Zivilisation und Verachtung
Frankreich hat die Terrorattacken der kriminellen Vereinigung mit Staatsanspruch in Irak und Syrien (ISIS) in Paris als kriegerischen Akt bezeichnet – und befindet sich nun offiziell im Krieg mit dem selbsternannten Kalifat. Nach französischer Lesart der UN-Charta, die sich auf die neue amerikanische Interpretation nach 9/11 stützt, schliesst die Möglichkeit zur Selbstverteidigung einer attackierten Nation […]
Frankreich hat die Terrorattacken der kriminellen Vereinigung mit Staatsanspruch in Irak und Syrien (ISIS) in Paris als kriegerischen Akt bezeichnet – und befindet sich nun offiziell im Krieg mit dem selbsternannten Kalifat. Nach französischer Lesart der UN-Charta, die sich auf die neue amerikanische Interpretation nach 9/11 stützt, schliesst die Möglichkeit zur Selbstverteidigung einer attackierten Nation auch den Angriff auf das Territorium der Angreifenden ein. Neuralgisch wichtige Punkte des ISIS in Syrien und Irak werden im Zuge des erklärten Krieges verstärkt unter Beschuss genommen. Fest steht: das Bombardement wird sich hinziehen. Und klar ist auch: Dauer und Ausgang bleiben ungewiss.
Die kulturelle Selbstbehauptung der freien Welt ist derweil bloss in vagen Konturen erkennbar. Das in den letzten Jahrzehnten vom Frieden verwöhnte Europa wähnt sich weiterhin in einem traumähnlichen Zustand der gesellschaftlichen Nachgeschichtlichkeit. Der Prozess des Aufwachens dauert schon seit über zehn Jahren, spätestens seit den grausamen islamo-terroristischen Zuganschlägen in Madrid im Jahre 2004. Noch immer dominieren Selbstbeschwörungsformeln den Diskurs. Man wirbt für universelle Offenheit und Toleranz – und gibt damit doch nur zu verstehen, dass man angesichts der Grausamkeit der neuen Islamo-Terroristen mental kapituliert hat.
Die Avantgarde der angeblich Toleranten unterstellt den Gewalttätigen und ihren Unterstützern, dass sie letztlich dasselbe anstrebten wie die Europäer, wenn sie denn nur könnten: ein Leben in Frieden, Wohlstand und Stressfreiheit. Aus dieser Optik der «Fortschrittlichen» braucht man den «Zurückgebliebenen» bloss die Chance hierfür zu bieten, und alles wird gut. Hinter der angeblichen Toleranz verbirgt sich also, recht bedacht, eine uneingestandene Überheblichkeit: Die friedliche Europäerin, der abgesicherte Europäer ist das Mass aller Dinge. Der Preis dieser Arroganz ist ein nagendes Schuldgefühl. Wenn die anderen ihr Leben nach europäischem Vorbild nicht führen können, dann vor allem darum nicht, weil die wohlhabenden Europäer es ihnen nicht zugestehen. Letztere sind verantwortlich für den bemitleidenswerten Zustand der Nachbarn und damit für den aggressiven Modus, in dem diese unterwegs sind. Die Terroristen sind in dieser Optik nicht die Täter, sondern Opfer.
Eine solche Haltung ist nicht tolerant, sondern dumm. Bei John Locke, der in seinem «Letter Concerning Tolerance» (1689) tolerantes Verhalten zur Basistugend einer – in diesen Tagen oft angemahnten – liberalen Gesellschaft erklärt hat, lässt sich nachlesen, was die unerlässliche Voraussetzung für Toleranz ist: die Anerkennung des anderen in seiner Freiheit. Diese Einsicht aber geht den Neu-Toleranten völlig ab. Sie weigern sich anzuerkennen: Wenn Islamo-Terroristen wahllos Menschen abschlachten, haben sich diese hierfür aus freien Stücken selbst entschieden. Weder materielle Armut noch die immer wieder ins Feld geführte Perspektivenlosigkeit oder ihre vermeintliche Ungebildetheit begründen ihre Taten. Wollen die Europäer ernst machen mit der vielzitieren Liberalität, haben sie zuallererst wieder zu lernen, die Islamo-Terroristen in der ganzen Grausamkeit ihres Handelns ernst zu nehmen. Todernst.
Toleranz bedarf der Wechselseitigkeit – wer die Freiheit des anderen bloss dadurch anerkennt, dass er sie auslöschen will, verdient selbst keine. Toleranz den Toleranten, Intoleranz den Intoleranten, war die berühmte Losung Karl Poppers im Anschluss an John Locke. Doch was heisst das konkret? Zuerst einmal bedeutet es das Eingeständnis: nicht alle wollen sein wie wir, aber wir wollen sein wie wir. Die Lebensweise der frei verfassten Welt ist eine – wenn auch stets prekäre – zivilisatorische Errungenschaft und nach Massstäben der Vernunft tatsächlich anderen Lebensarten überlegen. Überlegenheit meint nicht Überheblichkeit, führt aber zu einer selbstbewussten Beurteilung der Lage.
Die nötige Selbstvergewisserung kann indes nur vor dem Hintergrund einer radikalen Reform unserer erstarrten Denk- und Debattenkultur geschehen: Die politisch-korrekte Überstrapazierung des Diskurses gehört ebenso überwunden wie die mittlerweile offensichtlich mehrheitsfähige Haltung des universalen Kulturrelativismus. Die kognitive Dissonanz – öffentlich Verständnis heucheln gegenüber unmenschlichen Überzeugungen und Praktiken und sie im Stillen dennoch verurteilen –, die zahlreiche politische Pathologien hervorgebracht hat, darf nur zu gern zu ihrem Ende kommen. An ihre Stelle tritt das Prinzip der «zivilisierten Verachtung», wie es von Carlo Strenger, Professor für Psychologie und Philosophie in Tel Aviv, in seinem neuen Buch vertreten wird: «Zivilisierte Verachtung ist die Fähigkeit, zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren.»
Die Verachtung, die ihre Feinde ernst nimmt, steht am Ende eines Lernprozesses, der erst begonnen hat. Die westlich-kulturelle Selbstbehauptung dürfte kräftezehrender sein als die militärische und polizeiliche Selbstverteidigung, denn die Ressourcen dafür sind noch knapper bemessen als jene der europäischen Streitkräfte. Aber das Unterfangen ist unerlässlich. Denn die Verteidigung der Freiheit findet letztlich nicht im Sand der Schlachtfelder des Nahen Ostens statt, sondern in den Köpfen Europas.