eine viel bessere Anreizstruktur und stärken die Eigenverantwortung.

Herr Zeier, es scheint, als wären sich Frau Bianchi und Herr Rentsch in einem Punkt einig: Echte Reformen sind nicht möglich, weil sie Leistungskürzungen oder Beitragserhöhungen bedeuten würden. Das nehmen die Leute nicht hin. Sind Sie mit dieser -Diagnose einverstanden?

Zeier: Aus zweckoptimistischer Sicht muss ich Herrn Rentsch widersprechen. Das PwC-Modell ist meiner Meinung nach hochinteressant. In Übereinkunft mit den Rentnern haben sie Anpassungen vorgenommen. Josef Bachmann, der Geschäftsführer der PwC-Pensionskassen, hat praktisch mit jedem Rentner gesprochen und die Situation erklärt: die Jungen finanzieren die Alten. Das wollen die Alten nämlich selbst nicht – und sie haben eingewilligt, die Vorsorge im Rahmen des Möglichen zu reformieren. Reformen sind also möglich, auch im Rahmen eines Urnengangs!

Rentsch: Strukturelle Reformen wirken nicht schnell genug. Zum Beispiel die Erhöhung des Rentenalters. Das dauert lange, bis es wirkt – dafür wirkt es nachhaltig. Hingegen wirkt die Erhöhung der Mehrwertsteuer sofort – und darauf dürfte am Ende die ganze Diskussion hinauslaufen, wenn wir ehrlich sind: wir erhöhen die Mehrwertsteuer um ein paar weitere Prozente, um die Vorsorge zu sanieren. Und haben wieder Ruhe für ein paar Jahre.

Stichwort Rentenalter, das kommt mir sehr gelegen: Ich arbeite gerne bis 70, wenn ich fit bin. Woher kommt diese Fetischisierung des Rentenalters 65? Wir leben doch nicht mehr zu Bismarcks Zeiten.

Bianchi: Diesen Fetisch gibt es nicht. Viele Leute, die vom Arbeitgeber darum gebeten werden, länger zu arbeiten, machen das ja auch jetzt schon. Die Normalität sieht aber leider anders aus. Heute sind viele Firmen froh, wenn einer das Rentenalter erreicht und weg ist.

Zeier: Die Beschäftigungsquote der Älteren ist sehr hoch in der Schweiz. Was Sie sagen, ist reinste Panikmache. Das Problem sind doch gerade die hohen Sozialabgaben im Alter, die gesetzlich festgelegt werden – zu ihnen zählen auch jene in die berufliche Vorsorge. Wir werden bestimmt immer älter, also auch immer teurer, aber nicht unbedingt produktiver!

Rentsch: Ich bin absolut einverstanden mit Ihnen, Herr Scheu. Man muss arbeiten – und irgendwann muss man nicht mehr arbeiten: Solche politischen Vorgaben sind aus anreiztheoretischer Sicht verheerend. Eine Totalflexibilisierung der Pensionierung wäre längst fällig. Und das ist ja nun wirklich keine revolutionäre Idee.

Wollen beziehungsweise können wir uns, gut helvetisch, zum Schluss auf diesen Grundkonsens einigen: Wir brauchen mehr Transparenz und mehr Aufklärung, damit die Versicherten sich für ihre Vorsorgegelder zu interessieren beginnen?

Bianchi: Etwas mehr Gelassenheit rund um die Altersvorsorge würde allen involvierten Parteien gut anstehen. Die Leute wollen in erster Linie ein Rentensystem, das ihnen im Alter ein anständiges Leben ermöglicht, ohne ständig optimieren zu müssen.

Rentsch: Falsch! Da haut es mir den Nuggi raus. Das System ist intransparent und bürokratisch. Darum kann man es den Leuten nicht zum Vorwurf machen, dass sie so wenig über ihre eigentliche Vorsorge wissen. Und ganz klar: die Leute haben sich zu sehr an den Status quo gewöhnt. Sie sind konditioniert. Sie können sich einen solchen Wechsel zu einem freiheitlichen System nicht vorstellen. Ich würde es so sagen: alles scheint wunderbar – bis es irgendwann nicht mehr wunderbar läuft. Dann heulen alle auf.

Zeier: Ich sage Ihnen: unter den Jungen regt sich Widerstand. Machen Sie sich in den kommenden Jahren darauf gefasst!

Ich höre, da will sich jemand aus dem Publikum zu Wort melden. Nur zu!

Publikum: Wir haben jetzt fast nur über Technizitäten zur 2. Säule geredet, gar nicht aber über die 1. Säule, wo die wirklichen Probleme drohen. Also auch nicht über die absehbar immer stärker werdende Umverteilung – da werden immer mehr Milliarden fliessen in den kommenden Jahren. Wie sehen Sie als Podium hier die Möglichkeiten, um aus diesem Teufelskreis hinauszukommen?

Bianchi: Die Zukunft der Altersvorsorge liegt in der Stärkung der AHV. Aktuell sind wir in einem umlagefinanzierten System wesentlich leistungsfähiger unterwegs als in der 2. Säule. Die AHV entwickelt sich, allen Unkenrufen zum Trotz, solide. Laut Couchepins früheren Prophezeiungen wäre die AHV heute bankrott. Ist sie aber nicht, denn sie schreibt schwarze Zahlen. Sie wird auch nicht bankrottgehen, wenn die Babyboomer dran sind. Da ist eine Zusatzfinanzierung über die AHV eine vertretbare Option. Die Alternative wäre es, alles privat anzusparen. Das machen die Leute aber nicht mit, da die Erträge so gering sind. Da ist eine solidarische Umlagefinanzierung weit, weit effizienter.

Rentsch: Wir haben uns bei der Analyse der Probleme der AHV nur zeitlich getäuscht. Die Probleme kommen. Die sind nicht zu vermeiden. Bisher war es leicht zu sagen, das wären alles Kassandrarufe von Bürgerlichen. Gerade jetzt hat man in der Zeitung lesen können, dass die Ausgaben höher waren als die Einnahmen. Warum hat sich die Prognose im Timing so verschoben? Wegen der Immigration, das ist ganz klar. Wenn man davor die Augen verschliesst, ist das reine Politik, weil man weiss, man kommt damit an bei den Leuten. Die Probleme sind ungelöst. Auch die Berset-Revision wird sie nicht nachhaltig lösen, weil wir nicht bereit sind, ein versicherungsmathematisch vernünftiges System einzuführen. Lieber wollen wir es politisiert lassen, mit einer Art Leistungsprimat. Ich sehe schwarz.

Herr Zeier, sagen Sie etwas Positives!

Zeier: Also ich sehe auch schwarz. Die «Altersvorsorge 2020»-Reform ist für mich frustrierend. Sie zeigt, wie verkorkst die Situation ist. Man versucht es allen Seiten recht zu machen. Kaum ist die Reform draussen, kommen die Gegner und sagen, 65/65 sei unannehmbar, und schon schlagen sich alle die Köpfe ein. Vor sechs Jahren haben wir den Generationendialog gegründet, einen bürgerlichen Schulterschluss von Junger CVP, den Jungfreisinnigen und der Jungen SVP. Auf bürgerlicher Seite gibt es eine Generation, die diese Probleme erkennt. Der Generationendialog setzt sich für Entpolitisierungsforderungen ein. Ich würde niemals sagen, dass ein System funktioniert, um dann am Ende doch eine Mehrwertsteuerfinanzierung zu verlangen. Das ist unehrlich und bedeutet, die Leute für nicht voll zu nehmen!

Marco Betti, wie wird sich der Altersvorsorgediskurs in den kommenden Jahrzehnten entwickeln? Werden wir ewig weiter-diskutieren – oder machen wir Nägel mit Köpfen?

Betti: Was ich mir erhoffe, ist, dass das Volk nicht permanent angelogen wird. Eine Pensionskasse rechnet heute im Schnitt mit einem technischen Zins von etwa drei Prozent. Das bedeutet, dass die Passiven zu rund vierzig Prozent unterschätzt werden, und zwar absichtlich. Auf den Aktiven hat man einen impliziten Zins von null oder minus eins und rechnet in grösster Ruhe mit einem ganz anderen, imaginären Zins. In der Industrie würde jeder, der ein solches Testat abgibt, ins Gefängnis wandern. In der PK-Welt ist es zulässig.

Frau Bianchi würde jetzt sagen, die Verhältnisse könnten sich auch wieder ändern, damit auch das Zinsumfeld – und damit auch der technische Zins.

Betti: Wir haben seit zwanzig Jahren einen zu hohen technischen Zins. 1985 war das alles im Gleichgewicht. Seit 1996 ist dies nicht mehr der Fall. Wir haben längst griechische Verhältnisse. Das Publikum wird aber nicht aufgeklärt – es gilt als politisch nicht opportun. Es bräuchte nur ein paar kleine Änderungen. Beispielsweise muss man Kassen zulassen, die nur für Rentner sind. Man wird dann feststellen, dass ein Umwandlungssatz von 6 Prozent nicht finanzierbar ist. Er muss dann um die 4 Prozent sein. Wenn wir nichts tun, werden die nötigen Änderungen über Nacht kommen müssen – und dann wird es richtig unangenehm.

Bianchi: Ich stelle fest, dass man nach der jahrelangen Schwarzmalerei in der AHV nun schwarz malt bei der beruflichen Vorsorge. Das nehmen die Leute einem nie und nimmer ab!

Betti: Sie wissen doch ganz genau, was eine Barwertrechnung ist, Frau Bianchi.

Bianchi: Natürlich, aber das ist eine Zahlenspielerei, die letztlich einen bestimmten Zweck verfolgt. Die Absicht hinter dieser Schwarzmalerei ist, dass die Leute privat ansparen, dass sie ihr Geld zu Bank und Versicherungen bringen.

Betti: Nein! Ich möchte nur Transparenz haben und freie Wahl.

Zeier: Genau. Nur das. So etwas ist doch keine Hexerei, es geht nur um die freie BVG-Wahl! 

Bianchi: Ich staune, dass auch junge Politiker immer wieder solche alten Kalauer bringen.

Zeier: Das ist doch kein alter Kalauer! Die besten Kalauer kommen ohnehin von den Linken, das muss man ihnen lassen.

Bianchi: Seit 1975 ist die freie Pensionskassenwahl immer wieder Thema. Der Bundesrat hat zig Berichte dazu geschrieben. Wir haben schon eine freie Wahl im Krankenkassenbereich. Ich glaube kaum, dass Lösungen auf Krankenkassenniveau sinnvoll sind bei den PK.

Zeier: Aber das ist doch ein interessantes Beispiel, denn gerade bei den Krankenkassen wird die freie Wahl ja auch immer wieder bestätigt an der Urne.

Betti: Es geht um eine kleine Änderung. Wenn ich bei einem alten Arbeitgeber aufhöre und bei einem neuen beginne, muss ich die Wahl haben, ob ich in der neuen oder in der alten Kasse einzahlen will. Diese kleine Wahl wird alles verändern.


Doris Bianchi
ist promovierte Juristin, stellvertretende Sekretariatsleiterin Schweizerischer Gewerkschaftsbund; Schwerpunkt Sozialpolitik und Sozialversicherungen.


Hans Rentsch
ist promovierter Ökonom, freier Wirtschaftspublizist und Autor diverser wirtschaftspolitischer Publikationen für Avenir Suisse.


Maurus Zeier
ist Betriebsökonom und Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz.


Marco Betti
ist Pensionskassenspezialist.


René Scheu
ist Herausgeber und Chefredaktor des «Schweizer Monats».

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