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Zsuzsannas Fenster

Zsuzsanna Gahse wurde auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse als Preisträgerin des Chamisso-Preises 2006 erkoren. Nach einer Einführung von György Dalos drucken wir in der sechsten Folge unseres Fokus «Chamisso-Preis» zwei bisher unveröffentlichte Texte der Autorin.

Das Werk eines Schriftstellers zu würdigen ist ungefähr so, als wollte man eine Bronzestatue im nachhinein mit dem Holzhammer bearbeiten. Das sind Worte von Dezsö Kosztolányi aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Kritikerzunft hat es leicht: sie operiert mit dem literarischen Kanon, misst das Gelesene an technischen Kriterien, gewährt Lob und Tadel, geht also ihrem klar umrissenen Beruf nach.

Ab und zu jedoch wird in dem sachlichen Ton ein unbewusster Wunsch des Normallesers hörbar. So äusserte sich eine Kritikerin im Zusammenhang mit dem Buch «Nichts ist wie. Oder Rosa kehrt nicht zurück» von Zsuzsanna Gahse dahingehend, dass – obwohl es sich um einen wunderbaren Text handle – das Werk der tragenden Geschichte entbehre, weshalb man es kaum Roman nennen könne. In einer Kundenrezension lesen wir ähnliches: die Sprache sei köstlich, allerdings vermisse man «ein bisschen mehr Handlung und eine klare Schlussaussage».

Obwohl ich diese so ähnlich wie wohlwollend klingenden Einwände nicht teilen kann, finde ich in ihnen etwas für Zsuzsanna Gahses Œuvre allgemein Zutreffendes. In der Tat können wir weder von dem Erstling «Berganza» (1984) noch von dem fast abgeschlossen perfekten «Kellnerroman» (1996) in zwei oder drei Sätzen sagen, worum es sich bei diesen Texten als Prosawerken handelt. Ebenso wenig beruhigt uns die Behauptung, bei dem Buch «Übersetzt» (1993) hätten wir es mit einem Essay zu tun. Während nämlich die als erzählerisch eingestuften Arbeiten von einem kaum zu überhörenden Kommentar oder inneren Monolog durchdrungen sind, löst in uns das gewagte Simultanspiel zwischen dem Ungarischen und dem Deutschen eindeutig einen Handlungseffekt aus.

Genauer gesagt: die Ich-Erzählerin des Gesamtwerks unserer Autorin ist die Sprache. Diese erzählt uns, was mit jener geschah und geschieht, und über sie begreifen wir die Geschichte von sprechenden Menschen und Landschaften. Uns ergeht es dabei wie in einem alten Kinderspiel: Sag mir ein Wort und bilde aus dessen letzten Lauten ein anderes, ungefähr so: Heimat – Atmen – menschlich – Lichtsäule – Leben. Scheinen hier nicht etwa die Konturen einer Geschichte auf?

Vielleicht erscheint es nicht als Mystifizierung, wenn ich die exklusive Rolle der Sprache teilweise aus der Vita von Zsuzsanna Gahse ableiten will. Als zehnjähriges Kind beteiligte sie sich an dem traurigen Exodus der zweihunderttausend Ungarn, der auf die Unterdrückung des Volksaufstandes 1956 folgte. Man sagt, Kinder gewöhnten sich schneller als Erwachsene an eine neue Sprache. Gut möglich; aber sie erleben intensiver den damit verbundenen Identitätswechsel. Bei aller Anpassungsfähigkeit bewahren sie in sich, manchmal eher melodisch als semantisch, die Worte der frühen Jahre. Und weil die «gerettete Zunge» das Selbstgespräch jahrzehntelang dominiert, steigt das leidenschaftliche Interesse an dem neuen Vehikel der Kommunikation automatisch. Man will als Ankommende das Fremde besser verstehen und sich genauer vermitteln.

Die Vertiefung in die geheimsten Nuancen der deutschen Sprache und die Vorliebe für die akribische Beschreibung der Umgebung – Eigenschaften, die bei der damals angehenden Autorin ihr Tutor, Helmut Heißenbüttel, bewusst gefördert hatte – sind ein ewiger Versuch, die eigene Welt in Besitz zu nehmen, die Landschaft, die Gesichter und die Geschichte zu sichten. In dem Meisterwerk «durch und durch» wird die winzige schweizerische Ortschaft Müllheim im Kanton Thurgau aufs Korn genommen und erweist sich überraschend als Knotenpunkt zwischen Ost und West, wie eine virtuelle Grosse Seidenstrasse. Die Erzählerin sitzt am Fenster und blickt gleichzeitig hinaus und hinein. Sie öffnet unserem Blick Alltag und Historie, Dorfklatsch und Urmythen, geheimnisvolle Besucher, durchziehenden Verkehr und milde Spätsommer. Wir bewegen uns kaum, stehen mit an Zsuzsannas Fensterbrett.

Sie selbst fährt weiter zwischen Sprachen und Kulturen, verleiht ihre Stimme dem Werk von Péter Esterházy, Péter Nádas, Zsuzsa Rakovszky und anderer ungarischer Autoren. Sie ist eine Ungarin, in Deutschland zu Hause, ebenso wie seinerzeit Adelbert von Chamisso als Franzose in Deutschland heimisch werden konnte. Ihr Werk und Wirken sind ein vorzüglicher Trost für die Sprachverwirrung von Babel.

György Dalos, geboren 1943 in Ungarn, erhielt 1995 den Adelbert-von-Chamisso-Preis. Der Schriftsteller lebt in Berlin.

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