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(5) Zur Abwehr von Junkies und zur Ermunterung von Shoppern

Jahraus, jahrein scheint die Hintergrundmusik in Kaufhäusern, U-Bahnhöfen und Restaurants
dieselbe zu sein. Undramatisch, weder leise noch laut, ohne Höhepunkte. Dennoch aber nervtötend und lästig. Eindrücke zum Unternehmen, das dahintersteht.

Mit Mozart verscheucht man Heroinabhängige. Davon sind die Verantwortlichen der Hamburger Hochbahn überzeugt. Klarinettenkonzert, der zweite Satz, der getragene. Einst schluchzten Hunderttausende von Kinobesuchern zu diesem Mitsummer des Salzburger Melodikers, weil sich Meryl Streep und Robert Redford in der Safari-Romanze «Jenseits von Afrika» dazu in die Arme sanken. Das Konzert ging danach in CD-Läden weltweit weg wie warme Semmeln. Im Hamburger Hauptbahnhof aber leiert es vor sich hin, als Hintergrund für die übliche Kakophonie aus quietschenden Zügen, Lautsprecherdurchsagen, Menschengetrampel und Stimmengewirr.

Ob die Reisenden Mozart, Vivaldi und all die anderen Klassiker gerne hören, während sie zum Zug hetzen, ist zweitrangig. Denn seit Klassik durch die grauen und labyrinthischen Gänge des Hamburger Verkehrsknotenpunkts wabert, habe es dort eine «deutliche Verdrängung der Betäubungsmittelszene» gegeben, zitierte die «Berliner Tageszeitung» (taz) im Februar einen Sprecher der Verkehrsbetriebe, der damit die eigentliche Strategie unverhohlen zugab, wie sie mittlerweile auch in München und anderswo verfolgt wird. Ein für die Hamburger Beschallung zuständiger Techniker hat für den Erfolg gar eine Erklärung parat: wenn Junkies auf Entzug seien, brauchten sie eben Action. Da wirkten die Altmeister eher nervtötend.

Radikaler und aggressiver lässt sich die Umwidmung einer Musik kaum denken, die ersonnen wurde, um ihre Hörer zu erfreuen. Muzak heisst das Unternehmen aus den USA, das weltweit über Satellit Endlosschleifen in die Lautsprecher speist. Auch Soul, Easy Listening, Jazz, aktuelle Chart-Hits und vieles mehr wird von den Kunden geordert, zu denen Hotels, Restaurantketten, Supermärkte und Kaufhäuser gehören. Hört man im Fahrstuhl eines Hotels den Anfang von Burt Bacharachs «Raindrops keep falling on my head» und beim ersten Bier in der Bar die letzten Takte, dann steckt nicht selten Muzak dahinter. Und in manch einem Edelrestaurant erblüht Abend für Abend, punkgenau zur selben Zeit, der Frühling aus Vivaldis Vier Jahreszeiten.

Die gewinnbringende Idee – Muzak verkündet jährlich steigende Absatzraten – stammt aus den Goldenen Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts. George Squier, General des US-Nachrichtenkorps, meldete seinerzeit ein Patent an, Hintergrundmusik über Telefonleitungen zu übermitteln. 1934 kommerzialisierte er seinen Einfall mit der Firmengründung von Muzak. Heute, so betonen die Chefs aus den USA oder der europäischen Niederlassung in Düsseldorf, biete Muzak seinen Kunden längst mehr als nur eine umstandslose und endlose Garantie gegen eine offensichtlich allgemein befürchtete Stille. Muzak will den Dreh herausgefunden haben, mit Musik eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, wie es vage heisst, ohne individuelle Geschmacks- oder gar Schmerzgrenzen anzutasten.

Einige Tricks sind offenbar. So wird zum Beispiel klassische Musik ihrer Höhen und Tiefen beraubt und auf nur einen Lautstärkepegel reduziert. Leise Passagen gehen so nicht mehr unter und Steigerungen stören nicht. Damit soll verhindert werden, dass sich der letztlich unfreiwillige Hörer intensiv auf die Musik konzentriert, worunter etwa Geschäftsverhandlungen leiden könnten. Unterschätzt werden darf auch nicht die Gefahr, dass jemand beginnt, eine in den Vordergrund drängende Musik als lästig zu empfinden, weil sie nicht seinem bevorzugten Geschmack entspricht.

Die Soundtüftler und -vermarkter behaupten, diese funktionelle Musik, wie sie genannt wird, könne wahre Wunder bewirken. In den USA soll sie in den Arztpraxen wartende Patienten beruhigen. An Flughäfen sollen Passagiere stressmindernd eingelullt werden, deren Maschinen verspätet starten. Und Kaufhäuser versprechen sich gar erhöhte Konsumbereitschaft. Daran glaubt, wer es für möglich hält, Kühe gäben mit Mozart im Gehörgang bessere Milch (und eine Zeitlang glaubten das viele). Nur, lässt sich das auch belegen?

Dass Musik, die für bestimmte Momente, Situationen und Stimmungen komponiert worden ist, im zugedachten Rahmen beim Hörer verfängt, ist eine historisch vielfach belegte Kommunika-tionsleistung. Die Kirche lässt seit je sakrale Werke schreiben, um zur Demut vor Gottes Schöpferkraft zu verführen, und in allen Jahrhunderten gaben Kriegsherren Triumphmärsche in Auftrag, noch bevor die erste Schlacht gewonnen war. In diesen Fällen sind sich Absender und Adressat bei der musikalischen Botschaft, den intendierten Motivationen oder gar Gefühlen einig. Ein weiteres Beispiel ist Filmmusik, wenn es ihr gelingt, Gefühle unaufdringlich zu unterstützen und Bilder zu evozieren.

Anfang der achtziger Jahre untersuchten amerikanische Musikpsychologen, inwiefern Filmmusiken die intendierten Gefühle oder zumindest entsprechende Assoziationen auslösen können, auch wenn die Hörer die dazugehörigen Filme nicht kennen. Man spielte den Probanden die Musiken aus «Love Story» und «Der weisse Hai» vor. Während diejenigen, die die Filme nicht kannten, eher allgemein mit der ersten Musik Romantik und mit der zweiten Spannung in Verbindung brachten, konkretisierten die Hörer, denen die Filme bekannt waren, ihre Empfindungen und sprachen von trauriger Liebe und tödlicher Bedrohung.

Allein dieses Beispiel macht deutlich, wie vage die Aussicht ist, bestimmte Emotionen an den Hörer weiterzugeben, solange nicht, wie beim Militärmarsch, ein soziales oder rituelles System Komponist und Hörer eint. Dass die Vermittlung am ehesten dann gelingt, wenn ein gesungener Text eine Kernaussage transportiert, zeigte eine Untersuchung mit gut 3’000 Kunstliedern aus mehreren Kulturen. In ihnen dominieren alltäglich erfahrbare Grundgefühle wie Freude, Trauer und Schmerz, die von den meisten Hörern als Kern des entsprechenden Stückes auch wahrgenommen werden. Insgesamt aber, so muss aus anderen Studien geschlossen werden, lassen sich Emotionen mit Musik nicht gezielt auslösen. Welche Emotionen man in einem instrumentalen Musikstück zu erkennen glaubt, hängt wesentlich davon ab, was über die Musik, ihre Entstehungszeit und den Komponisten bekannt ist. Auch Lebenssituation und die Verfassung spielen eine Rolle. Einen Mann, der gerade von seiner Liebsten verlassen worden ist, stimmt sehr wahrscheinlich selbst ein flotter Salsa melancholisch, wenn er mit jener häufig Salsa getanzt hat. Und so mancher greisen Witwe wird schwer ums Herz, wenn Wiener Schrammelmusik an die Flitterwochen erinnert. Private Umwidmung eben.

Dennoch verkauft sich Hintergrundmusik, wie sie Muzak anbietet, besonders gut, da ihr nach wie vor geradezu manipulative Kräfte zugeschrieben werden. Verkaufspsychologen behaupten sogar, mit Musik einen Kaufreiz bei Ware schaffen zu können, die der Konsument nicht braucht. Ihre wissenschaftliche Munition hält einer strengen Überprüfung oft nicht stand. So wurde lange Zeit ohne stichhaltige Belege behauptet, mit einem kaum merklich sich steigernden Tempo könnten Schrittfrequenz und Bewegungsmotivation erhöht werden. Das wiederum habe zur Folge, dass der Kunde eine Ware nicht erst lange prüfe, bevor er zugreife. Zwischendurch solle das Tempo verringert werden, um insgesamt die Verweildauer des Kunden zu verlängern.

Dass bis heute manche Kaufhausmanager an die Zauberkraft der Musik glauben, ist dennoch kaum verwunderlich. Im harten Wettbewerb will sich niemand nachsagen lassen, nicht alles versucht zu haben. Andere allerdings haben den Hype um die Musik überwunden. Der Breitbandklangteppich sei in seinem Hause out, sagt etwa ein Warenhaussprecher aus Frankfurt; allenfalls in Markenkleiderabteilungen für ein bestimmtes Zielpublikum wie Jugendliche werde aktuelle Popmusik eingesetzt, sozusagen als Lockruf.

«Die Entscheider in den Firmen können sich das Geld für Hintergrundmusik sparen», sagt denn auch Klaus-Ernst Behne. Der Musikpsychologe und emeritierte Professor der Musikhochschule Hannover hat 155 Studien ausgewertet, die die Wirksamkeit von Hintergrundmusik erforscht haben. Sein Ergebnis brachte er in einem Gespräch mit dem Magazin der «Frankfurter Rundschau» wie folgt auf den Punkt: Hintergrundmusik hat keinen verkaufsfördernden Aspekt. Im Gegenteil, die allgegenwärtige Verfügbarkeit der Musik durch digitale Techniken verstärke einen Schutzmechanismus im Gehirn, unliebsame und der Situation unangemessene Geräusche und Töne auszublenden. Da die Musik sich aber dennoch als Tyrann im Unterbewussten einnistet verlernen wir mit der Zeit das Musikhören als Genuss und Kulturleistung. Musik wird als unvermeidliches Ärgernis hingenommen wie Verkehrslärm in der Innenstadt.

In der Tat hören wir heutzutage einen Grossteil der Musik unfreiwillig, leider nicht immer so vergleichsweise dezent hintergründig wie in der Hotellobby oder im Wartezimmer des Arztes. Dort, wo Musik den sozialen Raum definiert oder gar eine kulturelle Einheit markieren soll, hämmern uns Beats entgegen oder klampfen spanische Gitarren. Kaum ein Wirt, kaum ein Restaurantkellner, der die Bitte, das jedes Gespräch erschwerende Gedudel zumindest einzudämmen, nicht mit dem Hinweis abschmettert, die Gäste wünschten das so. Es wäre einen Selbstversuch wert, mal spontan eine Abstimmung anzuzetteln. Denn hört man sich im Freundeskreis um, beklagen fast alle die allzeitlichen Musikattacken als lästig. Zugegeben, viele dieser Klageführer tun ihren Freunden dieselbe Gewalt an, wenn sie zur Grillparty einladen. Dann setzen auch sie sich über den disparaten Musikgeschmack ihrer Bekannten hinweg, weil sie dem Irrtum erliegen, sogenannte Gute-Laune-Musik sei als akustischer Minimalkonsens des gemeinsamen Willens zur Heiterkeit unumgänglich.

Es überrascht daher nicht, dass für den Massengeschmack aufgemachte Popmusik, wie sie im Frühstücksradio aus offenen Autos oder eben auf Partys ertönt, längst nach derselben Rezeptur zusammengerührt wird wie die funktionelle Musik Muzaks. Schlichte Melodiefolgen, Verhinderung von komplexen Harmonien, keine dramatische Varianz, dafür häufige Wiederholungen. So gesehen ist die Popmusik nicht mehr allein aufgrund der Anforderungen des Marktes ein Angebot an den interessierten Hörer, sondern in sich selbst schon zur reinen Dienstleistung reduziert. Sie verfolgt, um mit Adorno zu sprechen, keinen anderen Zweck als den der unaufwendigen Konsumierbarkeit. Ihr Charakter besteht in einer Art Nichtvorhandensein, in der kompletten Verneinung ihrer selbst. Auch deshalb ging ihr Siegeszug einher mit der serienmässigen Verbreitung von Autoradios, wo sie als rhythmisiertes Dröhnen weder zum ablenkenden Hinhören verleitet, noch zum angestrengten Weghören zwingt. Viele Passagen klassischer Musik oder des Jazz, die von der Dynamik des Laut und Leise leben, verschwinden hingegen oft schon unter dem eigenen Motorenlärm bis zur Unhörbarkeit. In manchen Pop-Radiosendern, und das sind beinahe alle, macht man sich sogar das Prinzip zu eigen, mit dem auch Muzak die Stücke auf seinen Endlosschleifen anordnet. Den Takt gibt der menschliche Puls vor, seine Frequenz in Ruhe-, Bewegungs- und sogar in Stressphasen soll musikalisch simuliert und in wohldosierten Wellen variiert werden, um den Hörer zu vitalisieren. Im Grunde haben schon Legionen von Jugendlichen ihre Musikkassetten nach dieser schlichten Regel zusammengestellt, freilich auch mit demselben ambitionierten Ziel: nur nicht langweilen. Dass die meisten dem gleichen – langweiligen – Prinzip von schnell und langsam folgen, macht die Dramaturgie der Musikkassetten so vorhersehbar wie die der Radiosender.

Dennoch verschreiben sich mittlerweile selbst Verlage von klassischer Musik dem, was man im Mainstream für abwechslungsreich hält. Vor allem junge Käuferschichten sollen mit bekömmlichen Häppchen geködert werden. Auf den Samplern, wie sie beispielsweise die Deutsche Grammophon unter dem anbiederischen Label Yellow Lounge auf den Markt bringt, wechseln tänzerische Barockbruchstücke mit elegischen Werkschnipseln der Spätromantik und zackigen Märschen ab. Verblüffend ist, wie sehr diese käuflichen Sampler und die Klassik-Wundertüte von Muzak sich ähneln. Für Verfechter der reinen Lehre, wie den italienischen Pianisten Maurizio Pollini, ist das Hochverrat an der Kunst. Er fürchtet, der Oper und dem Konzerthaus gingen auf diese Weise langsam aber sicher die wahren Liebhaber verloren. «Wenn wir klassische Musik nur noch unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzwertes betrachten, also ob sie als Hintergrund für ein gediegenes Abendessen funktioniert, vermitteln wir nicht mehr die Schönheit der Musik an sich. Und die entfaltet sich nur, wenn man eine Symphonie oder eine Oper in ihrer Gesamtheit hört und versteht.»

Erführe der Mann, was sie am Hamburger Hauptbahnhof mit zerstückelten Symphonien im Schilde führen, ihn träfe vermutlich der Schlag.

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