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Zuwanderung von innen

Die massive Zuwanderung der letzten Jahre ist vor allem eine Folge der Nachfrage nach Arbeitskräften. Aber Arbeitskraftreserven finden sich auch bei uns. Die neuen Alten wären arbeitswillig, liesse man sie nur arbeiten. Eine personalpolitische Selbstversorgung der Schweiz ist möglich. Eine Handreichung zum Wahlherbst.

Wenn man fragt, welche Beschaffenheit die Bevölkerungsstruktur in ihren zahllosen Metamorphosen erreicht hat, könnte man von einer Entpyramidisierung und Beruhigung reden. Wie immer Politiker und Bevölkerungswissenschafter diese Gestalt als «verkorkst» oder gar «krank» titulieren, sie ist das konsequente Ergebnis einer offenen freiheitlichen Gesellschaft, deren Bürger nicht nur ihren Arbeitsplatz und ihren Ehepartner frei wählen können, sondern auch, wie viele Kinder sie haben wollen.

Vertikales Wachstum

Genauer besehen ist die Struktur einerseits das Ergebnis tiefer Geburtenraten, andererseits einer hohen und immer noch steigenden Lebenserwartung. Innerhalb eines Jahrhunderts haben die europäischen Gesellschaften im Durchschnitt zwei bis drei Jahrzehnte an Leben gewonnen. Die gewonnenen Jahre werden in der gegenwärtigen bevölkerungspolitischen Diskussion wenn nicht unter apokalyptischen, so doch einseitig unter rententechnischen und medizinischen Gesichtspunkten behandelt. Dass dadurch die Zahl der Menschen nicht wächst, aber die Zahl der verfügbaren Jahre, die ein Mensch und damit die Gesellschaft insgesamt zur Verfügung haben, bleibt im Schatten.

Die europäischen Bevölkerungen wachsen nicht mehr über ihre schiere Zahl, sondern über den Zugewinn an Lebensjahren. Es ist schon beunruhigend, in welch platter Form das Wachstum unserer Bevölkerung als allein zahlenmässiges Wachstum gesehen und kommentiert wird. In der Diskussion über verdichtetes Bauen steht das Höhenwachstum schon lange in Konkurrenz zum Breitenwachstum. Mit dem Gewinn an Stockwerken spart man Einfamilienhäuser und gewinnt Raum für Grünanlagen und Spielwiesen.

Das Wachstum der Lebenserwartung mit dem Zuwachs an nutzbaren Jahren kann das quantitative Wachstum einer Bevölkerung ebenfalls kompensieren. Zwanzig Personen, die durchschnittlich achtzig Jahre alt werden, verfügen über die gleiche, ja wenn man das Kinder- und Jugendalter miteinbezieht, über die höhere Anzahl an wirtschaftlich nutzbaren Jahren. Aber diese werden nicht genutzt.

 

Starre Erwerbswirtschaft

Der epochale Wandel von einem Breiten- zu einem Höhenwachstum hat keinerlei Wirkungen auf die Pensionierungsgrenzen gezeitigt. Das Erwerbsleben ist seltsam starr geblieben und hat nur schwach auf die Metamorphose der Bevölkerung reagiert. Auch die Kulturphilosophen und Bevölkerungswissenschafter lösen sich nur schwer aus einem wachstumsorientierten Denkgatter, das jede Art von Schrumpfen und namentlich jenes von Bevölkerungen als eine veritable Katastrophe hinstellt. Und unterschlagen, dass Wachstum auch an Lebensjahren erfolgt und damit Lebens- und Erwerbszeit verlängert werden.

Die demographische Evolution, die sich überall in gleicher Abfolge von einer Bevölkerung mit hoher Geburtenzahl und niedriger Lebenserwartung zu einer solchen mit niedriger Geburtenzahl und hoher Lebenserwartung entwickelt, ist keineswegs die Schwundstufe einer nicht mehr lebensfähigen, zum Aussterben verurteilten Kultur. Es ist erfreulich, dass unterdessen selbst Akteure des jährlich an der Universität St. Gallen stattfindenden Weltkongresses für Demographie & Generationen die europäischen Länder nicht mehr mit einer Zipfelmütze ausstatten und die pyramidalen, bei genauerer Betrachtung mörderischen Strukturen der arabischen und anderen nichtwestlichen Länder glorifizieren. Hätten die Schweizer in den letzten Jahrzehnten im Durchschnitt 5-Kinder-Familien gehabt, hätte unser Land vielleicht 20 Millionen Einwohner, und der Druck der nachkommenden Generationen wäre unerträglich. Die enormen Geburtenraten arabischer und anderer nichtwestlicher Länder sind im übrigen nicht nur Ursache von Auswanderung, sondern auch von Gewalt, Krieg und Terrorismus.

 

Zuwanderung von innen

In einem neuen Licht lässt sich insbesondere die Zuwanderungsdebatte sehen. Die Einwohnerzahl der Schweiz wächst gegenwärtig Jahr für Jahr um die Grösse der Stadt St. Gallen. Die Schweiz platzt deswegen nicht, aber es entstehen ihr ernste Probleme. Dass die Zuwanderung die Zersiedelung beschleunige, die Mieten erhöhe und die Verkehrssysteme an den Anschlag bringe, ist, obwohl nicht unwidersprochen, evident. Unerfreulicher noch ist freilich die aufkommende fremdenfeindliche Stimmung. Die Vorstellung, dass auf dieser Erde mehr als tausendmal mehr Ausländer leben als Schweizer und diese angesichts der hierzulande paradiesischen Verhältnisse in unsere Heimat einsickern, lässt die Schweizer zusammenrücken. Die hängigen Initiativen des Vereines Ecopop und der Schweizerischen Volkspartei (SVP) zur Begrenzung der Zuwanderung sind ernstzunehmende Antworten auf die entstandenen Ängste der Bürger. Aber die Antworten entbehren einer lösungsorientierten Denkweise für die Wirtschaft.

Die wirtschaftsfreundlichen Befürworter der Zuwanderung begründen diese mit dem sonst fehlenden Wirtschaftswachstum, dem mit eigenen Ressourcen nicht zu befriedigenden Arbeitskräftemangel und der künftigen Unfinanzierbarkeit der Sozialwerke. Zuwanderung muss in den Augen fast aller Parteien, Verbände, Ökonomen und Denkfabriken aus diesem Grunde sein. Angesichts der gewonnenen Jahre und einer Erwerbsquote von nicht einmal mehr 50 Prozent der 60- bis 65-Jährigen (und weniger als 5 Prozent der Pensionierten!) kann man das anders sehen. Bezieht man das vertikale Wachstum der Gesellschaft und die dadurch entstehenden Arbeitskraftreserven mit ein, lässt sich eine Alternative zur Zuwanderung formulieren. Die Zuwanderung käme von innen, aus dem Inneren der Gesellschaft und würde sich statt auf die quan-titative Zuwanderung auf den qualitativen Zuwachs an Lebens-jahren in der Schweiz konzentrieren und diesen gleichsam erwerbswirtschaftlich abschöpfen. In der Diskussion um den Agrarfreihandel lässt sich Ähnliches über nicht genutzte inländische Böden vernehmen. Im Unterschied zur Landwirtschaft aber, wo Importe dann sinnvoll sind, wenn dafür Güter exportiert werden, die im Exportland fehlen, sind in der Schweiz Arbeitskräfte bei konsequenter Nutzung brachliegender Ressourcen keine Mangel-ware.

Moderne freiheitliche Gesellschaften wachsen also in die Höhe und nicht in die Breite. Sie wachsen an Lebensjahren. Jahr für Jahr fallen in der Schweiz etwa hunderttausend, in Deutschland etwa eine Million, in Europa vielleicht zehn Millionen Menschen, die dieses Wachstum durch ihren Lebenswillen und Lebensstil befördern, samt ihren Erfahrungen und ihrem Können ins Antiquariat. Viele von ihnen sind erwerbswillig und erwerbsfähig. Und zwar nicht nur als Abstauber von Sonnenstoren oder Strassenfeger. Natürlich lassen sich Arbeitskräfte aus dem Ausland importieren. Aber wir verfügen in der Schweiz über genügend Arbeitskraft, um Selbstversorgung zu praktizieren. Im Inneren der Gesellschaft ist gerade mit den neuen Alten eine extrem belastbare und kenntnisreiche Klasse von Frühpensionierten und (zu früh) Pensionierten entstanden, deren Potential derzeit für die Erwerbswirtschaft verlorengeht. Was wir brauchen, ist eine Personenfreizügigkeit für die erwerbswilligen und  -fähigen Älteren.

Insofern von den 55- bis 65-Jährigen in der Schweiz über 30 Prozent nicht mehr im Berufsleben stehen, wäre schon mit einer Wiedereingliederung der Zwangspensionierten die Zuwanderung bei weitem kompensiert. Was die Sozialwerke betrifft, hätte eine Öffnung der Lebensarbeitszeit nach oben nur Vorteile. Auch für die Jungen bedeutete eine innere Zuwanderung zum Arbeitsmarkt eine Minderbelastung. Einmal abgesehen davon, dass ja nicht die Jungen für die Alten zahlen, sondern die Erwerbstätigen für die Nichterwerbstätigen, und dazu gehören alle Jungen in Ausbildung. Natürlich treten im Detail Fragen wie jene der mit dem Alter steigenden Löhne und Abgaben für die Unternehmen auf. Sie dürften aber mehr als aufgewogen werden durch die Tatsache, dass Schweizer Arbeitnehmer in der Regel gut ausgebildet sind und die einheimischen Verhältnisse kennen.

 

Kundennutzen

Gerne wird in der Managementliteratur betont, dass der Kunde König, der Existenzgrund jeder Unternehmung und genau besehen der Arbeitgeber aller Arbeitgeber sei. Aber leider sei er ein unbekanntes Wesen. Der König Kunde ist freilich nicht von einem anderen Stern zu uns herabgefallen. Vergessen wird, dass der Kunde nicht nur weiblicher und intelligenter, sondern auch älter wird.

Vom Friseur über den Akustiker und Fitnesstrainer bis zum Bankberater: endlos ist die Liste der beruflichen Tätigkeiten, wo eine Harmonisierung von Kunde und Anbieter ansteht. Und von der Touristik- bis zur Lebensmittelindustrie, vom Sicherheitsgewerbe bis zu den öffentlichen Anstalten und Spitälern, endlos ist die Liste der Wirtschaftsbereiche, die händeringend Nachwuchs aus dem Ausland zu rekrutieren versuchen, statt sich auf die inländischen Reserven bei den weiterhin erwerbswilligen und erwerbsfähigen neuen Alten zu besinnen.

Dass der Bankensektor mit der Einführung der Personenfreizügigkeit sein Personal aus einem grösseren Pool rekrutieren kann, wir glauben es. Aber der zu kleine inländische Arbeitsmarkt liesse sich, wenn auch über 60- und auch über 65-Jährige in ihm Platz hätten, bequem vergrössern. Und dass bei 800 im Kanton Zürich als arbeitslos gemeldeten Informatikern Anstellungen aus dem Ausland zwingend sind, wir nehmen es zur Kenntnis. Jedenfalls bietet die Zuwanderungsdebatte die Möglichkeit, über eine ungenutzte Ressource moderner Gesellschaften nachzudenken, deren Bevölkerungen alt und älter werden, deren Alter indes nicht mehr das Alter von früher ist, sondern eine Ressource, deren Potential nicht, noch nicht genutzt wird. Und als Alternative zur Einwanderung befremdlicherweise nicht bedacht ist.

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