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Zur Freiheit verurteilt

Zum 100. Geburtstag des Philosophen, Schriftstellers und Aktivisten Jean-Paul Sartre

Der Verkehr in der Pariser Innenstadt brach zusammen und das öffentliche Leben stand still – der Trauerzug, der sich langsam zum Friedhof von Montparnasse hin bewegte, wurde von über fünfzigtausend Menschen begleitet. Diese enorme, bis dahin und seitdem nie gekannte Sympathiebezeugung galt einem Mann, der weder Kriege gewonnen noch Krankheiten ausgerottet, sondern Bücher geschrieben und Vorträge gehalten hatte. Wenige von denen, die dem Sarg folgten, hatten Inszenierungen seiner Stücke gesehen oder seine Romane gelesen, noch weniger kannten seine philosophischen Schriften oder waren Abonnenten der von ihm gegründeten Zeitschrift «Les Temps Modernes» – aber seine feuilletonistisch formulierten Sentenzen über die exi-stentielle Freiheit des Menschen, sich selbst zu erschaffen, waren in den intellektuellen Alltagsjargon eingegangen; seine Auffassung von Literatur als politischer Aktion hatte schon zwei Generationen Kritiker geprägt; das breit gefächerte Profil seiner Zeitschrift, in der er literarische und literaturwissenschaftliche, philosophische und zeitkritische Texte veröffentlichte, war als Erfolgsmodell erkannt und mehrmals nachgeahmt worden; und seine Stellungnahmen gegen den Algerienkrieg, seine Solidarität mit den streikenden Renault-Arbeitern und der Studentendemonstration, sein Eintreten für die Aufnahme der Südostasienflüchtlinge hatten die öffentliche Meinung geformt und die Politiker immer wieder zum Handeln gezwungen. «Voltaire verhaftet man nicht», soll Staatspräsident De Gaulle im Mai 1968 geseufzt haben, als ihm berichtet wurde, dass die revoltierenden Massen von Jean-Paul Sartre angeführt wurden.

Wie niemand sonst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, verkörperte Sartre jene ideale Figur des unbeugsamen und unkorrumpierbaren Gesellschaftskritikers, die die französische Geistesgeschichte immer wieder hervorgebracht hat: Voltaire, Hugo, Sand, Zola – und nun Sartre. Trotz seinen Irrtümern und Fehleinschätzungen, und über die geistige und gesundheitliche Dämmerung seiner letzten Jahre hinaus, ist Sartres kohärente moralische Haltung ein Muster unangepasst kritischen Handelns: sein Schrecken vor der sozialen Komödie, der in der Zurückweisung des Nobelpreises für Literatur kulminierte, und seine Absage an jede Resignation vor der Ungerechtigkeit machen ihn zu einem engagierten Intellektuellen, wie er in Zeiten der globalen medial-gesteuerten Meinungsbildung gar nicht mehr möglich zu sein scheint. Eine Generation und eine Epoche, wie Bernard-Henri Lévy diagnostizierte, wurde am 19. April 1980 zu Grabe getragen.

Tatsächlich gehörte Jean-Paul Sartre einer Generation an, die zwei Weltkriege erlebt und Europa auch geistig wiederaufgebaut hatte, und damit einer Epoche, in der philosophische Debatten öffentlich ausgetragen und Intellektuelle zu kritischen Kommentatoren der Zeitläufte wurden. Am 21. Juni 1905 geboren und im bildungsbürgerlichen Pariser Milieu aufgewachsen (seine Mutter stammte aus der Familie Albert Schweitzers), erlag Sartre schon in der Kindheit der Suggestion des Wortes. Früh begann er zu schreiben – das Schreiben als Handlungsersatz und die Literatur als Ort unmöglicher Möglichkeiten waren eine (Selbst-)Täuschung, die zugleich eine wirksame Selbstrettung war: hinter seiner Wortmacht verschwand seine körperliche Schwäche. Im Gymnasium und dann an der Universität glänzte Sartre durch intellektuelle Schärfe und Formulierungsgeschick und beendete das Philosophiestudium an der renommierten Ecole normale supérieure mit der höchsten Auszeichnung. Während des Studiums lernte er Simone de Beauvoir kennen, die ihm zur lebenslangen Partnerin wurde: als geniales oder aber als dandyhaft exzentrisches Paar, als Beispiel aufgeklärt egalitärer Liebes- und Denkbeziehung oder aber unmöglicher erotischer und intellektueller Gleichberechtigung sind sie in die Geistes- und Verhaltensgeschichte eingegangen. Hunderte von Briefen haben sie sich geschrieben, sich ihre Werke gegenseitig gewidmet, gemeinsam an politischen Kundgebungen und gesellschaftlichen Debatten teilgenommen – und nie geheiratet, nie zusammengewohnt und sich immer gesiezt.

Ekel und Erkenntnis

«Alles, was mir widerfährt, gedenke ich Ihnen zu schreiben», kündigte Sartre in einem Brief an Beauvoir an, nachdem er im September 1939 eingezogen worden und an der deu-tschen Grenze stationiert war. Erst kurz zuvor war sein Roman «Der Ekel» – ihr gewidmet – erschienen, in dem er den romantischen Weltschmerz zu einem physischen Symptom der spätkapitalistischen Weltverdrossenheit umdefiniert hatte. «Da hat mich der Ekel gepackt», notiert die Romanfigur Roquentin, «ich habe mich auf eine Bank fallen lassen, ich wusste nicht einmal mehr, wo ich war; ich sah die Farben langsam um mich kreisen, ich hatte einen Brechreiz. Und das ist es: seitdem hat der Ekel mich nicht verlassen, er hält mich fest.» Dieser Ekel ist eine Art Erleuchtung, die ihn das Sein als absurd erkennen lässt, aber diese Erkenntnis ist zugleich ein Befreiungsmoment, aus dem heraus der Ekel beherrschbar – und also lebbar – wird. Roquentin ist der erste in Sartres fiktionaler Welt, der «allein und frei» ist und seine Existenz auch so begreift. «Ich bin frei», weiss Roquentin, «ich habe keinen einzigen Grund mehr zu leben; alle, die ich ausprobiert habe, haben versagt, und ich kann mir keine anderen mehr usdenken. Ich bin ziemlich jung, ich habe noch genügend Kräfte, um neu anzufangen. Aber was soll man neu anfangen? […] Ein Buch. […] Vielleicht könnte ich dann, über das Buch, mich ohne Widerwillen an mein Leben erinnern.» Als Heilung gegen den Ekel impliziert das Schreiben auch die Freiheit, sich zu erschaffen. Hier, im formalen Gewand des Romans und mit den erzähltechnischen Mitteln der Moderne, legte Sartre das Fundament einer Theorie des Existentialismus, die er später philosophisch untermauerte.

Die Absurdität des Seins und die Entscheidungsfreiheit des Menschen, seine existentielle Einsamkeit und seine Eigenverantwortung wurden zu den Pfeilern des Existentialismus, den Sartre – begrifflich an Hegel und methodisch an Husserl angelehnt – formulierte. «Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie», in einem einzigen Jahr im ersten Stock des Café Flore am Boulevard Saint-Germain niedergeschrieben, ist eine grandiose inhaltliche und formale Verbindung von ontologischer Dialektik und phänomenologischer Untersuchung, von psychologischer Analyse und dramatisierter Alltagsbeobachtung, von abstrakter Reflexion und Splittern konkreter Erzählung. Der fast tausendseitige Traktat reflektiert eine Befindlichkeit, die von der Erfahrung des Krieges entscheidend geprägt war, und begründet zugleich eine philosophische Strömung, die diese Befindlichkeit zum thematischen Aufhänger der Weltdeutung und des Seinsverständnisses machte. «Das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt, ist ein Sein, in dem es in seinem Sein um das Nichts seines Seins geht: das Sein, durch das das Nichts zur Welt kommt, muss sein eigenes Nichts sein.» Sartre war kein altmodischer Nihilist, sondern ein urmoderner Negativist, in dessen Vision die Anonymität grossstädtischer Lebenswirklichkeit ebenso wie eine totale Säkularität eingegangen waren. Er sah den Menschen in dem beständigen Versuch gefangen, sich als Sein zu begründen, ohne dem Nichts entkommen zu können – Sartre misstraute jedem deterministischen Rettungsversuch und jeder tiefenpsychologischen Betulichkeit des Ich und lokalisierte die Absurdität des Seins in der Notwendigkeit, sich stets entscheiden zu müssen. Er postulierte, «dass der Mensch, dazu verurteilt, frei zu sein, das Gewicht der Welt auf seinen Schultern trägt: er ist für die Welt und für sich selbst als Seinsweise verantwortlich». Nicht zufällig erinnerte Sartres Titel an Heideggers «Sein und Zeit», aus dem er Termini entliehen und französisch weitergedacht hatte (mit der Folge, dass deutsche Übersetzungen stets mit der Verdeutschung französisierter deutscher Begriffe zu kämpfen hatten). Aber Sartres klirrend-sachlicher Stil und seine prägnanten Formulierungen stellten geradezu den rhetorischen Gegensatz zu Heideggers «Jargon der Eigentlichkeit» (Adorno) dar. War er Heidegger in der ontologischen Dialektik ebenbürtig, so war er in der phänomenologischen Analyse zugleich konkreter und sinnlicher, wie Victor von Weizäcker 1947 in seiner Besprechung von Sartres Traktat schrieb.

«Das Sein und das Nichts» erschien 1943 und etablierte den Philosophielehrer, der am Pariser Lycée Condorcet unterrichtete, als Philosophen. Aber die Radikalität des Sartreschen Entwurfs wurde erst nach dem Krieg wahrgenommen, als der Existentialismus als eine philosophische Weltdeutung erkannt und zugleich zu einer Alltagshaltung trivialisiert wurde. Sartres Vortrag über Existentialismus und Humanismus, im Oktober 1946, markierte den Beginn einer aufgeregten öffentlichen Debatte über die Verschränkung philosophischer und politischer Haltungen und machte den Intellektuellen zur Identifikationsfigur überhaupt. Berühmt, bewundert, gefürchtet, bekämpft – in den folgenden Jahrzehnten wurde Sartre zu jenem «paria sublime, libre et impuissant, lucide et misérable», als den er selbst den Intellektuellen bezeichnet hatte. Nachdem er zuerst in der deutschen Kriegsgefangenschaft und gleich danach im französischen Untergrund gegen die deutsche Besetzung jede politische Unschuld verloren hatte, wurde das «engagement» zu einem Handlungsimperativ, den auch sein Literatur- und Kunstbegriff widerspiegelte.

Literatur war für Sartre engagierte Literatur, nicht als realsozialistische Parteiliteratur, wohl aber als politisierende und politische Anforderung zur Bewusstwerdung. Seine ästhetische Theorie scheint derjenigen Adornos entgegengesetzt zu sein, aber beiden ist ein moralischer Aufklärungsanspruch an die Kunst gemeinsam. Nicht die Realität idealisieren und mit der Welt versöhnen, sondern die Realität in ihren Widersprüchen blossstellen und die Welt kritisch reflektieren soll Literatur – soll Kunst im allgemeinen. Aber während Adorno die ästhetische Wahl, für die ein Kunstwerk steht, schon als ideologisch betrachtete, wollte Sartre die moralische Tiefenstruktur durch die ästhe-tische Oberfläche scheinen sehen. Literatur ist, schrieb Sartre, «die Subjektivität einer sich in ständiger Revolution befindenden Gesellschaft».

Entlarven und Verändern

Die ständige Revolution wurde zu einem Schlagwort, das Freunde und Gegner gleichermassen zu missbrauchen wussten. Als «Weggefährte» der Kommunistischen Partei hatte Sartre – in voller moralischer Aufrichtigkeit – einen Revolutionswillen propagiert, der ebenso affektiv antibürgerlich wie pragmatisch unrealistisch war. Zwar hatte er den sowjetischen Einmarsch in Budapest verurteilt, aber der realexistierende Sozialismus faszinierte ihn noch bis zur Zerschlagung des Prager Frühlings 1968. Seine noch späteren Sympathien für Mao, Che Guevara und Castro, die heute als politische Irrtümer gelten, gründeten in einem fundamentalen Misstrauen gegenüber der kapitalistischen Selbstzufriedenheit, die durch den Zusammenbruch des Kolonialismus gründlich erschüttert worden war: Sartre, der schon in «Das Sein und das Nichts» den Anderen zum philosophischen Subjekt erklärt hatte, wurde zum lau-testen Gegner kolonialer Politik. Und wenn seine Aufrufe und Deklarationen rhetorisch überspitzt wirkten, so waren seine politischen Einschätzungen bemerkenswert realpolitisch, so zum Beispiel sein unmissverständliches Plädoyer für Verhandlungen im Nahen Osten und sein Eintreten für die Koexistenz von Israelis und Palästinensern. Aber schliesslich konnte auch der Philosoph der Freiheit das Unversöhnliche nicht versöhnen: Freiheit mit Sozialismus, Existentialismus mit Marxismus.

Literarisch am wirkungsvollsten hat Sartre seine philosophischen und politischen Ideen als Dramatiker artikuliert. Seine Stücke, in denen er antike Stoffe zu Parabeln der Gegenwart verarbeitete oder die Gegenwart an Extremsituationen exemplifizierte, transportierten den Existentialismus auf die grossen Bühnen Europas und Amerikas und brachten ihm grossen Publikumserfolg ein. Das «théâtre de situations», in dem das Handlungsgeflecht entpsychologisiert und das Konfliktpotential in die dramatische Situation gelegt war, entsprach dem realistischen Drama und überhöhte dieses gleichzeitig zum «théâtre de liberté»; denn durch das Bühnengeschehen sollte der Zuschauer seine moralischen Grundsätze überdenken und mit sich selbst konfrontiert und so in ein «malaise perpétuel» versetzt werden, um daraus – ganz aristotelisch – gereinigt und also frei wieder herauszukommen. Aber auch jenseits aller erzieherischen Vorsätze gingen «Die Fliegen», «Tote ohne Begräbnis», «Bei geschlossenen Türen», «Die schmutzigen Hände», «Die Gefangenen von Altona» in das allgemeine Theaterrepertoire ein; ungeachtet politischer Einstellungen und philosophischer Moden ist Sartre bis heute ein populärer Bühnenautor geblieben.

Als Romancier dagegen blieb ihm in den 40er und 50er Jahren der Erfolg versagt. Erst mit seiner autobiographischen Novelle «Die Wörter», 1964 erschienen, eroberte er wieder die literarische Szene. Darin wandte Sartre auf sich selbst die existentielle Psychoanalyse an, die er in biographischen Essays schon an Baudelaire, Mallarmé, Genet und in dem Freud-Drehbuch praktiziert hatte. Er beschrieb seinen intellektuellen Werdegang als die Entwicklung zur existentiellen Freiheit, sich gegen das bürgerliche Milieu seiner Familie zu wenden und sich als Schriftsteller selbst zu erschaffen. So war seine Selbstanalyse keine besinnliche Kindheitsbeschwörung, sondern eine existentialistische Erzählung, die die Entstehung der Berufung zum Schreiben nachvollzog. «Da ich die Welt durch Sprache entdeckt hatte, nahm ich lange Zeit die Sprache für die Welt. Existieren bedeutete den Besitz einer Approbation irgendwo in den unendlichen Verzeichnissen des Wortes.» Sartre beschrieb eine Kindheitsneurose, deren Symptom der Versuch war, schreibend der Kontingenz des Seins zu entkommen. Aber das Schreiben blieb die Möglichkeit, die Welt und die eigene Existenz handelnd zu bestimmen. «Lange hielt ich meine Feder für ein Schwert», endet «Die Wörter». «Nunmehr kenne ich unsere Ohnmacht. Trotzdem schreibe ich Bücher und werde ich Bücher schreiben; das ist nötig; das ist trotz allem nützlich.» Der

subtile Registerwechsel zwischen philosophischem Diskurs und autobiographischer Erzählung, die Verschränkung selbstironischer Reflexion und weltanschaulicher Ideen und die stilistische Präzision machen Sartres «Wörter» zu einem kanonischen Werk philosophisch-autobiographischer Literatur. Nicht zuletzt deshalb wurde ihm 1964 der Nobelpreis für Literatur zugesprochen: «[…] weil sein Werk, das von der Idee der Freiheit erfüllt ist und die Suche nach der Wahrheit thematisiert, einen weitreichenden Einfluss auf unsere Epoche ausgeübt hat», wie es in der Begründung des Nobelpreiskomitees hiess. Aber Sartre nahm den Preis nicht an. Er habe Ehrungen immer abgelehnt, schrieb er dem Sekretär der Schwedischen Akademie, und lehne auch diese ab. Sartre wollte nicht durch eine bürgerliche Institution geadelt werden, sondern sich seine Handlungsfreiheit erhalten – bis heute ist er der einzige Schriftsteller geblieben, der aus eigener Freiheit den Nobelpreis abgelehnt hat.

Selbst-Erfindung durch Schreiben

So war die Ablehnung der begehrtesten literarischen Auszeichnung innerhalb seiner existentiellen Freiheitsideologie konsequent. Sartre führte vor, dass man selbst entscheiden kann, was man ist und wie man lebt; dass man in dem ständigen Versuch, dem Nichts zu entkommen, seine Existenz bestimmen kann. Und das ist auch das implizite Thema seiner grossangelegten Studie über Gustave Flaubert. «Der Idiot der Familie» ist keine Biographie im herkömmlichen Sinn, sondern der Versuch, die Lebensrealität als symptomatisch für die fiktionale Weltverwandlung zu begreifen und zu zeigen, wie Krankheit in kreative Energie und Vaterhass in antibürgerliches Ressentiment umgesetzt wurden und wie aus einem legasthenischen Jungen ein grosser Sprachkünstler wurde. Die «Konstitution der Person» wollte Sartre darstellen, und so machte er in minutiöser literarischer, psychologischer, philosophischer und anthropologischer Analyse Flauberts Entscheidung, sich von der Welt abzuwenden und sie zugleich schreibend zu erschaffen, als einen Kampf um Selbst-Erfindung sichtbar – und lieferte dabei eine Beschreibung des fiktionalen Schöpfungsprozesses durch den die Wirklichkeit der Welt zur Wirklichkeit der Literatur wird.

Mit fast besessener Konzentration schrieb Sartre an der Flaubert-Studie mehrere Jahrzehnte, während er weiterhin Reisen unternahm, Vorträge hielt, die Zeitschrift herausgab, Aufrufe unterschrieb und an öffentlichen Debatten nicht nur teilnahm, sondern sie entscheidend mitbestimmte. Er unterstützte die Protestbewegung in den späten 60er Jahren, aber als man von ihm einen Arbeiterroman verlangte, der der «Sache der Revolution» dienen sollte, erwiderte er ironisch, er sehe keine Notwendigkeit dazu und habe sonst noch viel anderes zu tun. Das Werk war wichtiger als die Revolution! Auf mehrere tausend Seiten schwoll die Flaubert-Studie an und blieb dennoch Fragment. Aber das philosophisch-literarische Gewebe, das die existentiali-stische Idee der Selbsterschaffung exemplarisch beschrieb, war ein Meisterwerk, wie auch Axel Honneth, der Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, erklärte und Sartre nicht zuletzt deshalb zum klassischen Philosophen des 20. Jahrhunderts ernannte.

Sartres Ideen sind in der Tat von den Hauptströmungen der Philosophie im 20. Jahrhundert rezipiert und produktiv übernommen worden, worauf auch der Titel von Bernard-Henri Lévys philosophischer Untersuchung in der deutschen Übersetzung ebenso wie im französischen Original hindeutet: «Le Siècle de Sartre» suggeriert die weitreichende Bedeutung Sartres für das Denken seiner Epoche, während «Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts» ihn als führenden Denker der Epoche ausweist. Wie kein anderer Philosoph hat Sartre die intellektuelle Authentizität durch seine Konsequenz ebenso vorgeführt wie durch seine Widersprüche und Meinungs- oder Richtungswechsel als inhärente Teile des ständigen Versuchs, denkend und schreibend die Welt und das Sein zu begreifen. Zu diesem Versuch gehört auch sein vielkommentierter Besuch bei dem inhaftierten deutschen Terroristen Andreas Baader im Gefängnis von Stammheim: einmal mehr wollte Sartre die Selbsterschaffung einer Person verstehen. Die Stammheimer Episode leitete eine öffentliche Demontage ein, die der inzwischen fast blinde und kranke Philosoph nur noch eingeschränkt wahrnehmen konnte.

Noch in einem späten Interview erklärte Sartre, er sei «immer Anarchist geblieben» – und so vermisste ihn schon kurz nach seinem Tod 1980 der Essayist Lothar Baier «als das schielende Männlein, das zwickt und beisst, wenn die Versuchung naht, seriös zu werden oder ein als Erwachsener verkleideter Schweinehund». Zu seinem 100. Geburtstag ist nun der unangepasste Intellektuelle von der Kulturindustrie vereinnahmt worden und wird gerade durch eine aufwendige und materialreiche Ausstellung in der Pariser Bibliothèque Nationale, durch Symposien, Vortragsreihen, Werkausgaben, Sonderhefte literarischer und wissenschaftlicher Zeitschriften und nicht zuletzt durch Internetseiten gewürdigt. «So ist der Tod nicht meine Möglichkeit, Anwesenheit in der Welt nicht mehr zu realisieren», hatte Sartre in «Das Sein und das Nichts» geschrieben, «sondern eine jederzeit mögliche Nichtung meiner Möglichkeiten, die ausserhalb meiner Möglichkeiten liegt.»

STEFANA SABIN, geboren 1955, schreibt als freie Kulturkritikerin insbesondere für die NZZ und die FAZ.

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