Zum Leben gezwungen
Soll der Staat einem 68jährigen, seit 1996 verwahrten Sexualstraftäter erlauben, per Freitod aus dem Leben zu scheiden? Oder darf er ihn zum Leben zwingen? Eine Abwägung ethisch verzwickter Fragen.
1971 missbrauchte Peter V. eine Siebenjährige. Doch verurteilt wurde V. nicht: der damals 21jährige wurde für unzurechnungsfähig erklärt. Nur zwei Jahre später stand er erneut wegen eines Sexualdelikts vor Gericht, diesmal allerdings kam es zu einer Verurteilung. Auch dabei blieb es aber nicht, es folgten weitere Delikte und (erstaunlich kurze) Haftstrafen. 1980 wurde V. das erste Mal verwahrt, doch während des Hafturlaubs verübte er weitere schwere Straftaten: er würgte und vergewaltigte Menschen, mehrheitlich Minderjährige. Seit 1996 sitzt er nun ununterbrochen hinter Gittern, längst nicht mehr als Strafgefangener, sondern als Verwahrter.
V. geht davon aus, dass er nicht mehr in die Freiheit entlassen wird. Seine letzten Verbrechen mögen ein Vierteljahrhundert zurückliegen, doch die Zahl und die Schwere seiner Taten macht es unwahrscheinlich, dass ein Gutachter ihm ein Unbedenklichkeitszeugnis ausstellt. V. betont zwar, dass die Strafanstalt Bostadel im Kanton Zug die «schweizweit optimalste Vollzugsinstitution» für Verwahrte sei, dennoch empfindet er seine Unterbringung als «Psychofolter» – insbesondere deshalb, weil ihm kein Hafturlaub gewährt wird und weil ihn seine Mutter aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr besuchen kann. In Kombination mit diversen Altersgebrechen sei ihm ein Weiterleben nicht zuzumuten, argumentiert V. und hat deshalb mit der Suizidhilfeorganisation Exit Kontakt aufgenommen. Lebte V. in Freiheit, würde er vielleicht keinen Sterbewunsch bekunden. Wäre dies aber aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme dennoch der Fall und wäre dieser Wunsch beständig und ohne Beeinflussung durch Dritte zustande gekommen, fände er wohl einen Arzt, der ihm das nötige Natriumpentobarbital-Rezept ausstellte. Die Voraussetzungen für eine Freitodbegleitung wären also erfüllt und sein Fall wäre ein «gewöhnlicher» Bilanzsuizid1. Nicht so hinter Gittern: V. darf aktuell nicht sterben. Der Staat verunmöglicht es ihm – zumindest bis anhin.
Mindestbedingungen für Freitodbegleitungen
Zur Klärung steht also folgende Frage: Darf einer Person in Haft vom Staat das Recht auf Sterbehilfe entzogen, sie also faktisch zum Leben gezwungen werden? Klar ist: die Minimalbedingungen für eine Freitodbegleitung können nicht andere sein als für Personen in Freiheit. Die Person muss urteilsfähig sein, die Folgen eines unterstützten Suizids also zweifelsfrei verstehen. Und der Sterbewunsch muss authentisch sein, selbstbestimmt erfolgen und beständig sein.
Bei Personen in Haft ist es durchaus nicht offensichtlich, dass diese Minimalbedingungen erfüllt sind. Besonders Personen in Untersuchungshaft sind überdurchschnittlich suizidal.2 Bei ihnen kann jedoch kaum davon ausgegangen werden, dass ihr Sterbewunsch beständig ist. In den allermeisten Fällen ist wohl der sogenannte «Haftschock» Auslöser für Selbstmordgedanken. Dass dieser Überforderung mit neuen Lebensumständen begegnet werden kann, bewies das deutsche Bundesland Thüringen, das nach einer Serie von Häftlingssuiziden im Jahr 2011 Präventionsmassnahmen einführte.3 Solche fürsorgerischen Massnahmen drängen sich tatsächlich auf, denn der Staat hat gegenüber Personen, denen er die Freiheitsrechte beschneidet, eine höhere Verantwortung als gegenüber Personen in Freiheit.
Ist der Sterbewunsch authentisch? Das ist eine weitere Frage, die bei Personen in Haft einer besonderen Prüfung bedarf. Wie das Beispiel Hungerstreik zeigt, sind die Beweggründe nicht immer klar. Der Staats- und Verwaltungsrechtler Markus Müller argumentiert, das eigentliche Ziel eines Hungerstreikenden sei nicht der Tod, sondern die Veränderung seiner Situation. Müller plädiert aus diesem Grund, Hungerstreikende zwangszuernähren – auch weil sich der Staat sonst erpressbar machte. Dieser verordnete Zwang zum Leben ist jedoch unter Experten umstritten. Der Strafvollzugsspezialist Benjamin F. Brägger beispielsweise argumentiert, dass ein urteilsfähiger Hungerstreikender, der klar deklariert, dass er den Tod in Kauf nehme, nicht zwangsernährt werden dürfe. Nach diesem Prinzip handelte 2013 der Kanton Zug, der einen Strafgefangenen in Bostadel sterben liess, der mittels Hungerstreiks seine Freilassung erwirken wollte.
Umstrittene Zwangsernährung
Gegenteilig hatte einige Jahre zuvor der Kanton Wallis entschieden: Als der als Hanfbauer bekannt gewordene Landwirt Bernard Rappaz 2010 mittels Hungerstreiks gegen das Strafverfahren protestierte, das zu seiner Verurteilung wegen Verstössen gegen das Betäubungsmittelgesetz und der Geldwäscherei führte, ordnete die Walliser Sicherheitsvorsteherin für Rappaz Zwangsernährung an. Dieser brach seinen Hungerstreik zweimal ab, so dass er schliesslich nicht unter Zwang ernährt wurde. Die Anordnung gab aber damals viel zu reden. Der zuständige Arzt des Berner Inselspitals, in das Rappaz verlegt worden war, legte Beschwerde gegen die Anweisung ein, die Zwangsernährung auszuführen. Und Rappaz selbst wandte sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), nachdem alle Schweizer Instanzen seine Forderung nach einem Haftunterbruch abgewiesen hatten. Rappaz hatte geltend gemacht, die Behörden hätten sein Leben gefährdet, weil sie sich trotz des Hungerstreiks geweigert hatten, ihn freizulassen.
Die Strassburger Richter erklärten die Klage für unzulässig, kommentierten den Fall dennoch ausführlich. Nach ihrer Ansicht hätte eine Zwangsernährung, sofern sie erfolgt wäre, nicht im Widerspruch zur Menschenrechtskonvention gestanden. Weder EMRK-Artikel 2 (Recht auf Leben) noch Artikel 3 (Folterverbot und Verbot von unmenschlicher und herabwürdigender Behandlung) wären verletzt worden. Diese Einschätzung ist bemerkenswert, denn der Weltärztebund klassifizierte Zwangsernährung 1975 als Folter. Für die EGMR-Richter wäre eine Zwangsernährung, wie sie bei Rappaz erfolgt wäre, vergleichbar gewesen mit einer wohlwollenden künstlichen Ernährung von anderen Patienten in einer lebensbedrohenden Verfassung.
Rappaz sagte später aus, er sei froh, dass man ihn am Leben erhalten habe. Das muss zwar nicht bedeuten, dass seine deklarierte Bereitschaft zu sterben zum Zeitpunkt seiner Hungerstreiks nicht authentisch war. Aber sein Fall zeigt, dass das Abwägen zwischen der Fürsorgepflicht des Staates und dem Selbstbestimmungsrecht des Insassen eine durchaus heikle Sache ist.
Haftregimes für Verwahrte und Strafgefangene müssten verschieden sein
Auch im Fall von V. dürfte es wohl nicht einfach sein herauszufinden, ob er wirklich sterben will oder ob er vielmehr auf seine Situation, die er als ungerecht empfindet, aufmerksam machen will. Dazu hat er durchaus Grund. Anders als in Deutschland sind in Schweizer Vollzugsanstalten die Haftregimes für Strafgefangene und aus Sicherheitsgründen Verwahrte identisch. Auf Anfrage bestätigte die Anstalt, dass auch in Bostadel für beide Insassengruppen dieselben Bedingungen gälten. Zur Anstalt gehören mehrere Produktionsbetriebe, die Arbeitsstellen machen den Alltag vergleichsweise abwechslungsreich. Doch es herrscht für alle Arbeitspflicht, auch für Häftlinge im Pensionsalter und für die Verwahrten. Das identische Haftregime führt faktisch dazu, dass die Strafgefangenschaft für Verwahrte auf unbestimmte Zeit verlängert wird. Dass diese Ausgangslage lebensmüde machen kann, erstaunt nicht. Deutschland gewährt seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Verwahrten mehr Freiheiten in ihrer Tagesgestaltung. Auch werden ihnen grössere Zellen zugestanden und mehr Aussenkontakte ermöglicht.
Während die Vollzugsanstalten beim Haftregime nicht zwischen Häftlingen und Verwahrten unterscheiden, gibt es die Idee, die beiden Gefangenengruppen beim Zugang zu Freitodbegleitung ungleich zu behandeln. Der stellvertretende Leiter des Berner Amtes für Justizvollzug, Laszlo Polgar, sagte etwa gegenüber dem «Bund», dass ein Insasse, der eine Strafe absitze, sich dem Urteil sicher nicht durch einen Freitod entziehen könne.4 Hier jedoch stellt sich die Frage, ob das Recht des Staates, die Freiheit eines Verurteilten zu beschneiden, tatsächlich so weit geht, dass er ihn zum Leben verurteilen kann, nur damit dieser seine Strafe (bis zum natürlichen Lebensende) absitzt.
Mit der Bestrafung von Tätern werden nach heutigen Vorstellungen mehrere Ziele verfolgt. Zum einen zielen die Massnahmen direkt auf den Täter: Seine Tat soll mit der Strafe vergolten werden, das Ahnden dient der Wiederherstellung von Gerechtigkeit. Man hofft zudem, dass der Täter durch das Leisten einer Busse oder das Absitzen einer Freiheitsstrafe Reue zeigt und das Unrecht seiner Tat einsieht. Die Strafe soll auch dazu beitragen, das Rückfallrisiko zu reduzieren. Gleichzeitig sollen Strafen eine abschreckende Wirkung haben, auf den verurteilten Täter, aber auch auf die Bevölkerung insgesamt.
Es mag zynisch klingen, aber ein Straftäter, der sich das Leben genommen hat, stellt kein Risiko mehr dar. Es scheint auch nicht plausibel, dass die abschreckende Wirkung von Gefängnisstrafen abnehmen würde, wenn der begleitete Suizid einen möglichen Ausweg darstellte. Das Bestehen auf dem Absitzen der Strafe verkommt also zur «Rache», und einen rachsüchtigen Staat können wir uns wohl kaum wünschen. Umgekehrt darf es auch nicht sein, dass sich der Staat seiner Delinquenten entledigt, indem er sie zum Selbstmord verleitet. Die Haftbedingungen müssen also immer adäquat sein. Und das sind sie im Fall von Verwahrten eben kaum, wenn sie genau wie Straftäter behandelt werden – auch wenn sie aus sehr guten Gründen nicht in die Freiheit entlassen werden können.
Ob diese sehr guten Gründe bei V. noch vorliegen, müssen Gutachter beurteilen. In einem Punkt kommt er aber erwiesenermassen nicht zu seinem Recht: Der Kanton Bern, von dem V. nach Bostadel eingewiesen wurde, verfügte 2011 einen generellen Ausgangsstopp für begleitete Verwahrte. V. wehrte sich dagegen, und das Obergericht urteilte mehrfach, dass ihm ein Besuch seiner kranken Mutter ermöglicht werden müsse. Doch das Berner Amt für Justizvollzug ignoriert das Urteil und spielt nach Einschätzung von V. auf Zeit: Stirbt seine Mutter, fällt der Grund für die Gewährung des begleiteten Ausgangs weg.
Die Anstaltsleitung hat V. im Juli die Kontaktaufnahme zu Exit ermöglicht. Eine Intervention des Kantons Bern dagegen wäre schwer zu begründen. Bei einem Verwahrten ist noch weniger evident als bei einem Strafgefangenen, wieso der Staat diesen zum Leben zwingen dürfte. Doch bevor ein begleiteter Suizid effektiv in Frage käme, müsste V., wie jeder Sterbewillige in Freiheit auch, erst eingehend abgeklärt werden. Exit liess auf Anfrage verlauten, dass bei ihnen jeder Hilfesuchende Anrecht auf eine ergebnisoffene Abklärung habe. Gleichzeitig teilte die Organisation aber mit, dass sie «sich der staats- und gesellschaftspolitischen Tragweite des Gesuches bewusst» sei. V. kann also kaum mit einer schnellen Entscheidung rechnen. Möglicherweise reduziert die Debatte, die er mit seiner Anfrage ins Rollen zu bringen scheint, seine empfundene «Psychofolter» derart, dass er seinem in vielerlei Hinsicht verpfuschten Leben wieder so viel Sinn abgewinnen kann, vorerst seinen eigenen Tod doch nicht in Kauf zu nehmen.
2017 beendeten 734 Personen mit Hilfe von Exit ihr Leben: Ein Viertel davon (181 Personen) hatten mehrere nichttödliche Gebrechen, die sie aber in ihrer Summe als eine unzumutbare Einschränkung der Lebensqualität empfanden. ↩
Fast die Hälfte der insgesamt 238 Todesfälle in Schweizer Gefängnissen im Zeitraum von 2003 bis 2016 waren Suizide, nämlich 109. 66 davon erfolgten während der Untersuchungshaft. ↩
In der Folge kam es mehrere Jahre lang zu keinen weiteren Selbsttötungen. Seit 2016 waren aber erneut insgesamt vier Fälle zu verzeichnen. ↩
Carlo Senn und Christian Zellweger: Häftling G. will sterben. In: «Der Bund» vom 27. Juli 2018, S. 15. ↩