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Zerrinnerungen. Fritz Senn zu James Joyce

Christine O’Neill: «Zerrinnerungen. Fritz Senn zu James Joyce». Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2007.

Zerrinnern mit Fritz Senn

Allein schon der Titel hat etwas Widerständiges und Offenbarendes: Zerrinnerungen. Eine Fusion aus Zerrinnen und Erinnerung, ein Rinnsal, das zum Gedächtnisstrom wird und umgekehrt, ein unwillkürliches Verzerren des Gewesenen im und durch den Erinnerungsakt. Ein Band liegt uns vor, der etwas Ungewöhnliches bietet: kulturelle Überlieferung zum Thema «James Joyce und seine Gemeinde», enthusiasmiert und über philologische Detailfragen zerstritten wie sie ist – und das in Gestalt eines beinahe vierhundertseitigen Gesprächs zwischen gut zwei Generationen von Joyce-Experten, zwischen Fritz Senn, einem Joyceaner der ersten Stunde, der die Literatur dieses Grossen unter den Weltliteraten geradezu lebt und atmet, einem der profundesten Kenner des Werkes und dessen Aufnahme in den Literaturen und philologischen Wissenschaftszirkeln der Welt – sowie Christine O’Neill, einer irischen Joyce-Weisen, einst von Fritz Senn entdeckt und gefördert. Was beiden gemeinsam ist: ihre institutionelle Unabhängigkeit; Privatgelehrte sind sie, und diese so selten gewordene Ungebundenheit im akademischen Betrieb bestimmt den sehr ansprechend gestalteten Gesprächsband. Auch für Leser, die weniger genau mit dem Werk von Joyce vertraut sind, lohnt die Lektüre dieses Kulturdokuments, das gleichzeitig in «The Lilliput Press» in Dublin erschienen ist.

Man möchte keine Seite dieses Gesprächsbuches missen, selbst jene nicht, die Wiederholungen von bereits Gesagtem bringen; denn das gehört ja zur Authentizität eines jeden substantiellen Gesprächs. «Bis ein Gespräch wir sind» heisst es bei Hölderlin; die «Zerrinnerungen» lösen diese poetische Hoffnung ein, ein Gespräch, gestiftet von James Joyce. In diesem Buch fluten die Texte und Gedanken zwischen Limmat und Liffey; sie kreisen, meist konzentrisch, um grosse Themen (die Frage der «Sprache», der Edition – man denke an die nie beigelegten Querelen zwischen Hans Walter Gabler und John Kidd zur Frage des korrekten Ulysses-Textes – der Übersetzung und Mythen) sowie um die kleinen, sich für gross haltenden Querelen zwischen den verbissenen Joyceanern (in welcher literarischen Gemeinde fände man dergleichen nicht!), die Senn mit souveräner Ironie schildert und bedenkt. Überhaupt bringt sich hier ein grandioser Causeur ins Gespräch, der mich, pardon, oft mehr an Fontanes Idee der Causerien erinnert als an den eher gesprächskargen Joyce. Es liessen sich hier seitenweise Bonmots aus diesem Gesprächsband zitieren, Maximen zur Editionsweisheit, Einsichten über das Funktionieren literarischer Gesellschaften, aber eben auch Reflexionen zum Thema «Erinnern», was ja für Joyceianer mit einer unbedingten Zeitpunktgenauigkeit verbunden ist, gibt es doch einen heiligen Tag in deren Kalender, der 16. Juni (1904), Bloomsday, an dem sich Joyce und Nora Barnacle erstmals sehr nahe gekommen waren. Und wie es sich mit Leopold Blooms und Stephen Dedalus’ gleichfalls an diesem Tag unternommenen Streifzügen durch Dublin verhält oder nicht, erfahren wir in diesem Band auch. Nebst anderem finden sich in den «Zerrinnerungen» Wortprägungen Senns, die bleiben werden: die mir angenehmste lautet «Tychomatik» (sprich: «Machenschaften des Zufalls»), der Senn einen grossen Einfluss auf das Erinnern wie auf Konstellationen zubilligt, die unter anderem die Gründung der Zürcher James-Joyce-Stiftung ermöglichte. Mit Fritz Senn sich zu zerrinnern hat etwas ungemein Inspirierendes.

vorgestellt von Rüdiger Görner, London

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