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Zeltstadt in Beirut

Seit Monaten steht die gewählte Regierung des Libanons unter einer lebensbedrohlichen Belagerung. Den Beobachter an Ort und Stelle erinnert die Dauerdemonstration an ein gettogether linker Hippiedemonstranten der 68er Zeit. Totalitarismus beginnt oft harmlos.

Rund um das Regierungsgebäude hat ein Bündnis der gewalttätigsten und unappetitlichsten politischen Kräfte des Landes – der fundamentalistischen Hisbollah und der Anhänger des (christlichen!) Ex-Generals Aoun – die Bewegungsfreiheit von Ministerpräsident Siniora und seinen Ministern blockiert. Eine Zeltstadt mit Demonstranten. Es besteht akute Lebensgefahr für alle Kabinettsmitglieder, die der Hisbollah im Wege stehen. Der Mord an Pierre Gemayel hat dies brutal vor Augen geführt. Gottesstaat statt Demokratie – das ist im Libanon durchaus eine reale Gefahr.

Dort hingehen, um sich das «einmal anzuschauen»? Eine Idee, zu verwegen, um ihr zu widerstehen. Von der sachlichen Atmosphäre einer Wirtschaftskonferenz, die unbehelligt in der Nähe tagt und die die unverzagt entspannte Stimmung in Beirut mit Erstaunen geniesst, in die Höhle des Löwen! Die Erwartung von düsterem Fanatismus lässt uneingestandene Ängste aufkommen. Die Anhänger des mörderischen Schiitenführers Nasrallah – wie werden sie westliche Besucher empfangen? Vorsichtig nimmt eine kleine Gruppe liberal gesinnter Ökonomen das Zeltdorf in Augenschein und ist zunächst einmal perplex. Die Überraschung könnte kaum grösser sein. Da unten scheint so etwas wie eine grosse Party zu steigen. Das macht Mut, doch mal näher heran- oder gar hineinzugehen. Der überraschende Eindruck verdichtet sich. Ja, Party ist der richtige Ausdruck. Es ist fast 22 Uhr. Die Jungen dominieren das Bild. Man sitzt ums Lagerfeuer und singt – nicht düster, sondern fröhlich. Junge Männer mit gelben Hisbollah-Schals um den Hals schlendern zwischen den Verkaufsständen umher, die Nasrallah-Memorabilien oder Süsswaren anbieten. Die Freundin im Arm trägt im Regelfall nicht Schleier, sondern bauchfrei. Fast tänzerisch dreht ein Skateboarder mit der gelben Hisbollahfahne in der Hand eine kleine Pirouette um uns, bevor er wieder in der Menge verschwindet.

Nebenan versuchen immer wieder einige Jungen und Mädchen, im Kreis Arm in Arm hüpfend, ein Lied zu Trommelschlägen anzustimmen. So richtig klappt es nicht, was dem Spass und Lachen aber kaum Abbruch tut. Auf den Bordsteinen sitzen vor ihren Wasserpfeifen kleine Gruppen junger Leute, die mit ihrer Kopfbedeckung und dem rudimentären Bart etwas islamischer aussehen als die meisten anderen Jugendlichen. Die entspannten Gesichter machen einen leicht bekifften Eindruck… der anscheinend nicht täuscht. Einer aus unserer Gruppe, der sich als Jordanier mit vielen Demonstranten friedlich unterhält, erklärt, diese Gruppe käme aus der von der Hisbollah mehr oder weniger kontrollierten Südregion des Landes. Sie demonstrierten für ihr altes Recht, dort Marihuana anzubauen, was ihnen die Mächte des westlichen Imperialismus ständig verbieten wollten. Das ist nicht der Tugendterror, den man erwartet. Wo bleibt das sittenstreng Fanatische, das Reaktionäre, das man hier erwartet hat? Das sollen Gotteskrieger sein?

Gewalt? Mehr Klarheit schafft vielleicht der Blick auf die politische Symbolik, die auf Fähnchen, auf Postern, Mützen oder Schals demonstrativ zur Schau getragen wird. Doch auch hier wird es immer grotesker. Die Dauerdemonstration, die von so eindeutig antidemokratischen Kräften wie der Hisbollah und ihren syrischen Hintermännern initiiert ist und deren Zwecken dient, scheint in ein frisches Orange getaucht. General Aouns Anhänger haben sich diese Farbe als Markenzeichen erkoren. Man gibt sich ganz im Geiste der demokratischen Revolution in der Ukraine. Aber dies ist nicht Kiew, sondern Beirut. Dies ist keine demokratische Revolution. Umso mehr erstaunt, dass die ausgelassenen jungen Menschen im orangen Outfit, die hier im Dienste eines Terrorpredigers agieren, es offensichtlich ernst meinen. Was hier abläuft, wird von ihnen als fröhliche demokratische Manifestation wahrgenommen.

Hinter dem orangen Schleier, der alles so schön drapiert, kommt aber bald schon anderes zum Vorschein. In einem grossen Zelt, das etwas im Hintergrund steht, scheinen sich die widersprüchlichen Botschaften zu kumulieren. Neben den hier dominierenden Bannern im islamischen Grün und im Hisbollah-Gelb findet sich unangefochten eine Fahne der untergegangen Sowjetunion. Zu der Kombination Hammer, Sichel und Halbmond gesellen sich auf kleinen Fähnchen, die das Zelt umrahmen, kaum kaschierte und verfremdete Hakenkreuzsymbole. Sie, so klärt sich auf, gehören zu einer «Gross-Syrien-Partei», die sich im Libanon in den 50er Jahren formiert hat und die sich direkt von Hitler und Mussolini inspirieren liess. Ihr «Gross-Syrien» umfasst nicht nur das heutige Syrien, den Irak, Jordanien und den Libanon, sondern gleich auch noch Zypern. Die Leute im Zelt können noch so fröhlich singend um ein Feuer tanzen, der Nachgeschmack wird doch langsam bitter.

Was hält diese Leute – die Islamisten, die Sowjetanhänger und die Arabo-Nazis – eigentlich zusammen? Immer wieder geht einem bei diesem ideologischen Gemisch der Ausspruch Arthur Möller van den Brucks durch den Kopf, des führenden Nazi-Ideologen, der 1923 in seinem Buch «Das Dritte Reich» feststellte, dass sich alles, was nicht liberal sei, irgendwann gegen alles vereinige, was liberal sei. Diese finstere Gesetzmässigkeit scheint sich hier besonders krass zu bestätigen, obwohl es auch in westlichen Ländern eine immer grössere Konvergenz linker und rechter Antiglobalisierer gibt – immer einig in der antiliberalen Stossrichtung. Hier in Beirut läuft alles zusammen. Überall sieht man ein Plakat, das in der Mitte den Islamisten Nasrallah zeigt, daneben Abdel Gamal Nasser (der seinerseits Islamisten hinrichten liess, was aber niemanden mehr stört), und daneben Hugo Chavez, der venezolanische Populistenherrscher, der als Zeuge gegen die Globalisierung angeführt wird.

Es bleibt trotzdem das Geheimnis: Wie lässt sich die jugendliche, ja fast zirkushaft libertinäre Stimmung mit den politischen Zielen der Drahtzieher in Einklang bringen? Ausgerechnet mit dem militanten Islamismus? Ist es Naivität? Bei einigen jungen Leuten vielleicht, aber bei allen? Die Erklärung greift zu kurz. Schliesslich ist dies ein immer wieder auftauchender Topos, den jeder Totalitarismusforscher kennt. Die Nazis waren – das wird gerne übersehen – eine äusserst juvenile Bewegung, die Unkonventionalität förderte und ausnutzte. Sie lebte, zumindest teilweise, von ausgesprochen antibürgerlichen Ressentiments. Dem trüben Sowjetkommunismus lag die Befreiungsideologie des Marxismus zugrunde. Auch sie hatte eine unglaublich starke Anziehungskraft auf juvenile Gemüter. Der islamistische Fundamentalismus ist der heutige Erbe dieser Totalitarismen. Warum sollte er sich anders verhalten?

Totalitäre Ideologien appellieren an den unbändigen Instinkt, sich auszuleben. Instinkt in seiner Urwüchsigkeit will direkte Aktion (bis hin zur direkten Gewalt), will sie ohne Bindung an Regeln, Konventionen und Institutionen, die nur als lästig und hemmend empfunden werden. Gerade diese Schrankenlosigkeit ist ja die Handlungsmaxime jeder totalitären Herrschaft. Es ist letztlich egal, wie man diese Schrankenlosigkeit erreicht. Sie kann auch im Namen vorgeblich pazifistischer Anliegen angestrebt werden. Lenin war Kriegsgegner. Robespierre war – bevor er unzählige Menschen auf die Guillotine karren liess – ein vom Rousseauschen Sentimentalismus geprägter Gegner der Todesstrafe. Ist das zivilisatorische Regelwerk erst einmal abgestreift und durch direkte, unkonventionelle und «authentische» «Menschlichkeit» ersetzt, ist der Weg zur Barbarei beschritten. Und die ist nun einmal nicht so, wie die Sozialromantiker sie sich vorstellen, die in guter Absicht totalitäre Utopien verkünden.

Warum sind Che-Guevara-T-Shirts wieder so sehr in Mode? Der Mann war ein sturer Stalinist, der die Menschen in einem einzigen grossen Konzentrationslager halten wollte. Doch er war auch ein unkonventioneller Bohemien. Dadurch liess sich ein brutales, niedriges Terroristenleben in eine romantische Manifestation authentischen Strebens, in einen freigeistigen Individualismus umdeuten. Die Deutung ist abstrus, aber sie funktioniert. Sie ist ein genialer Exkulpierungsmechanismus. Er basiert auf tief verwurzelten In­stinkten und Wünschen.

Die jungen Demonstranten in Beirut sind auf irgendeine Weise kleine Möchte-gern-Che-Guevaras. Revoluzzer und Bohemiens zugleich. Im islamistischen Kontext ist das nur auf den ersten Blick überraschend. Den gewaltbereiten ­Islamismus nur als ultrakonservativ oder «mittelalterlich» zu interpretieren heisst, ihn missverstehen. Es ist eine zweifellos mit unzähligen reaktionären Elementen angereicherte, aber im Kern revolutionäre Bewegung – hierin dem Nationalsozial­ismus nicht unähnlich. Das «Urmodell» aller islamistischen Revolutionen – diejenige im Iran – restaurierte ja nicht lediglich das Kalifat. Sie bediente sich einer Menge revolutionärer Versatzstücke, die zum Teil modernen republikanischen Ursprungs sind. Sie appellierte an eine Generation junger Intellektueller, die zur Trägerschicht der Revolution wurde (Ministerpräsident Ahmadinedschad ist ihr Repräsentant) und die in einer höchst unangenehmen Weise unkonventionell und aufmüpfig war, nicht bieder und konservativ.

Wer den Jugendlichen auf dem grossen Hisbollah-Rummel vor dem Regierungsgebäude in Beirut deshalb gleich unterstellt, aus ihnen würden automatisch revolutionäre Mörder und Terroristen, tut ihnen wahrscheinlich in den meisten Fällen Unrecht. Es handelt sich hier oft um ein auf den juvenilen Lebensabschnitt beschränktes Phänomen, das mit wachsender Zivilisierung im Alter schwindet. Man sollte ihnen auch nicht Unehrlichkeit in ihrem naiven Idealismus unterstellen (die Heuchler sind die Anführer, die ihn ausnutzen).

Wissen die jugendlichen Demonstranten eigentlich nicht, dass es aus ist mit dem Flanieren mit Freundin (selbst wenn sie verschleiert wäre), aus ist mit den gemütlichen Joints aus der Wasserpfeife, aus mit der Fröhlichkeit, wenn ihr Idol Nasrallah an die Macht kommt? Und was erwarten sie sich von der Unterstützung syrischer Grossmachtambitionen? Was immer es sein mag, es ist nicht das, was sie objektiv bekommen würden. Das verkündet der syrische Vizepräsident Farouq Al-Shara’ öffentlich unmissverständlich. Hätten die Syrer noch immer im Libanon das Heft in der Hand, wären solche revoluzzerhaften Demonstrationen innerhalb eines Tages mit Gewalt beendet. So empfahl er sein Land als Ordnungsmacht. Man sieht die Demonstranten mit neuen Augen. Man wünscht den so nett wirkenden jungen Menschen von Herzen, dass sie das, was sie wollen, nie bekommen mögen.

DETMAR DOERING, geboren 1957, leitet das Liberale Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung in Potsdam.

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