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Zen-Gestank und die Kunst, ein Motorrad zu warten
Dan Meyrowitsch, zvg.

Zen-Gestank und die Kunst, ein Motorrad zu warten

Wer Motorrad fährt, riskiert sein Leben. Genau das macht die Zweiräder zu ­einer Ikone verschiedenster Gegenkulturen.

 

Read the English version here.

 

Auch wenn Motorräder in vielen Gegenden der Welt vorwiegend als Fortbewegungsmittel dienen, wurden die Zweiräder seit Produktionsbeginn 1894 auch als ikonisches Symbol gewisser Kulturen und Moden wahrgenommen und auch als solches eingesetzt. Dafür – wie auch für den Status der Maschine – gibt es verschiedene Gründe, von denen manche weniger mit dem Motorrad als unmittelbarem Objekt, dafür aber umso mehr mit der Fahrt zu tun haben.

«Manchmal ist es etwas besser zu reisen denn anzukommen»: Zum ersten Mal begegnete ich diesem Zitat in Robert Pirsigs 1974 erschienenem Buch «Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten». Heute gilt diese fiktionalisierte Autobiografie als philosophischer Schlüsseltext für jene Generation, die für den Aufbruch von 1968 zu spät und für gegenkulturelle Bewegungen wie Punk zu früh kam.

Das Buch kann auf mehrere Weisen gelesen werden. Es handelt sich um die Beschreibung eines sich über Monate erstreckenden Motorradtrips des Erzählers und seines Sohnes, die deren Fahrt durch die Vereinigten Staaten schildert. Zudem ist die Geschichte eine Untersuchung des Verstandes und der Sinne, die den Schwerpunkt auf die Analyse von Werten sowie der Gesellschaft legt. Für die Abhandlung spielen Konzepte aus dem buddhistischen Denken eine wichtige Rolle, die relative und absolute Wahrheiten genannt werden. Gleichwohl ist es für den Leser nicht entscheidend, mit diesem Denken vertraut zu sein, um die Fahrt oder die Überlegungen des Erzählers nachzuvollziehen.

Kein Raum für Fehler

Ich habe das Buch im Laufe der vergangenen 30 Jahre mehrfach gelesen. Ich halte es nach wie vor für anregend und interessant. Allerdings haben mir die Kontraste, die es aus­füllen, nie gefallen. Ich verstehe, dass Pirsig auf Widersprüche setzte, um die von ihm beschriebenen Phänomene zu beleuchten und an ihnen seine tieferliegenden Überlegungen darzulegen. Doch diese Erzählungen lassen das Buch müffeln: Es stinkt nach Zen. Das ist keine Formulierung, die ich mir habe einfallen lassen, sondern meint ein wohlbekanntes Phänomen, wenn eine Person, die Buddhismus praktiziert, zu viel über Zen spricht. Der Buddhist oder die Buddhistin wähnt sich der Erleuchtung nahe, bringt jedoch nur jenen Lärm hervor, der ihn oder sie von der Reise hin zur Erleuchtung abhält. Allerdings wäre das Buch ohne jenen Zen-Gestank wohl kaum je ein solcher Erfolg geworden. Sein Geruch ist notwendiger Kollateralschaden.

«Nach all den Jahren auf zwei Rädern

verspüre ich jedes Mal,

wenn ich in unsere Einfahrt einkehre,

den erhebenden Eindruck,

lebend von der jüngsten

Ausfahrt zurückgekehrt zu sein.»

Pirsig verwendet Motorrad als Mittel, um das Selbst, den Verstand und das Sinnesvermögen zu analysieren. Seine Untersuchung basiert auf der detaillierten Zer­legung der einzelnen Bestandteile des Motorrads, der Frage, wie diese interagieren und wie die Energie sie durchläuft. Zugleich geht es aber auch um den Fahrer, um dessen Wahrnehmung des Motorrads und der Strasse. Könnte der Erzähler dieselben Überlegungen nicht auch am Beispiel eines Autos oder einer Kuckucksuhr formulieren? Nein. Das Motorrad ist keine zufällige Wahl. Dem Motorradfahren sind Qualitäten zu eigen, die einen Raum eröffnen, um zwischen den Themen zu changieren, mit denen sich Pirsig und der Erzähler des Buches beschäftigen. Motorradfahren ist selbst kontrastreich, eine in vielerlei Hinsicht einzigartige Beschäftigung, die gleich­zeitig Elemente von Stärke, Kontrolle und Verwundbarkeit aufweist. Im einzelnen: Stärke. Das Motorrad ist hervorragend, was Leistung im Verhältnis zu Gewicht angeht. Wird die Leistung pro Kilogramm berechnet, weist ein zeitgemässes Motorrad im Vergleich zu brandneuen Elektrosupersportwagen die doppelte Leistung und Traktion auf. Vor allem, wenn die Ampel von Rot auf Grün springt.

Kontrolle. Ein Gefährt mit solcher Kraft wie ein Motorrad zu lenken, ermöglicht die ausserordentliche Erfahrung von Kontrolle. Wie Fahrer dies erleben, fällt überaus unterschiedlich aus. Ich selbst singe während der Fahrt sehr laut (und falsch) unter meinem Helm. Warum das so ist, weiss ich nicht. Es geschieht einfach. Den meisten Menschen dürfte mein Erleben von Kontrolle und meine Reaktionen hierauf kindisch vorkommen.

Verwundbarkeit. Kontrolle und Kontrollverlust trennt ein schmaler Grat. Das Motorradfahren gewährt keinerlei Spielraum für Fehler. Der Bruchteil einer Sekunde an Unaufmerksamkeit kann zu lebenslanger körperlicher Behinderung führen oder den plötzlichen Tod herbeiführen. Die meisten Motorradfahrer haben über diese Risiken nachgedacht. Ähnlich dem Protagonisten in Pirsigs Buch hatten sie beim Fahren Nahtoderlebnisse. Das macht das Motorradfahren zu etwas Besonderem. Autofahren ist ganz anders. In einem Auto sitzt der Fahrer ausbalanciert auf vier Rädern in einer geschlossenen Kabine und betrachtet die Welt durch ein Fenster. Das Auto schirmt ab – sowohl den Körper als auch das Bewusstsein. Unabhängig von der Geschwindigkeit kommt es bei einem Unfall mit dem Motorrad fast immer zu Nahkontakt mit der Strasse oder mit anderen Fahrzeugen. Diese Verwundbarkeit verändert die Wahrnehmung der Kontrolle. Ein grundsätzlicher Ratschlag an neue Fahrer lautet, das Gaspedal niemals mit dem Ego zu bedienen. Damit wären wir auch wieder bei der buddhistischen ­Fixierung aufs Ego – und der Einsicht, dass das Ego lediglich eine trügerische Projektion des Verstandes ist.

Überleben ist nicht garantiert

Nach all den Jahren auf zwei Rädern verspüre ich jedes Mal, wenn ich in unsere Einfahrt einkehre, den erhebenden Eindruck, lebend von der jüngsten Ausfahrt zurückgekehrt zu sein. Damit ist keineswegs gemeint, dass Motorradfahrer ­generell einen Todeswunsch verspüren – im Gegenteil. Es handelt sich um eine weitere Verbindungslinie zum philo­sophischen Rahmen, der Pirsigs Buch auszeichnet. In der buddhistischen Praxis arbeitet man tagtäglich daran, die Einsicht zu akzeptieren, dass man sterben muss, um damit zum Bewusstsein vorzudringen, dass der Tod heute, morgen oder später eintreten kann. Klammern Sie sich an Ihren ­Lenker!

Der Motorradfahrer durchquert einen Raum, den eine Kombination aus Stärke, Kontrolle und Verwundbarkeit hervorbringt. Diese Kombination gewährt eine einmalige Erfahrung der Landschaft, durch die man fährt, wobei die Reise wie gesagt oftmals attraktiver ausfallen kann als die Destination. Andererseits: Bei der Heimkehr erwartet einen die Einsicht, noch immer am Leben zu sein. Ich würde deshalb behaupten, dass Pirsig eine Reihe bedeutsamer Gründe dafür hatte, in seinen Überlegungen zu Werten und zur Wirklichkeit das Motorrad zu einem Tool zu machen. Ich habe kaum Zweifel daran, dass es hierbei um dieselben Gründe handelt, die dafür gesorgt haben, dass das Motorrad über ein Jahrhundert lang in diversen Gegenkulturen zum ikonischen Symbol avancierte.

Rock und Rebellion

Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten zurückgekehrte amerikanische Soldaten ihre eigenen Motorradclubs. Manche dieser Soldaten waren traumatisiert in ihre Heimat ­zurückgekommen und verspürten Entfremdung von der Gesellschaft und von den Werten, für die sie gekämpft ­hatten. In den Clubs fanden sie Gleichgesinnte, mit denen sie neue Werte begründeten sowie Regeln aufstellten. Nach dem Vietnamkrieg wiederholte sich dieses Muster.

«Ein grundsätzlicher Ratschlag

an neue Fahrer lautet,

das Gaspedal niemals mit

dem Ego zu bedienen.»

In Grossbritannien florierte in der Nachkriegszeit die Café-Racer-Kultur der Rocker. Die jungen Menschen der 1950er-Jahre hatten Schwierigkeiten, sich mit der Generation ihrer Eltern zu identifizieren. Für die erste Riege der Rocker war es wichtig, britische Motorräder zu zer­legen, neu zusammenzubauen, auszufahren und in den Cafés Rockmusik zu hören. In diesem Zuge entstanden die Mods («Modernists») als neue Gegenkultur, die sich von den Rockern und deren Lederjacken, schweren Stiefeln sowie von der schieren Kraft der britischen Maschinen absetzten. Mods fuhren typischerweise italienische Scooter, und die Männer auf ihnen trugen häufig weisse Hemden, schmale schwarze Krawatten, Dufflecoats und saubere italienische Schuhe – eine etwas schräge Version des klassischen britischen Business-Dresscodes. Einer der wichtigsten Filme jener Ära ist «Der Wilde» von 1953.

Von den 1960er-Jahren an breitete sich die Motorradkultur zunehmend global aus. Es wurden viele Clubs ­gegründet, die von der US-amerikanischen Bikerkultur inspiriert worden waren oder aber von Filmen, die Biker als freibewegliche Freigeister darstellten. Bei dieser ­Popularisierung spielte der Film «Easy Rider» (1969) eine wesentliche Rolle. Die neuen Motorradclubs in Europa, Kanada, Australien und Neuseeland waren entweder Ableger der US-amerikanischen Clubs oder entstanden als rein lokale Initiativen. Grundsätzlich wiesen diese Clubs viele Gemeinsamkeiten auf, was Motorräder, Aufmachung, Symbole, Rhetorik und die Organisationsstrukturen anbelangte.

Das bleibende Symbol der Gegenkultur

In den vergangenen 20 Jahren erlebte der britische Café-Racing-Style ein merkliches Comeback und blüht nun weltweit auf. Eine Neo-Café-Racing-Szene gibt es heute fast in allen Grossstädten der Welt, inklusive derjenigen in Asien, Afrika und Südamerika. Im Gegensatz zu den eher homogenen Aufmachungen der klassischen Bikerclubs mitsamt ihren internen Regeln und Vorschriften stehen sie für die aufgeschlosseneren Teile der Gesellschaft. Alle sind willkommen, unabhängig von Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, Herkunft und präferiertem Motorrad wie Stil. Falls es ein Mantra gibt, lautet es: Anything goes!

So dürfte das Motorrad weiterhin ein starkes Symbol einer sich stetig wandelnden Abfolge von Gegenkulturen bleiben. Ob man den Gestank von Zen wertschätzt oder nicht: Es war keineswegs Zufall, dass Robert Pirsig statt einer Kuckucksuhr ein Motorrad wählte, um das Selbst, den Verstand und die Welt zu analysieren, in der wir ­leben, leiden und sterben. Pirsig starb 2007. Lebt lang und fahrt!

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