Zu Guy Krnetas «Unger üs»
Mundartliteratur lesen: unmöglich, viel zu mühsam, die komisch geschriebenen Worte zu entziffern. Nein, da möchte man auch gar nicht wissen, was da steht. Vielleicht mal ein Gedicht, von Kurt Marti etwa, das sollte gehen. Aber einen längeren Prosatext, ein ganzes Buch sogar?! Und dann: Das liest sich ja ganz einfach.
Auch «Unger üs» liest sich einfach. Guy Krnetas Sprache, eine Kunstsprache, Mund-Art, lebt vom Ton, vom Rhythmus der gesprochenen Sprache. Und wer den Autor einmal hat lesen hören, nimmt diesen Klang im Ohr mit, lässt sich von ihm begleiten beim Lesen. Es ist aber nicht nur die vertraute Sprache, vom Autor als Literatursprache verwendet, die den Zugang zu Mundarttexten wie jenen von Guy Krneta, Ernst Burren, Pedro Lenz und vielen mehr plötzlich als ganz selbstverständlich erleben lässt – es sind die Geschichten selbst, die sie erzählen, die Leserinnen und Leser mitnehmen.
Guy Krneta wählt in «Unger üs» die Familie, bestehend aus drei Generationen, zu seinem Thema. Thema ist dabei eigentlich das falsche Wort: Vielmehr bietet die Familie über mehrere Generationen die Grundlage für die Geschichten, die Krneta erzählt. Familie ist ein Fundus, so auch diese Familie hier. Am Anfang steht der Grossvater, der berichtet, wie er seine Sachen nicht mehr finde, die Brille, die Schlüssel, das Auto. Und er beginne zu suchen, erfolglos, gebe auf. Dass alle Sachen ein Recht hätten, zu verschwinden, ist das Fazit seines Nachdenkens über das Verschwinden – und damit hat sich Grossvaters Nachdenken bereits in unserem Kopf festgesetzt und dort ein Nachdenken in Gang gesetzt.
So funktionieren Guy Krnetas Geschichten – aus dem Leben gegriffen, würde man gerne sagen, wenn diese Bezeichnung nicht so abgegriffen wäre. Aus meinem, unserem Leben gegriffen, trifft es vielleicht besser. Denn wer kennt sie nicht, diese Familientreffen. Und Grossvater löst wohl nicht nur bei mir ein «Genau so isch es» aus, wenn er sagt: «Geng we d Familie zäme syg, gäb’s Krach. Das syg scho früecher so gsi. Drby gsäche mr is so säute. Är heig aube tänkt, das hör de irgendeinisch uuf. Aber im Gägeteil, itz heig’r grad der Ydruck, das hör nie uuf, das föng geng wider aa.» Bei Krneta lädt der Grossvater die Familie ein, um über das Grab zu sprechen: man müsse entscheiden, ob das Familiengrab noch weitere 25 Jahre erhalten bleiben solle. Dass eine solche Frage nicht ohne Streitereien, ganz sachlich und mit kühlem Kopf diskutiert werden könnte, ist sozusagen unvorstellbar. Und eben nicht, weil man sich nicht einigen könnte, sondern weil sich das Familienalbum öffnet, die Erinnerungen wieder da sind, die Verletzungen, Eitelkeiten, Eifersüchteleien und Rivalitäten.
Bei Krneta führt der Ich-Erzähler durch die Geschichten. Zwischen ihm und dem Grossvater sind politisch kaum grössere Gegensätze vorstellbar – hier der stramme BGB-Politiker, Gründer einer Herrenmode-Kette und Aktivdienstoffizier, da der Dienstverweigerer und langhaarige Sucher, der in Genf seine Strafe in Halbgefangenschaft absitzt, dort die Portugiesin Isabel kennenlernt und hofft, er sei der Vater ihres Kindes, das sie in Lima zur Welt bringt. Hier sind die klaren Werte und Ordnungen, da der Aufbruch, der Hunger nach Leben und die Hoffnung auf eine bessere, weniger in starren Strukturen verharrende Welt. Und doch gibt es dieses Band zwischen den beiden Männern – in Familien ist das möglich. Ebenso möglich: Unggle Sämi. Zwölf Jahre älter als der Ich-Erzähler, erzählt er die unwahrscheinlichsten Geschichten und gewinnt so die Bewunderung des kleinen Neffen. Auch wenn dieser nie erfahren wird, wie Sämis Erfindung, das Bratwurstjoghurt, wirklich schmeckt. Das eine oder andere, das Sämi während der gemeinsamen Wanderungen so zum Besten gibt, kann er nicht so recht glauben, dass der Bauer «mit dere Chue, won’r wott, dass si gly chauberet, bi Voumonnd um Mitternacht zäme bade. – Chabis, han i gseit.»
In Guy Krnetas Familienalbum (so der Untertitel des Buches) schwebt ein melancholischer Unterton mit, auch das mit ein Grund, warum dieser Prosatext so sehr in seinen Bann zieht. Es gelingt dem Autor, der 1964 in Bern geboren wurde und heute mit seiner Familie in Basel lebt, in einer vordergründig einfachen Sprache auf den ersten Blick simple Geschichten zu Papier zu bringen, die in ihrem Reichtum nachhaltende Wirkung erzeugen. Er lässt tief blicken in die Hochzeit der Jahre des Kalten Krieges, wo so manches festgefahren schien – was 1989 plötzlich möglich war, niemand hätte sich das beim Familientreffen mit Grossvater träumen lassen. Und auch wenn der Text in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren angesiedelt ist, haben seine Inhalte nichts an Aktualität verloren, ja, er bleibt zeitlos in dem Sinn, dass vieles, was in den Geschichten angesprochen wird, nach wie vor seine Gültigkeit besitzt, nicht zuletzt auch die Tatsache, dass in Familien unterschiedlichste Menschen mit verschiedenen Überzeugungen zusammentreffen und beim Sich-Verstehen scheitern.
Zu Guy Krneta
Guy Krneta wurde 1964 in Bern geboren und lebt heute in Basel. Nach Studien der Theaterwissenschaft in Wien und der Medizin in Bern war er seit 1986 an verschiedenen Theatern in Deutschland und der Schweiz tätig. Seit 2002 arbeitet Krneta als freier Autor. Er ist Mitglied der Spoken-Word-Formation «Bern ist überall» und wurde 2012 für sein kulturpolitisches Engagement mit dem Prix Suisseculture ausgezeichnet. Da Krneta sich ausserstande sah, einen eigenen Beitrag zu diesem Schwerpunkt beizusteuern, baten wir Lektorin und TREIBHAUS-Jurorin Liliane Studer um eine Wüdigung seines jüngsten Romans. Wir danken ihr hiermit sehr herzlich für ihre Mitarbeit.
Zu «Unger üs»
Mit dem Untertitel «Familienalbum» umschreibt das berndeutsch geschriebene Buch seine Machart: Kurze, pointenreiche Texte, typisch für die Spoken-Word-Szene, werden zu einem offenen, höchst beziehungsreichen Ganzen zusammengefügt. In treuherzigen Reden verhandeln die Familienmitglieder Gott und die Welt, suchen die Wärme des «unger üs». Kommt man sich da, über die Grenzen von Alter und Politik, nah, oder lenkt man nur ab von den Abgründen? Der Autor lässt es in der Schwebe und gestattet seinen Figuren, anrührend und unbegreiflich zugleich zu sein. (BAK)