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Zu «Finsterworld» von Frauke Finsterwalder und Christian Kracht

91 Minuten «Deutschland heute» – und eigentlich ist alles drin, was unter der Chiffre «Germany» jenseits zeitgeistiger «Alles wird gut»-Merkel-Rhetorik zu finden ist: Die romantisch-deutsche Natursehnsucht, personifiziert im namenlosen Einsiedler, der sich im Urwald Ostdeutschlands seinen lebensreformerischen Rückzugsraum erobert hat. Ein paar Bäume weiter, auf der frisch geteerten Autobahn: der Bus einer Privatoberschulklasse auf KZ-Exkursion, vollklimatisiert. Lehrer Nickel […]

Zu «Finsterworld» von Frauke Finsterwalder und Christian Kracht
Szene aus «Finsterworld» / Markus Förderer (Alamode Film)

91 Minuten «Deutschland heute» – und eigentlich ist alles drin, was unter der Chiffre «Germany» jenseits zeitgeistiger «Alles wird gut»-Merkel-Rhetorik zu finden ist: Die romantisch-deutsche Natursehnsucht, personifiziert im namenlosen Einsiedler, der sich im Urwald Ostdeutschlands seinen lebensreformerischen Rückzugsraum erobert hat. Ein paar Bäume weiter, auf der frisch geteerten Autobahn: der Bus einer Privatoberschulklasse auf KZ-Exkursion, vollklimatisiert. Lehrer Nickel in Tweed, überfordert, bald kalt schwitzend. Seine Schüler: geschichtslose Juppie-Kids, denen nationalsozialistische Brennöfen gerade gut genug sind, um die eigene Banknachbarin hineinzuschieben. Und hinter ihr dann abzuriegeln. Die Eltern dieser Brut? In entgegengesetzter Richtung unterwegs, bei Tempo 220, auf derselben frischgeteerten Piste. Auf dem Weg nach Paris, natürlich – für einmal im SUV statt im Panzer. Die Mutter des Lenkers, sein eigenes schlechtes Gewissen und auch das der Republik: abgeschoben ins Altersheim. Gerade mit dem Verzehr feiner Küchlein beschäftigt. Die hat der Fusspfleger aus ihrer gestern entfernten Hornhaut gebacken – und heute mitgebracht, um der Dame seine Liebe zu gestehen. Es folgt der Bruch des letzten gesellschaftlichen Tabus unserer Zeit. Und zuletzt ist da noch die engagierte Dokumentarfilmerin, zu Besuch bei einem «Hartzer» in der Platte, ihn filmend beim Verzehr seiner Fertigspaghetti für ein paar Cent. Und während ihr nach Drehschluss aus dem Mund eines soeben verprügelten 10jährigen Mädchens nur ein «Fick dich!» entgegenschlägt, wirft sich ihr Lebensgefährte ins Eisbärenkostüm, um auf einer Kuschelparty die ihm daheim vorenthaltene Zärtlichkeit zu finden.

Richtig viel Deutschland widerfährt also all diesen traurigen Gestalten, während sie nach Zuneigung, Austausch, Erfüllung, Wirklichkeit, Freiheit suchen. Die meisten finden nichts, einer den Tod. «Finsterworld» hätte als Sozialkitsch made in Berlin – in Schwarz-Weiss, gern im Jackett und nur Bier mit Schnappverschluss – auch dramatisch in die Hose gehen können. Das passiert nicht. Denn «Finsterworld» kommt ganz frisch daher in unverblümt-verblümter Ästhetik, ist bunt, schön, mit Carla Juri und leuchtenden Käfern – gleichzeitig aber rabenschwarz-politisch unkorrekt. «Satire!», möchte man rufen. «Ja, aber» – ohrfeigt dann das Skript: Die erzählten Menschen in miteinander locker verwobenen Geschichten tänzeln 70 Minuten über einen Grat zwischen Tristesse, Terror und Tragikomödie, um dann in den letzten 20 Minuten in einem einzigen Reigen nach links und rechts in düstere soziale und nationale Abgründe zu stürzen. Morbidität weicht Skurrilität weicht Peinlichkeit weicht Schrecken. Die entstandene Collage aus der Feder Kracht/Finsterwalder schafft es so, eine Art «Mitte der Gesellschaft» zu zeichnen, obwohl diese den ganzen Film über abwesend scheint.

Am Ende, allumfassend: das «deutsche Gefühl», die Scham. Und etwas Hoffnung – nicht zuletzt dank Cat Stevens, dessen «The Wind» das Geschehen musikalisch einklammert. Ja, das alles ist seltsam furchtbar, aber auch befreiend. Und du merkst als Deutscher: ja, richtig, das könnte auch mein Nachbar sein. Oder meine Stieftante. Oder ich? 

 

Trailer zu «Finsterworld» hier ansehen.

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