Zurück in die Spur?
Liberal sein will in Europa fast jeder. Sich liberal nennende Parteien wählt in Deutschland aber fast keiner: Vor zwei Jahren flog die FDP aus dem Bundestag. Nun wittert sie wieder Morgenluft. Hat sich seit 2013 aber wirklich etwas verändert?
Herr Lindner, beginnen wir dieses Gespräch ganz harmlos: Als ich vor einiger Zeit auf meine Facebook-Pinnwand geschaut habe, haben da diverse Leute die sogenannte «Wutrede» verlinkt, die Ihnen im NRW-Landtag gelungen ist. Darin richteten Sie einige provokante Worte an die SPD-Fraktion, aus der verächtliche Töne zu vernehmen waren, als Sie unternehmerisches Engagement lobten. Sie warfen einigen Sozialdemokraten vor, dieses Engagement geringzuschätzen, obwohl davon das Funktionieren eines ganzen Landes abhängt. Herzlichen Glückwunsch dazu, solche Töne hört man in Deutschland in der Politik derzeit sehr selten. Warum ist das eigentlich so?
Das scheint mir Ausdruck einer Wohlstandsstarre und ferner eine Auswirkung der Finanzkrise des Jahres 2008 zu sein. Heute glauben über 80 Prozent der Deutschen, dass die Marktwirtschaft früher besser funktioniert habe. Dabei waren ausweislich der Kaufkraft und der dafür nötigen Arbeitszeit die letzten 40 Jahre für Millionen Menschen eine Erfolgsgeschichte. Mit der Finanzkrise sind diese sehr positiven Entwicklungen allerdings in den Hintergrund getreten…
Warum?
Mancher glaubt offenbar, die Marktwirtschaft sei für die Krise verantwortlich. Tatsächlich war die Finanzkrise aber ein Beispiel für das Versagen der Politik, die ja die Ordnung oder Unordnung der Wirtschaft durch Regeln prägt. Denn wenn Staaten und Banken eine falsche Allianz eingehen, weil die Politik kreditsüchtig ist, wenn deshalb Staatsanleihen risikolos in Bankbilanzen geführt werden, wenn der Staat gescheiterte Banken mit dem Geld der Steuerzahler auffängt, dann ist das nicht Marktwirtschaft, sondern ihre Perversion.
Einverstanden. Diese Allianzen gibt es und sie schaden nur einigen ganz wenigen nicht – gleichzeitig kann man aber auch die private Finanzwirtschaft nicht aus der Schusslinie nehmen. Was wäre zu tun, damit diese Allianzen künftig ausbleiben?
Haftung und Eigenverantwortung, das sind die Dinge, die man politisch an den Kapitalmärkten durchsetzen müsste, um sie effizient zu machen und zugleich ihre moralische Integrität zu verbessern. Das Faszinierende für mich ist, dass jene, die auf Kapitalmärkte schimpfen, zumeist dieselben sind, die auch mit Krediten der Kapitalmärkte ihre Wahlversprechen bezahlen wollen – auf Pump. Die Überdehnung des Wohlfahrtsstaats führt gerade zu dieser ganz engen Verbindung von Politik und Kapitalmarkt. Im Grunde muss man aus liberaler Perspektive zweierlei fordern: Erstens nur das auszugeben, was der Staat aus seinen aktuellen wie zeitnahen Einnahmen auch realistischerweise finanzieren kann. Und zweitens, Kapitalmärkte marktwirtschaftlich mit dem Haftungsprinzip zu ordnen, statt jedes Detail bürokratisch regulieren zu wollen.
Auch hier: einverstanden. Allerdings drängt sich doch mittlerweile der Eindruck auf, dass Frau Merkel Probleme eher aussitzt, als derartige Reformen auf nationaler wie europäischer Ebene anzustossen. An der Urne wird das honoriert, ihre grosse Koalition erscheint mehr oder weniger unangreifbar. Was kann denn der politische Liberalismus in dieser Konstellation überhaupt noch tun?
Es stimmt, die Bundesregierung hat erstaunlich konstante Umfragewerte. Es ist auch im historischen Vergleich nahezu einmalig, dass die politischen Verhältnisse über eine so lange Zeit gewissermassen eingefroren sind. Das lässt sich mit der besonderen Rolle erklären, die Frau Merkel auf der internationalen Bühne spielt, und bei ihrer Aussenpolitik will ich auch keine Grundsatzkritik anmelden. Ihre Versäumnisse liegen in der Innenpolitik und neuerdings auch in der Europapolitik, die in der Tat vollständig sozialdemokratisiert sind.
Konkreter, bitte.
Ich verstehe unter Sozialdemokratisierung die Überdehnung des Staats und die Unterforderung, Bevormundung und Abkassierung bis hin zum Bespitzeln des einzelnen. Millionen Menschen wollen aber Autoren ihrer eigenen Biographie sein, setzen auf wirtschaftliche Vernunft, leben mit Eigeninitiative und haben Lust auf neue Technologien. Viele von denen wählen heute aus dem Gefühl, es gebe keine Alternative, die Union – oft in schlechter Laune. Ein paar wenige sind auch zum Beispiel bei der SPD und bei den Grünen verstreut, viele sind im Lager der Nichtwähler, weil sie sagen, dass man eh nichts ändern könne. Diese Menschen will ich alle wieder hinter den Freien Demokraten versammeln.
Oppositionspolitik bietet mehr als genug Chancen zur Profilschärfung – wie gehen Sie das bei der FDP konkret an?
Durch Klarheit! Durch die Absage an jede Form von Opportunismus und Ängstlichkeit, durch das Vermeiden von rhetorischen Weichmachern. Einfach sagen, wofür wir stehen, ohne darauf zu achten, wie es bei dieser Wählergruppe oder jenem Journalisten ankommt.
Mit Verlaub: die FDP ist nicht die einzige Partei, die das von sich behauptet.
So? Wer uns nicht glaubt oder unsere Überzeugungen nicht teilt, muss uns ja nicht wählen. Ich glaube aber, dass wir hinter unserem Angebot eine grössere Zahl von Menschen versammeln können. Dann nämlich, wenn sie das Gefühl haben, dass es aus einer Grundüberzeugung kommt und dass es sich nicht um einen instrumentellen Weg handelt, um irgendwie ins Parlament zu kommen. Wir stehen für einen wohlverstandenen Individualismus. Wir wollen den einzelnen grossmachen und nicht den Staat. Deshalb geht es bei uns um beste Bildung, um Vertrauen in Eigenverantwortung und um den Schutz vor Bürokratie und Umverteilung.
Die deutschen Bürger empfanden die Politik der FDP offenbar als wenig überzeugend – seit 2013 sitzt sie nicht mehr im Bundestag. Wie gehen Sie persönlich mit dieser Situation um?
Ich bin stolz darauf, Vorsitzender der FDP zu sein, mit ihrer ganzen Geschichte, die Höhen und Tiefen hatte. Unter dem Strich bleiben die Weltintegration Deutschlands, die soziale Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit auch in der Bewährungsprobe der «Spiegel»-Affäre 1962, die neue Ostpolitik, emanzipatorische Bildungspolitik, eine gesellschaftspolitische Öffnung nach der Adenauer-Zeit, die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes, die deutsche Einheit und das Verdienst, Europa zusammengehalten zu haben, wenn ich mal 1949–2013 kurz bilanzieren darf. Das sind alles Fragen, anhand derer die FDP ihre staatspolitische Verantwortung wahrgenommen hat. Auf diese Tradition bin ich stolz und aus dieser Tradition heraus erneuern wir die Freien Demokraten.
Sie wissen das besser als ich: das Gefühl in der Öffentlichkeit ist, dass die FDP immer wieder von liberalen Idealen gesprochen hat, sie in den letzten Jahren aber selten in die Tat umsetzen konnte. Die FDP hat Steuererhöhungen und mehr Schulden mitgetragen, als sie in verschiedenen Koalitionen in der Verantwortung war. Wie kann man die Bürger davon überzeugen, dass jetzt alles anders wird?
Sie wollen offenbar mehr über Vergangenheit als über Zukunft sprechen. Dann bitte aber korrekt: Die Bilanz 2009 bis 2013 spricht aller Unvollkommenheit der FDP zum Trotz fiskalisch eine andere Sprache. Denn zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 hat die Politik am Ende einer Wahlperiode weniger Geld ausgegeben als zu Beginn. Die Ausgaben des Bundes 2013 lagen unter den Ausgaben des Jahres 2009. In anderen Worten: da ist genau das umgesetzt worden, was man landläufig unter Sparen versteht. Sparen heisst ja im normalen Leben: weniger Geld ausgeben. Damit waren bereits 2013 die finanziellen Voraussetzungen gegeben, um trotz der Ausläufer der Finanzkrise 2008 und der Eurokrise den Haushalt auszugleichen und die Bürger zu entlasten. Die grosse Koalition hat aber lieber die Rente mit 63 und andere Milliardenausgaben beschlossen.
Nicht nur der deutsche Staat hat ein Problem mit Ausgaben und Einnahmen, in der FAZ hiess es vor ein paar Monaten, dass für die FDP seit dem Verschwinden aus dem Bundestag ein grosses Problem darin bestehe, an Geld zu kommen, um überhaupt im Wahlkampf auf sich aufmerksam machen zu können…
Pardon, auch das stimmt nicht. Die FDP hat im Jahr 2013 ein Jahresdefizit von 4,5 Millionen Euro erzielt. Die neue Parteiführung erzielt aber seit 2014 einen Jahresüberschuss von 1 Million Euro. Wir werden so im Jahr 2017 als Partei ausserhalb des Deutschen Bundestags wieder ein Wahlbudget haben wie 2013 als Regierungspartei. Das halte ich für eine beachtliche Managementleistung.
Es bleibt das Imageproblem. Ich habe mir einmal angesehen, wie Sie zwischen 2009 und 2013 in wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen abgestimmt haben; da tun sich durchaus Widersprüche auf. Sie haben eben gemeint, das Haftungsprinzip müsse zurückkehren, auch wenn es um Banken geht, die ganze Wirtschaftsräume in grosse Probleme bringen. Sie haben trotzdem für den ESM gestimmt, auch für den Fiskalpakt. Wie passt das zusammen?
Die Strategie, die wir 2010 im Euroraum begonnen haben, war erfolgreich. Dass wir zeitlich befristet Rettungsschirme aufspannen, unter denen marktwirtschaftliche Reformen erfolgen können, ist offensichtlich richtig gewesen: Portugal und Irland sind dafür Beispiele, beide konnten den Rettungsschirm wieder verlassen. Das Ziel der FDP war und ist die Wiederherstellung der finanzpolitischen Eigenständigkeit der Staaten. Die Frage ist eher: Wird diese Strategie weiterverfolgt? Die Antwort ist: nein. Der Kompromiss mit der griechischen Regierung hat nur Verlierer erzeugt: Ministerpräsident Tsipras macht nun das Gegenteil dessen, wofür er beim Referendum geworben hat. Und das Paket von 80 Milliarden Euro für Griechenland wird niemals zurückgezahlt. Der Internationale Währungsfonds warnt, dass es auf Dauer keine Schuldentragfähigkeit in Athen geben werde. Wer aber einem Überschuldeten Geld gibt, schenkt es ihm in Wahrheit. Ich habe die Sorge, dass die Eurozone jetzt auf die schiefe Ebene gerät und sich in eine Transferunion wandelt. Das wird die politischen Fliehkräfte und Verteilungskonflikte binnen eines Jahrzehnts enorm verstärken.
Ist es übertrieben, wenn ich behaupte, dass mittlerweile jedem Bundestagsabgeordneten klar sein müsste, dass Griechenland auch die jüngste Aufstockung von Rettungskrediten unter den aktuellen Bedingungen nie wird bedienen können?
Das ist keine Übertreibung. Die aktuellen Warnungen etwa des IWF, der seit 2010 ja im Boot war, und zahlreicher Ökonomen belegen ja genau diese Befürchtung. Die Währungsunion ändert jetzt ihren Charakter, weil der seit 2010 beschrittene Weg verlassen wird. Das dritte Griechenlandpaket basiert zudem auf einer Beugung des europäischen Rechts. Denn Hilfen aus dem ESM sind nur zulässig, wenn die Eurozone als Ganzes in Gefahr geraten würde. Die deutsche Bundesregierung selbst hat immer wieder betont, dass das durch Griechenland nicht der Fall sei – präziser: nicht mehr. Wir erleben jetzt durch Aufweichung des Rechts die Lirafizierung des Euro. Dabei müsste gelten: keine Gefahr und keine Reformen, also kein Hilfspaket!
Schon 2010 meinten Kritiker, das sei ein Einfallstor für Misswirtschaft – einmal eingeführt, so ihre Bedenken, würden die Rettungstöpfe auch bald unbefristet genutzt. Wie könnte man denn diesen ESM nun konkret zurückfahren?
Der ESM wird dann nicht mehr benötigt, wenn Staaten wie beispielsweise Portugal aus den Rettungsschirmen ausscheiden. Das ist das Ziel dieser Institution. Wenn einzelne Staaten glauben, sie könnten diese Institution erpressen – oder Gelder einziehen, ohne Gegenleistungen zu präsentieren, muss man ihnen klarmachen, dass das nicht geht. Wer so handelt, ist besser dran mit einem befristeten Ausstieg aus dem Währungsraum.
Das ist es, was Teile der FDP, etwa der Kreis um Frank Schäffler, aber auch Teile der «Alternative für Deutschland» schon früh gefordert haben. Sie wurden damals in eine rechte Ecke gedrängt.
Nein, diese Persönlichkeiten waren prinzipiell gegen alle Rettungsschirme und gegen die neue Institution ESM. Das wäre 2010 und 2012 unverantwortlich gewesen. Man erinnere sich an die Folgen des Zusammenbruchs der Lehmann Brothers. Diese Verantwortungslosigkeit macht mich bis heute sprachlos. Damit wir in der Zukunft wieder finanzpolitische Eigenständigkeit bis zur ultima ratio der geordneten Staatsinsolvenz haben können, brauchte es Zwischenschritte. Leider wurde nach 2013 der Pfad verlassen. Die Wähler der AfD, die Union und FDP nicht mehr gewählt haben, haben übrigens mittelbar den Linksruck in Deutschland und Europa bewirkt.
Zu denen kommen wir nachher noch. Würden Sie mir aber zustimmen, wenn ich sage: Die EU erpresst sich derzeit selbst, indem offensichtlich grösste politische und wirtschaftliche Probleme mit immer mehr Krediten denn mit ernsthaften Diskussionen über die Vertragstreue einzelner EU-Länder gelöst werden? Niemand hat etwa Griechenland gezwungen, den Euro einzuführen und das zugehörige Vertragswerk zu unterschreiben.
Sie haben recht. Aber es sind Institutionen geschaffen worden, die manche abgelehnt haben, wir sprachen grad über einige, und es sind damit Fortschritte erzielt worden, die viele geläutert haben. Unter dem Strich wird klar: durch einen Grexit sind wir nicht mehr erpressbar, die Vorzeichen haben sich hier vielmehr umgedreht. Die Ansteckungsgefahr in der Schuldenkrise ist nicht mehr eine ökonomische, wie damals, sondern eine politische. Würde man Herrn Tsipras falschen Rabatt geben, wäre das ein Konjunkturprogramm für die Linkspopulisten in Spanien und es würde überhaupt keine Reformpolitik mehr gemacht werden.
Man kann also sagen, dass die FDP in der Euro- und Europafrage prinzipiell so weitermacht wie bisher: ein klarer Pro-EU-Kurs, alles für die Rettung des Euro?
Wir bleiben bei unserem Kurs, den Sie aber falsch zusammenfassen: Wir wollen zurück zur finanzpolitischen Eigenständigkeit der Euro-Mitgliedsstaaten. Wir wollen ein Europa, das in grossen Fragen wie dem Binnenmarkt und der Flüchtlingspolitik stark ist, uns im Alltag aber mit Bürokratie verschont. Aus meiner festen Überzeugung heraus müssen wir Europa zusammenhalten. Gerade die Spannungslage mit Russland hat uns gelehrt, dass wir mitnichten am Ende der Geschichte sind und sich die westlichen Werte von Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Demokratie nicht von allein durchsetzen. Der Disput wird diejenigen, die gemeinsame Werte teilen, zusammenhalten. Wie wäre es jetzt, wenn Europa aufgrund der Eurokrise in Stücke zerfallen wäre? Wie würden wir uns in der aktuellen Lage bewähren?
Diese Frage kann ich nicht beantworten. Aber als jemand, der in der Schweiz wohnt, in der über 80 Prozent der Leute der Meinung sind, dass es keine gute Idee sei, zu eng mit der EU verbandelt zu sein, würde ich mutmassen: Es gibt viele deutsche Bürger, die Brüssel auch zunehmend mit Skepsis begegnen.
Das verstehe ich – sage aber auch: dann müssen wir nicht einfach die Verbindung kappen, sondern die EU optimieren! Denn in den grossen Fragen braucht es mehr europäische Gemeinsamkeit, weil da Europa nur gemeinsam handeln kann. Datenschutz, ein Binnenmarkt für Energie oder der transatlantische Freihandel, der ein europäisches Projekt ist, sind Beispiele dafür. Wir brauchen ein starkes, politisch gemeinsam handelndes Europa dort, wo es gemeinsame Antworten braucht, dort, wo es um Rahmenbedingungen für den Binnenmarkt und eine freizügige Gesellschaft geht. Es ist aber sicher nicht die Aufgabe von EU-Kommissaren, Glühbirnen zu verbieten, die Leistungsstärke bestimmter Staubsauger zu normieren oder laut darüber nachzudenken, dass man doch die Olivenölkännchen auf Restauranttischen verbieten sollte! Diese europäische Bürokratie, die die jeweils aktuelle politische Mode für alle Mitgliedsstaaten verbindlich machen soll, brauchen wir nicht.
Das bedeutet, Sie wollen der AfD ihre EU-skeptischen Wähler nicht wieder abspenstig machen?
Die AfD gibt es in Deutschland de facto nicht mehr. Und die FDP wird unter meiner Führung keine Ressentiments bedienen oder den Euro-Hassern nachlaufen. Wir stehen zu Europa – aber zu einem Europa der Freiheit. Die europäische Integration vollzieht sich in unserem Leitbild im täglichen Miteinander von Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft, weil sie ihren Wohn- oder Studienort wechseln, einen Arbeitsplatz in einem anderen Land annehmen, neue Kooperationspartner, neue Kunden oder neue Lieferanten in anderen europäischen Ländern finden. Was ich nicht schätze, ist Integration von oben, indem auch für Alltagsfragen harte und überflüssige europäische Regeln vorgegeben werden.
Apropos Alltagsfragen: Sie stimmten im Bundestag, und hier werden wir kurz gesellschaftspolitisch, gegen das Recht auf Eheschliessung Homosexueller. Stehen Sie auch weiterhin hinter diesem wenig liberalen Votum?
Es gibt in Koalitionen keine wechselnden Mehrheiten – so geht jede Regierung in Deutschland. Man kann nur gemeinsam Vorhaben beschliessen. Leider war und ist die Union in dieser Frage noch nicht im Jahr 2015 angekommen. Selbst das erzkatholische Irland ist weiter.
Sie haben ihn eben bereits mehrfach aufs Podest gehoben, auch im aktuellen FDP-Leitbild ist von ihm die Rede: vom «unkomplizierten Staat». Aber wie ist denn der zu machen, wenn er nun einmal heute sehr kompliziert ist? Ein Beispiel: der von Ihnen eben zitierte neue TTIP-Vertrag wird wohl, noch umfangreicher als CETA – der 1600 Seiten lange, wohl 2017 in Kraft tretende Freihandelsvertrag der EU mit Kanada –, einige tausend Seiten lang. Und damit wird dann «freier Handel» legitimiert? Ginge «Freihandel» nicht auch prinzipiell auf 0 bis 5 Seiten?
Nein. Sie sagen, mehrere tausend Seiten seien zu viel für freien Handel – okay. Aber ein exportorientiertes deutsches Unternehmen muss im Moment immer zwei mehrere tausend Seiten starke Vertragswerke beachten, wenn es handeln will! Will es ein neues Auto auf den Markt bringen, so muss es die Vorgaben aus Amerika und die Vorgaben aus Europa kennen. TTIP wäre also ein echter Beitrag zur Vereinfachung durch gemeinsame Standards. Die grundsätzliche Herangehensweise bei Vereinfachungen im Staat ist aber, dass wir den Mut gewinnen müssen, auch bestimmte Systeme neu zu denken.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel die Rentenversicherung. Die hat im vergangenen Jahr ihr 125jähriges Bestehen gefeiert, ist aber im Prinzip seit Bismarck unverändert geblieben. Das ist kein Grund zum Feiern, sondern eigentlich ein Grund zum Heulen, weil sich alles rasant verändert hat – nur unsere Sozialversicherung nicht. Immer noch gibt es ein festes Renteneintrittsalter. Mit der Rente mit 63 wird sogar belohnt, wer früher geht. Ich bin für mehr Individualität: Ab 60 entscheidet jeder selbst, wann er geht. Wer früher geht, hat eine versicherungsmathematisch exakt niedrigere Rente. Wer länger bleibt, eine höhere. Das stärkt die Lebenslaufhoheit.
Stichwort Systemanpassung: es gab kürzlich in der Schweiz ein paar Urnengänge, die das Land den veränderten Realitäten in Einwanderungsfragen anpassen sollten: Statt 16 000 Einwanderer pro Jahr kommen nun über 80 000 – nun entschied das Volk recht knapp, dass es für Leute wie mich, für Ausländer, wieder Kontingente geben sollte. Was halten Sie von derartigen Manövern?
Ich habe Respekt davor, dass die Schweiz ihren eigenen Weg geht. Ich respektiere auch das Ergebnis von Volksabstimmungen. Europa ist aber nicht zum Entgegenkommen gezwungen und sollte sich bei der Freizügigkeit auch nicht bewegen. Ich würde es aber auch als Schweizer für nicht sehr klug halten, die Schotten dichtzumachen – weder mit einem bürokratischen Kontingentssystem noch per Handstreich. Die Schweiz profitiert von qualifizierter Zuwanderung. Bemerkenswert ist ja, dass in denjenigen Kantonen, die über vergleichsweise viele Zuwanderer verfügen, die Vorlage nicht angenommen wurde – und dass die Mehrheiten in denjenigen Kantonen sehr hoch waren, wo es kaum Zuwanderung gibt. Das scheint eher eine Angst vor Überfremdung zu sein als eine tatsächlich zu beobachtende.
Dem ist wohl so. Haben Sie deshalb 2010 in Deutschland gegen die Einführung bundesweiter Volksentscheide gestimmt – aus Misstrauen gegenüber den Bürgern?
Ich bin ein Anhänger der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie. Ich glaube, dass Volksentscheide Sinn machen können, aber sie können die parlamentarische Demokratie in meinen Augen nicht ersetzen. Es braucht aus meiner Sicht mehr Checks & Balances im politischen Betrieb. Die Schweiz ist aber durchaus auch ein Vorbild für mich.
Inwiefern?
Ich sehe sie als Willensnation, die ganz unterschiedliche Sprachräume und ganz unterschiedliche kulturelle Kreise verbindet. Das ist ein Vorbild für mein Verständnis von Europa und der EU, weil die Verfassung grosse Freiheit zugrunde legt. Auch schätze ich den freisinnig-freiheitlichen Bürgersinn der Schweizer, viel Eigenverantwortung, viel Dezentralität, ein positives Verständnis von Wettbewerb, wirtschaftliche Stärke, Fleiss – das beeindruckt mich und davon wünsche ich mir auch in Deutschland mehr.