Zurück in die Zukunft
Der digitale Wandel bedroht die Erfolgreichen und fordert Mut zum Risiko.
Im Jahre 2009 gründet der in der Ukraine aufgewachsene Jan Koum in Kalifornien den Textnachrichtendienst WhatsApp. Bereits fünf Jahre später verkaufen Koum und seine fünfzig Mitarbeiter das Unternehmen für 19 Milliarden Dollar an Facebook. Heute bedient WhatsApp über eine Milliarde Nutzer, die täglich 42 Milliarden Nachrichten und 1,6 Milliarden Fotos versenden. Dies auf Kosten der von den europäischen Telekommunikationsunternehmen entwickelten SMS-Dienste. Der digitale Wandel verläuft atemberaubend schnell, WhatsApp ist nur ein Beispiel für die grosse Wucht, die ganze Branchen fast über Nacht umzupflügen vermag. Kommt ein technisch und preislich überlegenes Angebot auf den Markt, reagieren die Kunden unmittelbar. Daran ändern weder patriotische Gefühle noch nostalgische Befindlichkeiten etwas.
Die werden dafür umso mehr im öffentlichen und politischen Raum ausgelebt: Immer wieder sperren wir uns in der Schweiz gegen den Wandel. Als Konsumenten nutzen wir gerne die Möglichkeiten des weltweiten Online-Shoppings. Wir verlinken uns über Facebook und suchen unsere Informationen auf Google. Als Stimmbürger dagegen fordern wir einen starken Service public, flankierende Massnahmen und Zollschutz für die Landwirtschaft. Alles soll so bleiben, wie es in der angeblich guten alten Zeit war. Protektionismus gedeiht links wie rechts. Die einen wollen keine fremden Arbeitnehmer, die anderen keine fremden Investoren. Langfristig positive Trends werden so von immer mehr subjektiven Abstiegsängsten überlagert, weil liebgewonnene Sicherheiten bröckeln.
Erfolg macht träge
Veränderungen bedrohen Besitzstände. Es ist einfacher und vor allem auf kurze Frist renditeträchtiger, Bewährtes zu optimieren, statt Neues zu riskieren. Kleine, homogene und gut organisierte Interessengruppen verteidigen ihre Privilegien. Dadurch steigt die Regulierungsdichte, was wiederum die gesamte Wirtschaft belastet. Ein Beispiel: Der Landesmantelvertrag, geschlossen zwischen dem Baumeisterverband und den Gewerkschaften, reguliert auf nicht weniger als 178 Seiten die Arbeit im Baugewerbe. Von der Arbeit in Wasser und Schlamm, der Distanz zwischen einer Baustelle und der nächstgelegenen Telefonkabine bis zur Zahl an WC-Anlagen. Auch in zahlreichen anderen Branchen der analogen Arbeitswelt streiten Regierungen, Parlamente und Sozialpartner über Einzelfragen.
Während sie sich mit Details aufhalten, bricht die Digitalisierung den Arbeitsmarkt auf. Im Büro eines Beratungsunternehmens an der Brühlgasse in St. Gallen, dies nur eines von vielen Beispielen, wird der Drucker nicht mehr vom lokalen EDV-Spezialisten, sondern via Skype und TeamViewer mit der Unterstützung eines Fachmannes aus Indien installiert.
Besonders die Erfolgreichen sind angesichts des digitalen Umbruchs gefährdet. Ihnen fällt es am schwersten, Veränderungen zuzulassen. Der Erfolg macht sie träge, satt und selbstverliebt. Zu leicht verdrängen sie das Entscheidende: Ein Strukturwandel ist kein Gewitter, sondern ein Tsunami. Der Auslöser der Erschütterung – hier ein Erdbeben, dort ein technologischer Paradigmenwechsel – führt vorerst lediglich zu kleinen Wellen. Treffen diese aber auf die Küste, entwickeln sie enorme Kräfte. Wer die Zeichen des anbrechenden Sturms nicht erkennen will und die geringe Wellenhöhe auf offener See mit Ruhe verwechselt, hat verloren.
Der Wohlstand der Nationen
Die Erfahrung lehrt, dass Gesellschaften dann am erfolgreichsten sind, wenn die politische, die wirtschaftliche und die technologische Entwicklung miteinander Schritt halten. So war dies in den Jahrzehnten nach der Gründung der modernen Schweiz oder im Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute entwickeln sich die verschiedenen Sphären hingegen zunehmend auseinander. Die Wirtschaft verabschiedet sich vom politischen Tagesgeschäft. Die Verwaltung verselbständigt sich. Die Parteien am linken und rechten Pol spielen gleichzeitig Regierung und Opposition. Unheilige Allianzen der Polparteien verhindern Reformen, wie beispielsweise die AHV-Revision oder die Armeereform. Volksinitiativen von links bis rechts werden immer extremer, der Ton gehässiger. Diese Symptome weisen auf eine Ursache hin, die weit über parteipolitische Auseinandersetzungen und konjunkturelle Krisen hinausgeht.
Es geht um Grundlegendes: Die Spielregeln von Politik und Wirtschaft werden neu definiert. Es handelt sich um eine Veränderung historischen Ausmasses, vielleicht vergleichbar mit der Industrialisierung, dem Übergang von der agrarischen zur industriellen Produktionsweise. Damals lösten technische Errungenschaften wie die Dampfmaschine, die Elektrizität und der Verbrennungsmotor den einzelnen Handwerker als Wirtschaftsfaktor ab. Im 19. Jahrhundert explodierte der Unternehmergeist. Mit der Massenproduktion begann sich der wirtschaftliche Erfolg über Grenzkosten und intelligente Wertschöpfungsketten zu definieren. Dank der Arbeitsteilung nahm der Wohlstand der Nationen zu. Effizienz wurde zum zentralen Prinzip: straffe Regeln, Normen, Standards. Die Organisation war hierarchisch, zentral geführt, von Experten geprägt. Es galt: Masse ist Macht und «form follows function». Prinzipien, die sich auch in den staatlichen Institutionen durchsetzen. Die grossen Flächenstaaten, das Prinzip der nationalen Souveränität, der föderale Staatsaufbau, die Macht der Bürokratie, der vorsorgende Wohlfahrtsstaat, das Konkordanzprinzip, die Sozialpartnerschaft, der Service public – dies alles sind institutionelle Antworten auf die Herausforderungen der Industriegesellschaft. Diese Antworten fallen jedoch zunehmend aus der Zeit. Es wird uns nicht gelingen, mit dem Werkzeugkasten des 19. Jahrhunderts und den Methoden des 20. Jahrhunderts die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen. Wie also könnten wir uns rüsten für die Zukunft?
Digitale Revolution
Niemand weiss, wie sich die Gesellschaft durch die Digitalisierung noch verändern wird. Eines aber ist klar: Der Wandel wird fundamental sein. Wir erleben gerade den Übergang von der analogen Welt des Buchdrucks, der «Gutenberg-Galaxis», zu einer Welt digitaler Informations- und Kommunikationssysteme. Die Maschinen der industriellen Revolution automatisierten die körperliche Arbeit. Heute assistieren Algorithmen den Menschen beim Denken. Sie klassifizieren Informationen, stellen diese neu zusammen und verarbeiten eigenständig Daten und Fakten. Digitalisierte Informationen sind keine knappe Ressource, sondern jederzeit und überall verfügbar. Entsprechend verlieren Grenzkosten an Bedeutung, der Transaktionsaufwand tendiert gegen null. Netzwerkeffekte ersetzen Skaleneffekte. Mit der Zahl der beteiligten Systeme wächst die Komplexität. Diese Komplexität ist nicht das Problem einer globalisierten Gesellschaft, sondern ihr Wesen und ist weder zu beherrschen noch durch Vereinfachung in den Griff zu bekommen. Die globale Wirtschaft ist ein intuitives Konzept, das sich von unten nach oben entwickelt und sich seine eigene spontane Ordnung schafft. Es geht nicht länger um Unterordnung und Kontrolle. Zentrale Systeme werden durch ihr Gegenteil ersetzt; eine extreme Dezentralisierung findet statt. Der Wandel verläuft dabei alles andere als linear und schmerzfrei. Rückschläge, Fehlentwicklungen, der Missbrauch von Informationen und Macht gehören auch in digitalen Netzwerken zum Alltag. An der Marschrichtung ändert das jedoch nichts. Wir werden politisch darauf reagieren müssen.
Der Staat im dritten Jahrtausend
Das Auseinanderdriften der wirtschaftlichen und der politischen Entwicklung führt zu Wohlstandsverlusten. Das schwache Wachstum, die hohe Arbeitslosigkeit und die überschuldeten Haushalte vieler westlicher Staaten sind die sichtbaren Folgen von politischen Systemen, die es verpasst haben, ihr Koordinatensystem den Spielregeln einer globalisierten und digitalisierten Welt anzupassen.
Keine Regierung ist in der Lage, die sich rasch wandelnden Regeln und Muster einer digitalisierten Welt zu erfassen und der zunehmenden Komplexität gerecht zu werden. Denn globale Systeme kann man nicht zentral steuern. Hierarchisch organisierte Strukturen müssen scheitern. Die traditionelle staatliche Macht verlagert sich zu informellen Netzwerken, losen Bündnissen und zum einzelnen. Das vertikale Machtgefüge weicht Netzwerkstrukturen, in denen nicht jeder gleich, aber alle gleichwertig sind. Wie vom Psychologen Peter Kruse bei einer öffentlichen Anhörung im Jahre 2010 im Deutschen Bundestag vorgetragen, sitzt in einer digital vernetzten Gesellschaft die Macht beim Nachfrager: beim starken Kunden, dem starken Mitarbeiter und dem starken Bürger. Nicht nur Unternehmen, sondern auch die Politik werden gezwungen sein, ihre Wortmeldungen ernst zu nehmen. Mit anderen Worten: Eine neue Zeit verlangt nach anderen politischen Institutionen.
Mehr Vielfalt, weniger Politik
Der wirtschaftliche Wandel ist ein offener, historischer Prozess. Er folgt keiner Logik. Sicher ist einzig, dass es kein Zurück gibt. Zukunftstaugliche politische Institutionen orientieren sich in ihren Entscheidungsmustern nicht länger an den Erfahrungen der Industriegesellschaft, sondern an den Spielregeln einer globalisierten und digitalisierten Welt. Und dies in zweifacher Hinsicht: In erster Linie gilt es zu akzeptieren, dass der nationalstaatliche Handlungsspielraum kleiner wird. Die Antwort auf diese Herausforderung liegt jedoch nicht darin, neue Superstaaten wie die Europäische Union zu schaffen oder gar von einer Weltregierung zu träumen. Der Versuch, nationalstaatliche Strukturen auf eine nächsthöhere Ebene zu transferieren, ist in einer entgrenzten Welt zum Scheitern verurteilt. Es geht nicht um die Etablierung eines universellen, homogenen Weltstaates, sondern um die Entwicklung globaler Netzwerke, die verschiedene Räume gleich einem Verkehrsnetz miteinander verbinden. Die Zukunft braucht nicht mehr politische Kontrolle, sondern eine höhere Akzeptanz der Vielfalt an Bedürfnissen und Lebensentwürfen. Vielfalt lässt sich nicht zentral verwalten.
Als Gemeinwesen müssen wir uns zweitens von der Vorstellung verabschieden, dass es auf unsere gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen eine einzige, für alle verbindliche und mit staatlicher Gewalt durchzusetzende Lösung gibt. Das traditionelle rechtsstaatliche Gemenge von Verfassung, Gesetzen, Verordnungen, Reglementen, Kontrolle und Bestrafung vermag die Wirklichkeit nicht länger zu organisieren. Sie ist zu komplex geworden. Der traditionelle Gesetzgebungsprozess kann mit der hohen Geschwindigkeit der Veränderungen nicht mehr mithalten. Baugesetzrevisionen, die über zehn Jahre vorbereitet werden, oder eine Energiewende, die den Energiemix im Jahre 2050 vordefiniert, werden sich als Rohrkrepierer herausstellen. Das Modell des 21. Jahrhunderts ist nicht die Verkehrsampel, die von Spezialisten programmiert wird, in fixen Zeitabständen von Grün auf Rot umschaltet und definiert, wer sich wann bewegen darf. Die Zukunft gehört dem Kreisel. Die Allgemeinheit baut die Strassen und legt die Spielregeln fest. Der Entscheid jedoch, wer wann und wie schnell losfährt und wer stoppt, liegt in der Verantwortung jedes einzelnen. In der Summe sind zahllose Einzelentscheidungen jeder zentralen Steuerung überlegen.
Après moi le déluge?
Leider besteht wenig Hoffnung, dass sich das politische System aus eigener Kraft verändern wird. Wähleranteile gewinnt man nicht mit einer langfristig orientierten Politik, sondern indem man in der Gegenwart Wahlgeschenke verteilt. Geschenke, die vor allem die erhalten, die beispielsweise als Rentner oder Landwirte bereits heute vom Status quo profitieren. Wer hat, dem wird gegeben. Sollen wir also auf die Zukunft pfeifen und uns wie Dürrenmatts «Romulus der Grosse» auf unseren Landsitz zurückziehen, Hühner züchten und Spargelwein trinken? Sollen wir uns gar darauf verlegen, erst einmal für uns selbst zu schauen und eine hohe Rente auf Kosten kommender Generationen zu beziehen, gemäss dem Motto «Après moi le déluge»? Sicher nicht. Es lohnt sich, selbst aktiv zu werden. Denn jeder Wandel schafft auch Chancen, insbesondere für Querdenker und Individualisten. In Zeiten der Veränderung spielt die Musik nicht in den Salons der Etablierten. Auch in der Industriegeschichte waren es immer wieder Einwanderer, die Neues wagten, man denke nur an Henri Nestlé oder Nicolas Hayek. Es war gerade ihre Distanz zur politischen und gesellschaftlichen Elite, die es ihnen erlaubte, Bestehendes in Frage zu stellen. Heute ist es die durch und durch multikulturelle Gesellschaft des Silicon Valley, die mit disruptiven Geschäftsmodellen die Welt bewegt.
Verknüpfung privater Interessen
Obwohl wir uns erst am Anfang der digitalen Transformation befinden, lässt sich bereits absehen, in welche Richtung wir unterwegs sind. Dank den Kundenbewertungen in Tripadvisor finden wir ein kleines Boutiquehotel in Bordeaux, das wir sonst kaum entdeckt hätten. Uber macht aus Privatpersonen Taxiunternehmer und mit Airbnb buchen wir Gästezimmer in privaten Haushalten. Dies alles im Sinne einer direkten Verknüpfung privater Interessen und unter Ausschluss staatlich geschützter Monopole und Kontrollinstanzen. Wunderbar. Die eigene Entscheidungsfähigkeit, die eigenen Kompetenzen und der eigene Mut zum Risiko melden sich damit zurück. Daran werden mittelfristig auch die Proteste der Nutzniesser staatlicher Sicherheitsversprechen nichts ändern. Eine Wertschöpfung, die es aus technischen Gründen nicht mehr braucht, ist keine Wertschöpfung mehr und wird überflüssig. Die digitale Zukunft gehört Menschen, die in der Lage sind, ihre Dinge selbst zu regeln. Dieser Aufbruch der einzelnen wird irgendwann auch die Politik verändern, ob ihren Akteuren das passt oder nicht. Das Delegieren von Verantwortung und Entscheidungen an das Kollektiv funktioniert nicht mehr, weil das Kollektiv nicht mehr funktioniert. Heute geht es darum, Eigeninitiative und Selbstverantwortung zu stärken. Und dies nicht mit Präventions- und Sensibilisierungskampagnen, mit Quotenregelungen und flankierenden Massnahmen, sondern mit Systemen, die den einzelnen in die Verantwortung nehmen.
Weiterführende Lektüre
Mercedes Benz: Die stille Revolution. Berlin: Suhrkamp Verlag , 2012.
Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein: Der Staat im dritten Jahrtausend. Bern: Stämpfli Verlag AG, 2010.
Hans Ulrich Gumbrecht: Umwertung der Wirtschaftswerte. In: NZZ, 6.2.2016.
Jürgen Habermas: Der europäische Nationalstaat unter dem Druck der Globalisierung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 44 (1999), H. 4, S. 425 – 436.
Konrad Hummler: Blockchain: wie explosiv? Bergsicht, Ausgabe 17, Januar 2016.
Christoph Keese: Silicon Valley. München, Albrecht-Knaus-Verlag, 2014.
Stanley McChrystal: Die Welt aus dem Gleichgewicht. In: Notenstein Gespräch, Juni 2014.
Ota Šik, René Höltschi, Christian Rockstroh: Wachstum und Krisen. Berlin/Heidelberg, Springer-Verlag, 1988.
Gunther Teubner. Polykorporatismus: Der Staat als «Netzwerk» öffentlicher und privater Kollektivakteure. In: Peter Niesen und Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Das Recht der Republik: Festschrift Ingeborg Maus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999.