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«Zu Hause flogen die Fetzen, wenn es um Politik ging»
Zeruya Shalev, fotografiert von Ofir Berman.

«Zu Hause flogen die Fetzen, wenn es um Politik ging»

Israels bekannteste Schriftstellerin Zeruya Shalev findet die Bibel auch für nichtreligiöse Menschen inspirierend. In der israelischen Demokratiebewegung sieht sie guten Patriotismus am Werk.

Frau Shalev, wie fühlen Sie sich angesichts der schweren Krise, in der Israel gerade steckt?

Ich bin äusserst besorgt. Diese Krise setzte ein, als die Ermittlungen gegen Ministerpräsident Netanjahu begannen. Seitdem er als Verdächtiger gilt, verhält er sich, als ob Israel ihn betrogen habe – wie ein gewalttätiger Ehemann, der das ganze Land zu ruinieren vermag, nur weil er entsetzliche Angst davor hat, ins Gefängnis zu kommen. Als Schriftstellerin neige ich dazu, etwas zu übertreiben und überall ein Drama zu wittern. Hier jedoch haben wir es mit einem riesigen Drama von mythologischen Qualitäten zu tun, und zwar im biblischen Sinne.

 

Inwiefern?

Da er einst sehr talentiert und beeindruckend war, erinnert mich Benjamin Netanjahu an König Saul, der nach Jahren des Regierens den Verstand verlor und sein Königreich und sein Leben ruinierte. Auch Netanjahu fand sich in einer Position wieder, sich zwischen seinem Land und sich selbst zu entscheiden, und wählte letzteres, um seine Überzeugungen und sich selbst vor einer Verurteilung zu retten.

 

Wie schätzen Sie die Demonstrationen ein?

Sie erstaunen mich. Ich sprach mit Menschen, die protestierten, schrieb darüber und bin ihnen zutiefst verpflichtet. Bei einer Demonstration in Haifa, zu der sich 50 000 Menschen versammelten, hielt ich eine Rede. Diese Zusammenkünfte haben eine immense Solidarität unter den Israelis hervorgebracht, die es vorher noch nicht gab. Alle sprechen nun über Demokratie. Und das ist wunderbar, nicht zuletzt, weil wir so zu guten Patrioten wurden.

 

Was ist denn guter Patriotismus?

Vor den aktuellen Entwicklungen galt Patriotischsein in der Linken und in der politischen Mitte des Landes als überhaupt nichts Positives. Erst jetzt, in dieser fürchterlichen Krise, begreifen die Menschen, dass es keine Schande ist, das eigene Land zu lieben und für die Demokratie und liberale Werte zu streiten. Mich erinnert das an Paarbeziehungen: Manchmal richten sich die eigenen Gefühle so sehr gegen den anderen, dass man die verbindende Liebe nicht mehr spürt. Doch sie existiert weiterhin. Und auch der Staat Israel muss existieren, weswegen der Schutz aus dem Inneren enorm wichtig ist – wir haben ja kein anderes Land. Dass wir in den vergangenen 75 Jahren viele Fehler begangen haben, macht nichts – was wir aufgebaut haben, ist sehr kostbar. Die Demonstrationen zeugen von frischer Liebe zu diesem Land und davon, dass wir stolz darauf sind.

«Vor den aktuellen Entwicklungen galt Patriotischsein in der Linken und in der politischen Mitte des Landes als überhaupt nichts Positives.

Erst jetzt begreifen die Menschen, dass es keine Schande ist,

das eigene Land zu lieben.»

Sie sind von Jerusalem nach Haifa gezogen. Wie unterscheiden sich diese Städte?

Haifa ist in vielerlei Hinsicht unkomplizierter – und das Gegenteil von Jerusalem, vor allem aufgrund der wunderbaren Koexistenz von Juden und Arabern. Darauf hatte ich mich besonders gefreut, und so wurde ich auch deutlich optimistischer. Im Nachbarhaus etwa wohnen Araber. Mein Sohn hat arabische Lehrer, und wir fragen nicht, wer was ist, weil das alles normal ist. In Jerusalem hingegen war die Anspannung in den Strassen bisweilen nicht auszuhalten. Ich habe mich manchmal verängstigt und davon bedroht gefühlt.

 

Im Januar 2004 haben Sie eine Suizidattacke in Jerusalem überlebt, bei der elf Menschen ermordet wurden. Was war passiert?

Ich hatte meinen Sohn zur Schule gebracht und ging die Gaza Street – heute Begin Street – entlang, als plötzlich ein Bus explodierte. Die Detonation warf mich um. Ich fand mich auf dem Gehweg liegend wieder und fragte mich, was los ist. Als ich abgetrennte Körperteile herumliegen sah, begann ich zu begreifen, was geschehen war. Dann bemerkte ich, dass ich nicht aufstehen konnte, und da es überall brannte, brachte mich jemand auf die andere Strassenseite. Das war Assaf Granit, der berühmte Koch, der letztes Jahr ein neues Restaurant in Berlin eröffnet hat.

 

Was waren die Konsequenzen aus dieser Erfahrung?

Ich dachte, ich würde nie wieder schreiben können. Nach einem Jahr war es dann aber fast wieder so wie zuvor. Es hat mein Leben langfristig eher wenig geprägt.

 

Sie haben einen Abschluss in Bible Studies. Sind Sie religiös?

Nein, überhaupt nicht, ich halte mich auch nicht an die Gepflogenheiten der jüdischen Religion. Gleichwohl bin ich mit ihnen sehr vertraut und liebe die jüdischen Texte – seien es die Gebete oder die besten Geschichten aus der Bibel. Zum Judentum als Kultur unterhalte ich eine sehr persönliche Beziehung, nicht aber zur Religion. Das ist jene Kombination aus Säkularismus und Religion, von der ich hoffe, dass sie in Israel gedeihen wird. Dafür gibt es bereits Anzeichen, weil viele Menschen hier nicht wollen, dass die Orthodoxen die Schätze des Judentums monopolisieren. Es geht darum, das Judentum dem säkularen Leben in Israel näherzubringen, ohne dabei religiös zu sein. Mich macht das stolz, und ich denke, man spürt dies in all meinen Büchern. Es hat viel mit meiner Kindheit zu tun.

«Zum Judentum als Kultur unterhalte ich eine sehr persönliche

Beziehung, nicht aber zur Religion.»

Wie sind Sie aufgewachsen?

Mein Vater war ein nichtreligiöser Experte, was das Judentum anbelangt, und las mir aus der Bibel, dem Talmud und dem Midrasch vor, als ich ein Kind war. Mir ist das deshalb sehr nah, aber nicht aus religiösen Gründen.

Sollte nicht jeder Autor die Bibel gelesen haben? Das Alte Testament quillt über vor hervorragenden Geschichten, und die geschilderten Gefühle sind wie die zugehörigen Konflikte bildhaft und lehrreich.

Ja, richtig. In meinen Büchern bemühe ich allerlei Kombinationen aus dem Alten und dem Neuen Testament, aus der Vergangenheit und der Gegenwart.

 

Haben Sie eine Lieblings­geschichte aus der Bibel?

Mehrere, da sie alle so eindringlich sind! Josef und seine Brüder etwa, denen Thomas Mann einen grossen Roman widmete, und die Geschichte von Rahel, die in meinem letzten Roman «Schicksal» eine Rolle spielt. Die biblischen Erzählungen bezeugen, dass sich die menschliche Seele in den letzten 4000 Jahren kaum gewandelt hat. Wir wissen heute zwar viel mehr über Psychologie, aber die Emotionen selbst haben sich überhaupt nicht verändert: Eifersucht, Paranoia, Liebe, die Sehnsucht nach Kindern – all das gab es damals genauso.

 

Die deutsche Übersetzung Ihres sehr erfolgreichen zweiten Romans, «Liebesleben», erschien 2000. Was hat sich seither für Sie verändert?

Ich bin mir heute viel mehr des Schreibprozesses bewusst – manchmal ist er einfacher, manchmal komplizierter. Heute arbeite ich zudem härter und bin, wie die Figuren in meinen Büchern, politischer geworden, was meine Romane ebenfalls politischer macht.

 

Hat Sie der Erfolg von «Liebesleben» ausgerechnet in Deutschland überrascht?

Ja, und zwar anhaltend! Ich erinnere mich, wie ich zu meinem Ehemann sagte: «Wer wird sich denn für diese seltsame Geschichte einer jungen Frau interessieren, die sich in einen Freund ihres Vaters verliebt?» Dann erschien der Roman in Israel und wurde ein immenser Erfolg. Ich wusste gar nicht, wie ich mit diesem wunderbaren Gefühl umgehen sollte, derart warmherzige Anerkennung zu finden. Und dann passierte dasselbe in Deutschland. Das war ein Traum für mich – ein Traum, den ich gar nicht gehabt hatte.

 

Ihr aktueller Roman «Schicksal» unterscheidet sich von Ihren vorhergehenden, was Stil und Inhalt anbelangt. Er vereint die Geschichte Israels mit derjenigen Ihrer Familie.

Das mag daran liegen, dass ich mich weniger als Autorin denn als Dienerin dieses Buches empfand, als es entstand. Eine der beiden Hauptfiguren, Rahel, ist ganz anders als ich – sie zieht Ideen Menschen vor, und das war sehr schwierig zu konzeptualisieren.

 

Wie würden Sie das Verhältnis zu Ihrem Vater beschreiben, dessen Biografie diesen Roman mit inspirierte?

Er war eine sehr einflussreiche Gestalt in meinem Leben. Er war ein beeindruckender Intellektueller, sehr gescheit, und Autodidakt. Er war eine Art Google für uns und konnte wirklich jede Frage beantworten. Er liebte Literatur sehr und las uns jede Nacht aus der Bibel vor, bevor wir dann rasch zu Kafka übergingen. Er las uns «Die Verwandlung» vor, als ich fünf Jahre alt war, später dann Gogol, die Ilias und die Odyssee. Weil meine Eltern an einem abgelegenen College unterrichteten, lebten wir recht isoliert – weswegen Literatur, Imagination, das Erfinden und Erzählen von Geschichten ein grosser Teil meines Lebens waren.

 

Lange bevor Sie geboren wurden, gehörte Ihr Vater der Lechi-Miliz an, die in den 1940er-Jahren die Briten attackierte.

Ja, er lebte in jungen Jahren im Untergrund, allerdings nicht als Kämpfer, da er gesundheitlich eingeschränkt war. Er war als eine Art Ideologe tätig und verfasste Material, das für das Radio benötigt wurde, um neue Mitglieder zu rekrutieren. Zeit seines Lebens betrauerte er seine toten Gefährten aus jener Zeit und hing an den Geschichten aus dem Untergrund. Es gab fünf oder sechs, die er immer wieder erzählte, während ich nicht wirklich zuhörte. Was ich nach seinem Tod sehr bereute.

 

In was für einem politischen Umfeld wuchsen Sie auf?

Wir hatten häufig prominenten Besuch. Ich erinnere mich etwa, wie die Schriftstellerlegende Amos Oz oder Naomi Shemer, eine der bekanntesten Songwriterinnen Israels, vorbeischauten. Zu Hause flogen die Fetzen, wenn es um Politik ging. Mich hat die diesbezügliche Aggression stets irritiert und nicht angezogen. Als ich jedoch «Schicksal» zu schreiben begann, bekümmerte es mich, dass ich mich nie für diese Diskussionen interessiert hatte. Ich hätte alles für ein letztes Gespräch mit meinem Vater über seine Zeit im Untergrund gegeben. Ich musste das nunmehr aber alles selbst rekonstruieren und mein Vorstellungsvermögen nutzen, weil er nicht mehr da war.

 

Hatte der Beruf Ihres Vaters einen direkten Einfluss auf Sie?

Als angehende Autorin mit einem Vater aufzuwachsen, der Literaturkritiker ist, ist nicht besonders empfehlenswert. Ich fürchtete mich vor seinem Urteil, weil er wirklich streng war und hohe Erwartungen hatte. Weswegen ich stets dachte, ich würde ihn enttäuschen.

«Als angehende Autorin mit einem Vater aufzuwachsen,

der Literaturkritiker ist, ist nicht besonders empfehlenswert.»

Hat Ihr Vater Ihnen einen hilfreichen Rat mit auf den Weg gegeben, was das Schreiben ­anbelangt?

Zu sehen, wie ernst er bei der Sache war, hatte mich stets inspiriert. Sein konkreter Rat bestand darin, sich für das Schreiben Zeit zu lassen. Mein Vater konnte ein gutes Jahr über einem Beitrag zur Literaturkritik sitzen und beharrte darauf, nichts zu schnell zu publizieren, sondern einen Text für ein Jahr ruhen zu lassen, um sich ihm dann erneut zu widmen. Zudem soll man an jedem einzelnen Satz hart arbeiten – jedes Wort und jedes Komma zählt. Dass das Schreiben ein sehr langwieriger Prozess ist, ist etwas, das ich von ihm geerbt habe, und ebenso das Beharren darauf, mich von aussen nicht unter Druck setzen zu lassen.

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