Zeit schenken für die Republik
Das Gemeinwohl hängt in der Schweiz unmittelbar von jenen ab, die sich engagieren. Während die Spendenbereitschaft zunimmt, ist die Bereitschaft zum Geben von Zeit allerdings rückläufig. Das Milizsystem steht unter immer grösserem Druck.
Das Spenden ist und bleibt die am weitesten verbreitete Form von freiwilligem Engagement in der Schweiz: Rund 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger geben an, Geld für andere Menschen oder gemeinnützige Zwecke zu spenden. Immerhin 25 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind auch innerhalb von Vereins- und Organisationsstrukturen freiwillig engagiert – ehrenamtlich tätig sind noch etwa 10 Prozent.1 Während allerdings Stiftungsdichte und Spendenbereitschaft zunehmen, ist der Prozentsatz derer, die freiwillig ihre Zeit investieren, rückläufig. Problematisch ist dieser Trend vor allem im Schweizer Milizsystem, wo es immer schwieriger wird, geeignetes Personal zu finden, das sich aktiv an der Gestaltung des Bürgerstaats beteiligt. Aber: wenn vom Geben und freiwilligem Engagement die Rede ist, darf in der Schweiz vom Milizsystem nicht geschwiegen werden.
Schon der Terminus «Milizsystem» ist sehr schweizerisch, wird hierzulande auch richtigerweise als Teil der eidgenössischen Identität immer wieder erwähnt, wobei es nicht selten im Schatten von «direkter Demokratie», «Neutralität», «Föderalismus» oder «Gemeindeautonomie» steht. Klar ist: das hiesige Milizsystem, in das viele tausend Menschen Zeit und Arbeit investieren, aktiviert das Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl, hält den Staat schlank und fördert die Nähe zu den Bürgern.
Das zeigt sich am ehesten in den kleinen Gemeinden: Von unten her würden bei einer Abschaffung des Milizsystems der Föderalismus und die Subsidiarität in Frage gestellt; aufgrund des engen Zusammenhangs mit dem Milizsystem würde indirekt auch die direkte Demokratie beschnitten, denn in einer «Zuschauerdemokratie» drohen Gemeinsinn, Kompromissfähigkeit und viel Wissen verlorenzugehen. Das Milizsystem sorgt also dafür, dass sich die Bürger nicht als Zuschauer und Politikkonsumenten zurücklehnen, sondern politisch aktiv sind und durch ihre Milizämter den Sinn für das Gemeinwohl weiterentwickeln. Der Historiker und Ex-Diplomat Paul Widmer bringt es auf den Punkt:
«Die Eidgenossenschaft ist ein anspruchsvolles Staatswesen. Sie ermöglicht ihren Bürgern zwar eine einzigartige Mitsprache in Staatssachen, aber dafür fordert sie auch ein wesentlich höheres Engagement als eine parlamentarische oder präsidiale Republik […].
Die Schweiz lebt von der aktiven Mitarbeit der Bürger in Gemeinde, Kanton und Bund. Erlahmt diese, dann erlischt auch ein Staatswesen wie die Schweiz.»
Dass der Schweizer Staat wir alle sind, indem wir über Sachfragen abstimmen und im Rahmen des Milizsystems Ämter und Aufgaben übernehmen, trägt wesentlich dazu bei, dass der Staat nicht als anonyme und abstrakte Macht wahrgenommen wird. Die Schweiz hat mit dem Milizsystem eine einzigartige Institution, die Identität stiftet zwischen Bürger und Staat, die Kompromissfähigkeit und Konsens stärkt und die die Bürokratie in Schranken hält. Aber: dem Schweizer Bürgerstaat entsprechen Staatsbürger, die sich aktiv einbringen, nicht nur finanziell, sondern ganz praktisch – indem sie ihn also letztlich selbst betreiben. Wie steht es um dieses Engagement?
Die zahlreichen Baustellen des Schweizer Milizsystems
Obwohl noch immer zehntausende Freiwillige auf allen Staatsebenen für die Stabilität dieses Fundaments sorgen, ist unübersehbar: Das traditionelle schweizerische Staatsverständnis kollidiert mit wirkungsmächtigen gesellschaftlichen Entwicklungen, die das gelebte Milizsystem in Frage stellen. Die Bevölkerung steht zwar immer noch hinter dem Ideal des Milizsystems und weiss dessen Vorzüge zu schätzen. Doch steht letzteres wegen mangelnder Beteiligung – vor allem auf lokaler Ebene – zunehmend unter Druck. Ihm droht der Wandel vom weltweiten Ausnahme- zum Normalfall: Jeder möchte von der geleisteten Milizarbeit profitieren, aber immer weniger Bürger sind bereit, ihren Teil zu diesem kollektiven Gut beizutragen.
Dieser «unverbindliche Republikanismus» reicht aber nicht aus, um die Schweizer Art von Staat zu betreiben. Das Milizsystem ist schliesslich nicht nur Leitidee, sondern konkretes Organisationsprinzip auf allen Stufen2, die Bürger selbst sind Träger des sogenannten sozialen Kapitals, auf dem das Milizsystem beruht. Das Verständnis der republikanischen Beteiligungspflichten ist aktuell in der Defensive: Es erweist sich als sehr schwierig, die intrinsische Motivation wesentlich zu stärken. Warum?
Die Aufgaben und Anforderungen für die Milizgremien nehmen immer mehr Zeit in Anspruch – respektive werden inhaltlich komplexer. Ohne Entlastungsmassnahmen steuert das Milizsystem also gleich auf zwei Wegen in Richtung Professionalisierung: Grösserer zeitlicher Aufwand bedeutet, dass ein Amt irgendwann nur noch im Vollpensum ausgeübt werden kann. Mehr Komplexität bedeutet, dass es mehr qualifizierte Bürger in den Milizämtern braucht, also Kurse und Weiterbildungen angeboten werden müssen. Das Laienwissen allein genügt oft nicht mehr, was dem ursprünglichen Gedankengut des Milizsystems widerspricht. Wird aber eine Entlastung angestrebt, sei es durch den Ausbau von Sekretariaten, Verwaltungen, Auslagerung von Aufträgen an Dritte oder Konzentration auf strategische Fragen, gelangt man in einen anderen Teufelskreis. Werden wichtige Aufgaben im Umfeld des Milizamtes vergeben, bleiben den Miliztätigen weniger sinnstiftende Aufgaben, und es besteht die Gefahr, dass das entsprechende Milizamt ohne wichtige Funktionen zur Folklore verkommt.
Bei den materiellen und immateriellen Rahmenbedingungen stellt der Zeitbedarf das grösste Problem dar. Angestellten Kadern und Mitarbeitern von Unternehmen ist es in vielen Fällen unmöglich, politische Ämter wahrzunehmen. Da hilft auch wenig, dass sowohl auf lokaler wie nationaler Ebene die Entschädigungen angehoben wurden. Eine massgebliche Erhöhung mindert vielleicht Rekrutierungsschwierigkeiten, untergräbt aber zwei wichtige Aspekte des Milizsystems, die Freiwilligkeit und die Nebenamtlichkeit. Auf der immateriellen Ebene ist die Anerkennung für die Milizarbeit immer weniger gewährleistet: Die lokalen Ämter verlieren zunehmend ihre Bedeutung als Sprungbrett für eine politische Karriere auf nationaler Ebene; viele Nachwuchspolitiker steigen direkt in die nationale Politik ein.
Bürgerstaat ohne Staatsbürger?
Wir erleben also eine schleichende Aushöhlung des Milizsystems. Es wird zwar stets angepasst (höhere Entschädigungen, Entlastung durch Verwaltung etc.), um gesellschaftliche Entwicklungen nachzuvollziehen, doch stellen die Reformen das Wesen des Milizsystems – Neben- und Ehrenamtlichkeit – immer mehr in Frage. Zudem beheben sie die Ursache der mangelnden Teilnahmebereitschaft nicht. Die meisten Reformen stellen letztlich einen Schritt weg vom ursprünglichen Ideal des Milizsystems dar, weil sie den weitestgehend freiwilligen Einsatz für das Gemeinwesen im Rahmen der Fähigkeiten jedes einzelnen zunehmend durch eine professionelle Aufgabenerfüllung ersetzen: Milizaufgaben werden scheibchenweise durch Staatsdiener übernommen, höhere Entschädigung macht die Miliztätigkeit zur Erwerbsarbeit, grösserer Zeiteinsatz macht sie zum Vollamt, anspruchsvollere Aufgaben vermindern die Rekrutierungsbasis und Professionalisierung entwertet das Laienwissen.
Die Reform einer Milizbehörde unterscheidet sich zudem fundamental von der Reform einer Berufsbehörde. Bei letzterer sind Reorganisationen möglich, Personalwachstum, Aufgabenwachstum und -reduktion, ein veränderter Personaleinsatz oder ein anderes Zeitmanagement. Die Reform einer Milizbehörde bewegt sich hingegen in einem eingegrenzten Handlungskorridor, will die Milizbehörde ihr Wesen behalten. Weder grosses Wachstum noch Schliessung einer Behörde sind bei einer Milizbehörde denkbar.
Die zentrale Schwierigkeit bei der Suche nach Lösungen ist aber folgende: Alle Bürger sind gleichermassen für das Funktionieren des Milizsystems verantwortlich, indem sie sich mit ihrer Zeit und ihren Fähigkeiten einbringen. Trotz – oder gerade wegen – der kollektiven Verursachung des Problems und fehlender Zuständigkeit wird die Lösungssuche an die politischen Institutionen delegiert. Beteiligungsbereitschaft wurzelt aber im sozialen Kapital oder, altmodischer formuliert, in den Bürgertugenden, deren Träger das Volk selbst ist. Nicht nur die Politik, sondern vor allem jede Bürgerin und jeder Bürger – als «Homo politicus» – sollten sich der Debatte über die Zukunftsfähigkeit und Wichtigkeit des Milizsystems stellen. Denn die angesprochenen Probleme können nicht einfach an die politischen Institutionen delegiert oder mit finanziellen Beiträgen gelöst werden. Bei kaum einer gesellschaftlichen Institution ist die Verantwortung derart breit gestreut und ist der «Tatbeweis» von derart vielen Mitgliedern der Gesellschaft zu erbringen wie beim milizförmigen Staatsaufbau der Schweiz.
Diese Erkenntnis allerdings führt zur Grundsatzfrage: Lässt sich die Schweiz noch nebenher und ehrenamtlich organisieren? Oder symbolisiert das Schlagwort «Milizsystem» nur noch einen Wunschtraum, der mit der Realität immer weniger zu tun hat? Ich würde behaupten: ja, sie lässt sich ehrenamtlich organisieren, aber dazu braucht es eine Aufwertung der gelebten Milizarbeit, an deren Anfang die simple Einsicht steht, dass die Schweiz erst zur Schweiz wird durch all jene, die geben – und zwar nicht nur materiell, sondern auch und vor allem in Form von geschenkter Zeit und handfester Arbeit im Milizsystem.
1 SGG-Freiwilligenmonitor 2016. Web: http://www.sgg-ssup.ch/de/freiwilligenmonitor.html
2 Unterhalb einer bestimmten Teilnahmequote würde das Milizsystem seine Funktionsfähigkeit einbüssen, es ist somit auch ein Mass, an dem sich zeigen lässt, wie es um die republikanische Teilnahmebereitschaft steht, die über Wahlen und Abstimmungen hinausgeht.
Andreas Müller
ist Geschäftsinhaber von Politconsulting und leitet unter anderem ein Milizprojekt beim Schweizerischen Gemeindeverband. Er ist Herausgeber und Mitautor von «Bürgerstaat und Staatsbürger: Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne» (NZZ Libro, 2015).