Zufluchtsort Schweiz
Wie Dürrenmatt heute am Berner Bahnhof Flüchtlinge begrüssen würde.
Kacem El Ghazzali kommentiert «Vom Ende der Schweiz» von Friedrich Dürrenmatt.
«Nur eine Schweiz, die den Flüchtlingen jeden Schutz und jede Hilfe gewährt, die irgendwie möglich sind, hat ein Anrecht da zu sein», schrieb Friedrich Dürrenmatt in seinem Essay «Vom Ende der Schweiz». Aus heutiger Sicht könnte man den Literaten als Vordenker des No-Border-Netzwerks verstehen, das die bedingungslose Aufnahme von Flüchtlingen nach Europa und das Ende seiner Grenzen fordert. Flüchtlinge wiederum können Dürrenmatt verstehen, ohne ihn gelesen zu haben. Während Schweizer Leser noch über die Interpretation seiner berühmten Formulierung von der «Schweiz als Gefängnis» streiten, begreifen sie deren nackte Bedeutung besser als andere – nicht nur, weil ihre Heimatländer ein Gefängnis waren, das sie dazu trieb, anderswo die Freiheit zu suchen, sondern auch, weil ihre neuen Heimatländer auf die eine oder andere Weise einem Gefängnis ähneln, das von Mauern der Vergangenheit, Nostalgie und Angst vor der Zukunft umringt ist.
Dürrenmatt ist nicht wie andere, heitere oder hoffnungsvolle Schriftsteller. Seine Feder tränt vor Melancholie. Er stellt unbequeme Fragen und offeriert Melodramatik als Antwort. Es genügt ihm nicht, dass nur seine Protagonisten ein tragisches Ende finden – er zeichnet selbst ein furchtbares Ende vom Leben. Gefängnis und Ende sind für ihn Synonyme derselben Idee. Das Gefängnis kann nichts anderes sein als das Ende.
Manche könnten einwenden, dass seine Rede vom Ende der Schweiz kein literarisches Wagnis, sondern letztlich nichts anderes als eine historische Weisheit sei. Gewiss, das Ende der Schweiz ist unabwendbar und kann nicht vom Ende Europas separiert werden. Es stellt sich aber die Frage, wie dieses Ende aussehen soll. Der Untergang der Schweiz und damit Europas als bauliche, technische und wirtschaftliche Zivilisation ist nicht das Allerschlimmste – so erging es dem antiken Griechenland und Rom schliesslich auch. Allerdings ist deren Kultur und Denken noch in unseren modernen Verfassungen und demokratischen Urnen lebendig.
Am gefährlichsten ist meines Erachtens der Tod des europäischen Geistes. Der Kollaps Europas als kultureller Union bedeutet den Zerfall der Werte der Freiheit und der Menschenrechte, den Untergang der Philosophie der universellen Aufklärung und Befreiung, die das Individuum von der Macht des Himmels und der versklavenden Autorität des Herrschers oder des Vaters befreit hat. Genau das wollen die Kritiker des sogenannten westlichen Zentralismus, die aus Europa eine blosse kulturelle Besonderheit machen möchten. So wie es auch der Islamische Staat, China, der Iran, Studierende der Postcolonial Studies und zuweilen sogar die Schweizerische Volkspartei wollen. Ihnen allen ist gemein, dass Europa von einer universellen Idee, in deren Mittelpunkt Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte stehen, zu etwas schrumpfen soll, das in einer bestimmten historischen Epoche und in einer begrenzten Weltregion entwickelt wurde. Dieses Szenario wäre nicht nur das endgültige Ende Europas, sondern das Ende von allem Schönen.
Nur – was hat das alles mit der Schweiz zu tun? Sehr viel! Dürrenmatt schrieb seinen Essay nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich um 1950. Vermutlich verstand er das Ende Europas, welches fast durch die Nazis bewerkstelligt worden war, auch als das Ende der Schweizer Nation, der veritablen Verkörperung des europäischen Ideals. Er glaubte, dass das Überleben der Schweiz vom Ausmass ihrer Offenheit gegenüber ihrer Umgebung und ihrem historischen Lebensraum abhinge. Deshalb sah er die Abschottung und negative Neutralität als Gefängnis und als Ende in einem.
Ich frage mich, wie er wohl reagiert hätte, wenn er 2015 gelebt hätte. Hätte er vielleicht am Berner Bahnhof gestanden, um die syrischen Flüchtlinge zu empfangen? Statt einen Teddybären zu halten, hätte er eher schon Beethovens Freudenhymne gespielt, die die utopische Vorstellung Europas verkörpert, und am Abend einen Text über die Zukunft der Schweiz geschrieben. Eine Zukunft, die weniger provinziell und dafür europäischer ist, weniger christlich und dafür säkularer, weniger tolerant gegenüber dem politischen Islam und dafür entschlossener, was die Investoren aus Qatar und Saudi-Arabien anbelangt. Nur diese Zukunft kann die Schweiz vor ihrem Ende bewahren.