Zeitbombe Demografie
Afrika hat jetzt die Chance, eine demografische Dividende einzufahren. Lässt man sie ungenutzt, treffen die Konsequenzen auch Europa.
Es ist absehbar, von vielen wird es aber verdrängt: Die Bevölkerung auf unserem Planeten wird im 21. Jahrhundert nicht nur weiter anwachsen, das Wachstum zeigt auch eine andere Dynamik. Während die OECD-Länder und zunehmend auch die Schwellenländer aufgrund anhaltend niedriger Geburtenraten demografisch stagnieren oder zu schrumpfen beginnen, zeigen die Prognosen für den afrikanischen Kontinent ein anderes Zukunftsbild: Bei einem angenommenen Wachstum von 2,6 Prozent pro Jahr wird sich seine Bevölkerung von aktuell 1,3 Milliarden Menschen in den kommenden 30 Jahren – also bis 2050 – verdoppeln; setzt sich das so fort, leben am Ende dieses Jahrhunderts 4 bis 5 Milliarden Menschen auf dem afrikanischen Kontinent (Abb. 1).
Wesentliche Ursache für die Bevölkerungszunahme ist der Rückgang der Kinder- und Müttersterblichkeit in den vergangenen Jahrzehnten. Gleichzeitig blieben die Geburtenraten insbesondere in Subsahara-Afrika nahezu unverändert, je nach Land waren es 4 bis 7 Kinder pro Frau. Unter diesen Bedingungen ist es herausfordernd, eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu entfalten, welche dauerhafte Perspektiven für die dort lebenden Menschen schafft. Wie gehen die 55 Staaten Afrikas, aber auch die übrige Welt damit um? Reichen die bisherigen Entwicklungsansätze oder braucht es neue Denkansätze und Strategien? Der «World Economic Outlook» des IWF weist zwar für viele afrikanische Länder ein hohes Wirtschaftswachstum aus, allerdings mit einem bescheidenen Ausgangsniveau und vielen Unsicherheiten in der Prognose. Gängige Wirtschafts- und Handelspraktiken sind unter diesen Voraussetzungen kaum eine taugliche Strategie.
Demografie als Indikator für Entwicklungen
Die Zukunft eines Landes, einer Region oder gar eines ganzen Kontinentes ist neben seiner Bevölkerungsstruktur auch von seiner Geografie, den natürlichen Ressourcen sowie von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten abhängig. Auch innerhalb Afrikas sind diese Voraussetzungen von Land zu Land sehr unterschiedlich. Die Nachhaltigkeitsziele der UNO, der weltweit anerkannte Referenzrahmen für Entwicklung, verknüpfen zwar soziale, wirtschaftliche und ökologische Komponenten. Doch sie weisen einen bedeutenden Mangel auf: Die zentralen demografischen Veränderungen spielen darin eine untergeordnete Rolle. Bedeutet das, dass Aspekte der Demografie weniger entscheidend sind? Im Gegenteil: Demografische Analysen erlauben es recht zuverlässig, Bevölkerungsentwicklungen für die kommenden 20 bis 30 Jahre zu erkennen. Bevorstehende Aufgaben in Bereichen wie Gesundheit, Ausbildung, Ernährungssicherheit, Infrastruktur oder Migrationsdynamik werden plötzlich sichtbar.
Die arbeitsfähige Bevölkerung in Afrika (15 bis 64 Jahre) wird bis 2050 von derzeit 600 Millionen Menschen auf 1,5 Milliarden zunehmen. Bis zum Jahr 2100 wird sie sogar auf fast 3 Milliarden Menschen wachsen (Abb. 2 u. 3). Aber statistische Zahlen dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Diese vielen jungen Menschen sind als Folge der Digitalisierung und Vernetzung quasi «online» über die Lebensbedingungen in der übrigen Welt informiert und fordern gute Lebensbedingungen ein. Ohne Arbeitsangebote in den afrikanischen Ländern selber werden diese Push- und Pull-Faktoren immer wichtigere Treiber für die internationale Migration.
Laut einer Gallup-Umfrage denken 42 Prozent der Afrikaner im Alter zwischen 15 und 25 Jahren über das Auswandern nach. Migration verläuft normalerweise in einem ersten Schritt Richtung Hauptstadt und dann Richtung Ausland. Eine Rückkehr findet nur selten statt. Zu einer Abnahme der Auswanderung oder gar Rückkehr kommt es im besten Fall erst, wenn das wirtschaftliche Niveau eines Schwellenlandes erreicht ist.
Auch bei den über 65-Jährigen – also jener Generation, die mit zunehmendem Alter mehr Unterstützung benötigt – tut sich was: In den nächsten 80 Jahren wird diese Altersgruppe in Afrika quasi aus dem Nichts auf 600 Millionen Menschen anwachsen. Das ist mehr als die Einwohnerzahl der EU: 2019, also vor Austritt des Vereinigten Königreichs, betrug diese ungefähr 515 Millionen. Auch das wird nicht ohne Folgen bleiben. Tragfähige soziale Sicherungssysteme abseits tief verwurzelter Familienstrukturen gibt es in Afrika kaum.
Demografische Dividende: Chance und Herausforderung für Afrika
Die Geschichte der Menschheit lehrt, dass sich eine klare Trendbewegung in der Bevölkerungsentwicklung kaum umkehren lässt. Der Übergang von hohen zu tiefen Geburtenraten, von hoher zu niedriger Mortalität und hin zu einer ständig zunehmenden Lebenserwartung erfolgt langsam, aber stetig. Gegenwärtig sinken die Sterblichkeitsraten eindrücklich, die Geburtenraten aber nur langsam oder kaum.
Auf absehbare Zeit bleiben die afrikanischen Gesellschaften enorm jung, und so könnte eine «demografische Dividende» entstehen. Darunter wird ein einmaliger und zeitlich befristeter Impuls für zusätzliches Wirtschaftswachstum über einen Zeitraum von etwa 30 bis 40 Jahren verstanden. Ausgelöst wird dieser Impuls durch eine Bevölkerungsstruktur mit relativ vielen Arbeitskräften bei einer gleichzeitig abnehmenden Zahl sehr junger Menschen in der Erziehungs- und Ausbildungsphase. Hinzu kommt, dass sich noch keine nennenswerte Gruppe von immer länger lebenden und pflegebedürftigen Menschen gebildet hat.
Es entsteht ein Zeitfenster, in dem vorhandene Mittel gezielt und verstärkt in Humankapital und Infrastruktur investiert werden können. Zugleich weitet sich auch der Konsum aus und erzeugt eine Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Diese wirtschaftlichen Auswirkungen können die Entwicklung und den Wohlstand eines Landes nachweisbar fördern. Asiatische Staaten haben in den letzten Jahrzehnten vorgelebt, wie eine demografische Dividende erfolgreich etabliert und genutzt werden kann.
Wie kann es den 55 Ländern in Afrika gelingen, eine solche «demografische Dividende» einzufahren? Entscheidend sind die Rahmenbedingungen, damit eine solche Dividende überhaupt entsteht. Die derzeit hohen Geburtenraten müssen deutlich sinken. In einigen afrikanischen Ländern ist eine solche Neuausrichtung erkennbar, sowohl bei der politischen Führung wie auch in breiten Kreisen der Gesellschaft. Herkömmliche Vorstellungen werden zunehmend enttabuisiert und traditionelle Lebensweisen in Frage gestellt, besonders die Rolle der Frauen in der Gesellschaft verändert sich spürbar. Moderne Technologien halten Einzug und unterstützen gesellschaftliche Veränderungen. Doch selbst bei allem guten Willen ist diese Transformation langwierig und herausfordernd.
Voraussetzungen eines Gelingens
Die einzelnen afrikanischen Länder haben unterschiedliche Voraussetzungen zur Schaffung ihrer demografischen Dividende. Trotzdem gibt es eine Reihe von Bedingungen, damit diese überhaupt entsteht und «kapitalisiert» werden kann.
– Verlässliche Institutionen sind eine Grundvoraussetzung. Sie sind eine Voraussetzung für gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, aber auch, um mit geeigneter Politik auf Entwicklungen einwirken zu können.
– Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und gelebten Traditionen ist von fundamentaler Bedeutung. Diese kann weder von aussen noch von oben kommen, wenn sie beständig sein soll. Das Überdenken von Familienkultur und Wertvorstellungen, die Stärkung der Rechte der Frauen sowie Investitionen in Bildung und Verbesserungen der Gesundheitsversorgung sind entscheidend.
– In vielen Ländern können die Menschen ihre «reproduktiven Rechte» nicht in vollem Umfang ausüben, d.h. nicht selbst über die Anzahl Kinder entscheiden. Wissen über Verhütung und Zugang zu sicheren, wirksamen und bezahlbaren Verhütungsmitteln sind noch immer eingeschränkt, ebenso die medizinische Betreuung während Schwangerschaft und Geburt.
– Zur gewinnbringenden Nutzung der demografischen Dividende sind die Förderung und Ausweitung von Bildung, Ausbildung und Qualifikation für Frauen und Männer unerlässlich. Diese müssen auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet sein und auch unternehmerisches Handeln fördern. Heute gibt es in Afrika fast neunhundert Universitäten, doch mehr als die Hälfte der Studienabgänger findet keine Arbeit. Das Potenzial der demografischen Dividende wird so nicht ausgeschöpft.
– Die mit Abstand grösste Herausforderung ist das Schaffen von Arbeitsplätzen – der Schlüssel für eine demografische Dividende. Damit das gelingt, schätzt der Internationale Währungsfonds (IWF), müssen in Afrika auf absehbare Zeit jedes Jahr 18 Millionen zusätzliche Jobs geschaffen werden.
– Auch afrikanische Volkswirtschaften sind von der zunehmenden Digitalisierung betroffen, was der sehr jungen, IT-affinen Bevölkerung gute Chancen bietet.
– Schliesslich gehören vorteilhafte Handelsbeziehungen auf regionaler und internationaler Ebene zu den unabdingbaren Erfolgsfaktoren.
Aus der politischen Demografie stammt die Erkenntnis, dass die Altersstrukturen in einem Land erheblichen Einfluss auf dessen Stabilität und Friedfertigkeit haben. Ein überdurchschnittlich hoher Anteil junger Altersgruppen ohne Zukunftsperspektiven erhöht das Konfliktpotenzial und beeinträchtigt Regierungsfähigkeit, Stabilität und Entwicklungsperspektiven. Gelingt es den afrikanischen Ländern nicht, eine demografische Dividende zu schaffen und diese zu nutzen, droht eine humanitäre Notlage mit geopolitischen Auswirkungen. Soziale Unruhen und wachsende Migrationsströme wären die Folgen und würden weit über den afrikanischen Kontinent hinaus wirken.
Verantwortung und Interesse der Schweiz
Die Strategie der internationalen Zusammenarbeit 2021–2024 der Schweiz, die zurzeit im Parlament beraten wird, gibt den afrikanischen Ländern im Rahmen einer neuen geografischen Prioritätensetzung einen höheren Stellenwert. Auch wenn es kaum offen angesprochen wurde, haben demografische Überlegungen für diese Schwerpunktsetzung zweifellos eine Rolle gespielt. In der neuen Strategie wird auch die Migration als Schwerpunktthema festgelegt, die wesentlich als Folge demografischer Veränderungen entsteht, wenn es für Menschen im arbeitsfähigen Alter im eigenen Land keine wirtschaftlichen Perspektiven gibt.
Demografische Entwicklungen sind schwierig zu steuern und noch schwieriger zu kontrollieren. Doch wir können uns auf sie vorbereiten und lernen, besser mit ihnen umzugehen und schliesslich ihr Potenzial zu nutzen. Aus diesem Grund ist die Generierung und Verbreitung von Wissen, das auf demografischen Kennziffern basiert, wichtig zur Erarbeitung zukunftsfähiger Lösungen. Heute fehlt es noch an griffigen Instrumenten zur Abschätzung bevorstehender gesellschaftlicher Veränderungen und der Entscheidungsfindung im politischen Prozess. Es ist höchste Zeit, dass wir uns die Erkenntnisse aus der Demografie zunutze machen.