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Ziegelsteindick über zwei Zürcher im 18. Jahrhundert…

Anett Lütteken & Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.): «Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung». Göttingen: Wallstein 2009

«Was ist dichten anders, als sich in der Phantasie neue Begriffe und Vorstellungen formieren, deren Originale nicht in der gegenwärtigen Welt der würklichen Dinge, sondern in irgend einem andern möglichen Welt-Gebäude zu suchen sind. Ein jedes wohlerfundene Gedicht ist darum nicht anderst anzusehen als eine Historie aus einer anderen möglichen Welt.» Das stammt von Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und steht in seiner 1740 veröffentlichten «Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen». Dieses Werk wird zitiert, sobald es um den für das 18. Jahrhundert zentralen, bisweilen sehr hitzig ausgefochtenen «Literaturstreit» zwischen den «Leipzigern» und den «Zürchern» geht. Der Zwist mag heute nur noch Germanisten interessieren, Bodmer aber bleibt eine hochinteressante Persönlichkeit, ebenso wie sein Freund und Mitstreiter Johann Jakob Breitinger (1701–1776). Dass man sie, weit über ihre Schriften gegen Gottsched und Konsorten hinaus, als Überväter des geistigen Zürich im 18. Jahrhundert und damit als Begründer einer neuen intellektuellen Metropole Europas bezeichnen darf, legt ein ziegelsteingrosser, brandaktueller und streckenweise sehr spannender Sammelband nahe, den ironischerweise zwei an der Universität Bern lehrende Expertinnen herausgegeben haben. Eine von ihnen, Barbara Mahlmann-Bauer, hat Bodmer und Breitinger übrigens einen lesenswerten Beitrag in der Zeitschrift «Der Deutschunterricht» (4/2009) gewidmet – deren Schwerpunktthema heisst – für eine deutsche Fachzeitschrift sensationell – «Zürich».

Die beiden Johann Jakobs, die von der Geschichtsschreibung und der geisteswissenschaftlichen Forschung bis vor kurzem arg vernachlässigt worden sind, haben es in sich. Das neue, aus einer Zürcher Tagung hervorgegangene Grundlagenwerk versucht, ihrem reichhaltigen Lebenswerk mit 32, auf sieben Abteilungen verteilten Aufsätzen und einem nützlichen Anhang gerecht zu werden und dabei mit alten Vorurteilen aufzuräumen. Die ersten fünf Studien, darunter ein grandioser Essay von Carsten Zelle, widmen sich der «Ästhetik und Poetik» der beiden Zürcher. Dann geht es um «Theologische Positionen», wobei das Collegium Carolinum eine wichtige Rolle spielt – wie denn überhaupt herauszustellen ist, dass die Verwurzlung Bodmers und Breitingers in ihrer Vaterstadt in diesem Buch gebührend berücksichtigt wird. Das gilt besonders für die dritte Abteilung, die die Überschrift «Bodmers Schauspiele und vaterländische Geschichte» trägt, aber auch für die vierte, die «Zürcher Schüler und Zeitgenossen» vorstellt, unter ihnen Lavater, Hirzel, Klopstock und Wieland. Zwei äusserst aufschlussreiche Abhandlungen machen Teil V aus: Christoph Eggenberger beschäftigt sich mit Bodmers «Entdeckung» der «Manessischen Liederhandschrift», und Gesine Lenore Schiewer nimmt seine Sprachtheorie unter die Lupe – zu beiden Themen hätte man, kritisch sei’s angemerkt, gerne noch mehr gelesen. Weitere fünf Studien drehen sich um die «Beziehungen zu den Künsten und zur Musik», und die Abteilung VII bildet Urs B. Leus hilfreiche Arbeit über Bodmers Privatbibliothek.

Natürlich ist das Ganze, wie schon die luzide Einleitung der beiden Herausgeberinnen Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer deutlich macht, auf dem neuesten Stand der Forschung. Um Lesbarkeit hat man sich ebenfalls bemüht – sprachliche Verstiegenheiten sind selten. Fazit: ein dicker kulturwissenschaftlicher Wälzer, das schon. Aber quicklebendig und hochinteressant für alle, die sich für die Vergangenheit des intellektuellen Zürich und die Geistesgeschichte der Schweiz begeistern lassen.

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