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Zeit, die Nationen Europas europäisch zu denken
Marc Friedli, zvg.

Zeit, die Nationen Europas europäisch zu denken

Die Europäische Union und ihre Institutionen funktionieren besser, als es die harsche Kritik von allen Seiten vermuten lässt. In ihrem unvermeidlichen Erneuerungsprozess kommt aber den europäischen Nationalstaaten eine konstruktive Rolle zu.

Auf den Seiten dieses Magazins wurde in der vorletzten Ausgabe viel darüber spekuliert, wie sich die Demokratie- und Legitimationsdefizite der Europäischen Union und anderer supra­staatlicher Institutionen auf die aktuelle politische Landschaft auswirken und wie erstere unter liberalen Gesichtspunkten zu beheben wären. Anlässlich der Europawahl überboten sich auch die deutschsprachigen Feuilletons mit allerlei prägnanten Rezepten, die der EU aus ihrer wahrgenommenen Dauerkrise heraushelfen sollen. An den Polen des allgemeinen Diskursfeldes wurden dem als «sui generis» verspotteten Institutionengeflecht besonders revolutionäre Alternativen entgegengestellt: Auf der einen Seite die reaktionäre Rechte, die mit dem Aufruf, das europäische Projekt sämtlicher supranationalen Elemente zu berauben, eine Rückkehr in den «geschützten Hafen» der Nation verspricht. Auf der anderen Seite die postnationale Bewegung, die den Nationalstaat als das letzte zu überwindende Hindernis auf dem Weg zur finalen Errichtung einer paneuropäischen Republik erachtet. Beiden Polpositionen liegt dieselbe Prämisse zugrunde: Nation und Europäische Union stehen sich als zwei unvereinbare Konzepte in einem Nullsummenspiel gegenüber, in dem das eine nur auf Kosten des anderen gewinnen kann. Einzig: Diese Prämisse ist nachweislich falsch.

Eine derart pauschale Dichotomisierung der beiden Sphären verkennt nicht nur die komplexe Geschichte des europäischen Einigungsprozesses, sondern auch die Tatsache, dass sich bei einer Mehrheit der Europäerinnen und Europäer längst multiple Identitäten herausgebildet haben, die sich in mehr oder weniger komplementären regionalen, nationalen und europäischen Denk- und Handlungskategorien manifestieren. Europa krankt denn auch vor allem an den ständigen Versuchen, die verschiedenen Ebenen gegeneinander auszuspielen und daraus politisches Kapital zu schlagen. Um aus ihrem Krisenmodus herauszufinden, ist die Europäische Union mehr denn je auf die affektive Unterstützung ihrer Mitgliedsstaaten angewiesen. Wie könnte das aussehen?

Vorgestellte Gemeinschaften und deren Endlichkeit

Zunächst gilt es mit der weit verbreiteten, aber falschen Behauptung aufzuräumen, dass der Nationalstaat als politisches Ordnungsmodell ausgedient habe, wie es dankenswerterweise auch im vorletzten «Monat» passierte. Seit der konstruktivistischen Wende der Nationalismusforschung und der vom irischen Historiker Benedict Anderson 1983 geprägten Konzeption der «vorgestellten Gemeinschaft» hat diese Behauptung die Debatte über Formen politischer Ordnung stark geprägt und ist gerade in Europa auf grossen Zuspruch gestossen. In der Tat bietet der konstruktivistische Ansatz Anhängern eines «postnationalen Europas» ein theoretisches Fundament, da er die Nation als das demaskiert, was sie wirklich ist: eine nicht auf realen, vermeintlich ahistorischen Fakten wie einer gemeinsamen Sprache, Ethnie oder geografischen Zugehörigkeit basierende, kristalline Gemeinschaft, sondern ein soziales Konstrukt, geformt aus historisch fabrizierten Vorstellungen von gemeinsamen Merkmalen, die die Individuen in die an sich anonyme politische Ordnung der Nation integrieren. Es liegt daher auf der Hand, die Nation und ihre staatliche Form, den Nationalstaat, nicht als etwas Ewiges zu begreifen. Aber es wäre falsch, daraus auf ein bevorstehendes Ende der Nation zu schliessen.

Einem stetigen Wandel unterworfen

Hierfür lohnt sich ein tieferer Blick in die Theoriengeschichte der Nation. Der konstruktivistische Gedanke findet sich erstmals bei dem französischen Historiker Ernest Renan, der 1882 in seinem Vortrag «Quʼest-ce quʼune nation?» die Nation in der bekannten metaphorischen Formel des «täglichen Plebiszits» definierte und als «geistiges Prinzip» verstand. «Die Nationen haben einmal angefangen, sie werden enden», schrieb Renan und prophezeite bereits damals: «Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen.» Doch bis es so weit sei, erschaffe sich die Nation täglich selbst und entwickle Zukunftsvisionen, die die ihrer Bürgerinnen und Bürger in ihrer Solidargemeinschaft vereine. Einschlägige Auslegungen haben Renans Nationenbegriff stets auf dessen Endlichkeit fixiert, ohne den Blick auf das ihm ebenfalls inhärente Anpassungspotenzial zu richten, das sich aus dem genannten «Plebiszit» ergibt. Was ist damit gemeint?

Egal ob in Schulbüchern, durch Denkmäler und Strassennamen, während Fussballweltmeisterschaften oder über materielle Leistungen des Sozialstaats – der nationale Erlebnisraum ist und bleibt täglich erfahrbar und reproduziert sich damit selbst. Fraglos hat der heutige Erlebnisraum mit jenem des 19. Jahrhunderts aber nur noch wenig gemeinsam, da er sich im Laufe der Geschichte in seiner Funktion und den Werten, die er vertritt, den wandelnden politischen Umständen angepasst hat. Diese Fähigkeit zur Wandlung wird bei Betrachtungen über die Beschaffenheit von Nationen, anders als etwa beim Kapitalismus, oftmals ausgeklammert oder zumindest in ihrer Wirkung unterschätzt.

Als anschauliches Fallbeispiel dienen die Geschichte des jungen deutschen Nationalstaats und die Metamorphose dessen, was unter der deutschen Nation verstanden wird. Davon berichten dessen historische Eckdaten – 1871, 1918, 1945 und 1989 –, die eine Abfolge von Neuerfindungen und Zusammenbrüchen deutscher Staatlichkeit abbilden, die unter unterschiedlichen Umständen stets unterschiedliche Konzeptionen einer deutschen Nation hervorbrachten und teils wieder verschwinden liessen: vom preussischen Militarismus über die nationalsozialistische Rassentheorie bis hin zum heutigen Wertefundament der Bundesrepublik Deutschland, das auf Antirassismus, Antimilitarismus, Toleranz und einem deutlichen Bekenntnis zur europäischen Einigung basiert.

«Nation und Europäische Union stehen sich als zwei unvereinbare Konzepte in einem Nullsummenspiel gegenüber, in dem das eine nur auf Kosten des anderen gewinnen kann? Diese Prämisse ist nachweislich falsch.»

Die tiefgreifendste Veränderung, der fast alle Staaten Europas ab Mitte des 20. Jahrhunderts unterlagen, bestand in der Aufgabe ihres absoluten Anspruchs auf Unabhängigkeit von der Aussenwelt und in der Akzeptanz einer supranationalen Autorität, der sie Teile ihrer Souveränität übertrugen. Nach zwei verheerenden Weltkriegen war dieser Schritt notwendig, steckte das Konzept des Nationalstaats doch in einer tiefen Legitimitätskrise. Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zogen sich die sechs Gründerstaaten den giftigsten Zahn selbst und gaben sich das Versprechen, Krieg und Nationalismus für immer abzuschwören, um stattdessen wirtschaftlich zusammenzuarbeiten. Das europäische Einigungsprojekt war geboren und mit ihm eine Friedenserzählung, die bis heute ihresgleichen sucht.

Ein Projekt des Friedens, ein Projekt der Macht

Ideell in den pazifistischen Europa- und Widerstandsbewegungen der späten 1940er Jahre verwurzelt, teilt die Friedenserzählung im Kern die Ansicht, dass ein europäischer Frieden nur möglich sei, wenn die nationalen Triebfedern für die kriegerischen Auseinandersetzungen aufgehoben und durch eine paneuropäische Bundesordnung ersetzt werden. Die Hoffnung, die europäische Einigung würde die Nation gänzlich überflüssig machen, konnte sich hingegen nie erfüllen. Stattdessen wurde Europa über die Nachkriegszeit hinweg immer wieder von Renationalisierungstendenzen eingeholt. Auch der Einigungsprozess selbst folgte nicht dem föderalistischen Königsweg, an dessen Ende die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa steht, sondern schlug den Pfad des Intergouvernementalismus ein, bei dem die Mitgliedsstaaten – bis heute – die den Ton angebende Einheit blieben. Dies bewog auf dem Höhepunkt der Eurosklerose 1982 den liberalen Intellektuellen Ralf Dahrendorf zu der nüchternen Bilanz, dass Europa als Ersatz für die Nation gescheitert sei. Dahrendorf, von 1970 bis 1974 selbst Mitglied der damaligen EG-Kommission, sah für den Nationalstaat keinen Daseinsgrund mehr, musste jedoch einräumen, dass er als identitätsstiftende Quelle massgebend geblieben sei.

In dieser etwas romantischen Erzählweise wird zuweilen vernachlässigt, dass das Projekt des Friedens stets auch ein Projekt der Macht war, bei dessen Schaffung nationalstaatliche Akteure federführend waren und – ganz der Staatsräson verpflichtet – ihre eigenen Interessen durchzusetzen wussten. Neben ökonomischen waren dies vornehmlich geostrategische Überlegungen. So konnten sich das geteilte Deutschland und das geschwächte Frankreich nach Ende des Zweiten Weltkriegs ihre jahrzehntelang gepflegte Erbfeindschaft schlicht nicht mehr leisten. Für die junge Bundesrepublik war die europäische Integration ein Vehikel zur Wiedererlangung ihrer staatlichen Souveränität, für Frankreich eine Möglichkeit, eben jenes souveräne Deutschland in eine gemeinsame Ordnung einbinden und dadurch besser kontrollieren zu können. Überdies sind die Beitritte der beiden Neutralen, Portugal und Spanien, 40 Jahre nach Kriegsende mit der Friedenserzählung nur schwer erklärbar.

Aus dieser machtpolitischen Lesart heraus entwickelte der britische Wirtschaftshistoriker Alan S. Mildwald 1992 in einer scharfen Analyse die These der «europäischen Rettung des Natio­nalstaates». Sie besagt, dass die europäische Einigung den Nationalstaat nicht geschwächt, sondern gestärkt habe, indem sie ihm neue Kompetenzen verlieh. Wie die Entstehungsgeschichte föderalistischer Staaten lehrt, ist es keineswegs eine neue Vorstellung, dass kleinere politische Einheiten ihre Kompetenzen bündeln und diese einer übergeordneten Ebene übertragen, um so einen Teil ihrer eigenen Handlungsfähigkeit zu bewahren oder gar auszudehnen. Das Projekt des Friedens – dem eine «antinationale» Komponente nicht abzustreiten ist – und das Projekt der Macht – getragen von den Eigeninteressen der Mitgliedsstaaten – stehen also in einem Spannungsverhältnis, wobei sich letzteres politisch durchsetzen konnte. Bis jetzt.

Globalisierung: Nationale Rückzugsräume oder europäische Antworten? 

Wie nach 1945 steht Europas Ordnungssystem heute erneut vor Herausforderungen, die Anpassungen verlangen. Zwar sind die (oft) freiheitlichen Institutionen des Nationalstaates nach wie vor ein wichtiger Garant für viele politische Errungenschaften. Jedoch hat die Wucht und Geschwindigkeit der Globalisierung die Unfähigkeit der einzelnen Nationalstaaten, auf die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts autonom und effektiv zu reagieren, schonungslos zutage gefördert. Europa kann sich glücklich schätzen, mit der Europäischen Union über ein Instrument zu verfügen, welches das Rüstzeug hat, die disruptiven Folgen von technologischem und wirtschaftlichem Wandel abzudämpfen und zu kanalisieren. Nur das vereinte geopolitische Gewicht erlaubt es Europa überhaupt, in einer zunehmend multipolaren Weltordnung mit neuen, aufstrebenden Playern wie China und Russland eigene Akzente zu setzen und das europäische Gesellschaftsmodell von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat zu verteidigen.

An dieser Stelle sei rekurrierend auf Philip Manows Aussage in der Mai-Ausgabe des «Monats»1, dass aufgrund der vertieften europäischen Integration viele demokratisch gut legitimierten Regierungen das Heft nicht mehr in der Hand hätten, die Rückfrage erlaubt, wie sehr diese Regierungen ohne diesen supranationalen Überbau denn noch Herr der Lage wären? Ob es sich nun um (digitale) Menschenrechte, den Klimawandel, wirtschaftliche Monopole oder Steuerflucht handelt – die grossen Fragen dieser Zeit verlangen, gemessen an einem der Kern­aspekte politischer Souveränität, nämlich der Fähigkeit, Pro­bleme autonom zu lösen2, europäische Antworten. Den Beweis dazu lieferte anlässlich der Europawahl ausgerechnet die europäische Rechte. Selbst ihr dämmerte es, dass sich die ureigene Forderung eines möglichst restriktiven Migrationsregimes nur auf europäischer Ebene effektiv verwirklichen lässt, weshalb die Dexits, Frexits und Italexits aus den Wahlkampfprogrammen verschwunden und Plänen zur stärkeren Einflussnahme innerhalb der europäischen Institutionen gewichen sind. Entscheidend ist, dass wer von Souveränitätsverlusten redet, von den Souveränitätsgewinnen nicht schweigen sollte, wobei letztere für die Mitgliedsstaaten, besonders aber für die Bürgerinnen und Bürger, in dem ansonsten politisch fragmentierten Europa unterm Strich deutlich überwiegen.

Doch ausgerechnet in den Jahren nach der Finanz- und Eurokrise, als die Sachzwänge zur Vergemeinschaftung von weiteren Politikfeldern immer dringlicher wurden, wird die konsensbasierte Architektur der europäischen Politik von einer nationalistischen Welle erfasst. Das rabiate Politisieren der Euroskeptiker hemmt nicht nur die ohnehin schwerfällige Manövrierfähigkeit der Union, sondern setzt sie unter einen Dauerdruck, der sie als Ganzes bedroht. Dabei sind der Erfolg des Euroskeptizismus und die Renaissance des Nationalen zwei Seiten derselben Medaille: Die Nation wird zur Bastion gegen Europäisierung und Globalisierung erhoben. Das gelingt deswegen so leicht, weil eine adäquate Antwort darauf – von Seiten der liberalen Eliten und der EU – ausgeblieben ist. Im Falle der EU ist dies nicht überraschend: Aufgrund ihrer verfolgten Strategie der Ergebnisse, die Legitimität aus den Vorteilen schöpft, die ihre Politik für die Bürgerinnen und Bürger bringt, fehlt es der EU am Wortschatz, um jenseits von «Freiheit» und «Wachstum» für die europäische Sache zu begeistern. Vielmehr zeigt sich, dass die praktischen Vorteile es nicht vermögen, über die empfundenen Verluste der nationalen Identität und demokratischen Souveränität hinwegzutrösten.

«Dass die hier vorgeschlagene Verbindung von Nation und Europa nicht einem blossen Gedankenexperiment entspringt, sondern realpolitisch Konjunktur geniesst, zeigt sich am sichtbarsten im Wiedererstarken regionaler Nationalismen in Katalonien und Schottland, wo der Ruf nach nationaler Unabhängigkeit mit einem klaren Bekenntnis zur europäischen Einigung verwoben wird.»

In die Sprache der politischen Systemtheorie übersetzt, bedeutet dies: Während die EU hinsichtlich ihrer Output-Legitimität, also der Resultate ihrer Politik, ein hohes Ansehen geniesst, mangelt es ihr nach wie vor an Input– und Throughput-Legitimität. Unter ersterem versteht sich das Wir-Gefühl, das die EU zusammenhält. Letzteres betrifft die Art und Weise, wie Entscheidungen gefällt werden; in einer Demokratie also: im Namen des Volkes und durch das Volk selbst. In einem funktionierenden politischen System interagieren die verschiedenen Ebenen miteinander und bedingen sich gegenseitig: Ohne ein Minimum an Zusammengehörigkeitsgefühl und Vertrauen in das politische System kann ein demokratischer Entscheidungsprozess nicht auf Dauer funktionieren; ohne demokratischen Entscheidungsprozess kann keine Politik ermittelt werden, die in breitabgestützte und zufriedenstellende Ergebnisse fliesst; und ohne Ergebnisse, die dem Gemeinwohl dienen, kann die Unterstützung des Demos für das System als solches nicht gewährleistet werden.

Die delikate Input-Frage: Warum gehören wir zusammen?

Die Bilanz der bisherigen Versuche, der werdenden europäischen Ordnung eine gemeinsame europäische Identität zugrunde zu legen, etwa durch eine einheitliche Flagge, Hymne und Währung, fällt ambivalent aus, wobei das Dilemma in erster Linie praktisch-historischer Natur ist. Das hat drei Gründe:

Erstens lässt sich Europa nicht ohne weiteres als Nation denken. Und zwar schlicht deswegen, weil der Prozess der Nationenbildungen auf europäischer Ebene nicht wiederholbar ist. Der Politphilosoph Jan-Werner Müller hat in Anlehnung an die Herausbildung der modernen Nationen zu Recht die Frage aufgeworfen, wo denn die provinziellen Analphabeten, die «freiwillig oder unfreiwillig ‹europäisiert› werden müssen», heute noch seien. Für die EU, die in Tat und Wort dem Leitsatz «Einheit in Vielfalt» verpflichtet ist, stellt und stellte die Assimilation von Kulturen und Sprachen nie eine valable Option dar.

Zweitens sind historische Verweise auf frühere Vereinigungen von Teilen Europas generell problematisch. Eine Rückbesinnung etwa auf das mittelalterliche Karolinger-Reich und die Figur von Karl dem Grossen, wie dies im Falle der katholisch geprägten EGKS noch plausibel war, ist heutzutage nahezu unmöglich, ohne dabei die jeweiligen Geschichtsdeutungen der Mitgliedsstaaten zu verletzen. Das belegen die feurigen Debatten, die der Eröffnung des Hauses der europäischen Geschichte in Brüssel, das eine transnationale Geschichte Europas erzählt, vorausgingen.

Drittens: Regelmässig wird gefordert, die Gemeinschaft müsse sich über ein die Gesamtheit umfassendes und überzeugendes «Europa-Narrativ» neu erfinden, um dadurch sich selbst neuen Sinn und neue Orientierung zu stiften. Doch wie liesse sich ein solches Narrativ nach der raschen Osterweiterung, dem Austritt Grossbritanniens und angesichts einer Reihe potentieller Mitgliedsstaaten, die weiterhin auf ihren Beitritt warten, überhaupt erzählen, geschweige denn etablieren? Die Frage, was die Noch-28 heute verbindet, ist nicht so einfach zu beantworten. Die Beweggründe der einzelnen Staaten zur EU-Mitgliedschaft sind nicht nur äusserst heterogen, sondern basieren vornehmlich auf nüchternen Kosten-Nutzen-Rechnungen und Machtprojizierungen, die sich nur schwer mit einem affektiven Narrativ vereinbaren lassen.

Plädoyer für eine europäisch-nationale Symbiose

Was lernen wir nun daraus? Statt der EU eine zusammengeschusterte Meistererzählung überzustülpen, die ihrer Diversität und Komplexität kaum gerecht würde, bestünde eine Alternative darin, sie von unten neu zu denken und zu stärken: durch die sie konstituierenden Einheiten, die Mitgliedsstaaten. Ihre ureigene Fähigkeit zur Anpassung ermöglicht es, dem jeweiligen nationalen Kontext gemässe, belastbarere «Identitäten» hervorzubringen. Damit ist nicht blinde Gefolgschaft gemeint, sondern eine Erwartungshaltung, die bei Krisen konsequent politische Lösungen von beiden – der nationalen und der supranationalen – Ebenen einfordert, statt immer gleich die Existenz der EU oder des nationalstaatlichen Prinzips als solches in Frage zu stellen. Das würde den Prozess der Integration erhärten und den Weg für mehr Demokratie auf der europäischen Ebene öffnen. Ferner erschlösse sich der Union eine neue Quelle der Input-Legitimität, die im gleichen Zuge der Rechten die Deutungshoheit über die Nation streitig machen würde. Das bedeutet aber gleichzeitig auch: Abkehr von der Idee eines postnationalen Europas, denn diese Idee hat keinen Wesenskern, mit dem es sich zu identifizieren lohnte, bot stattdessen den simplifizierenden Souveränisten stets eine Steilvorlage, die EU entgegen ihrer Funktionsweise und Geschichte als «antinational» zu diffamieren.

Dass die hier vorgeschlagene Verbindung von Nation und Europa nicht einem blossen Gedankenexperiment entspringt, sondern realpolitisch Konjunktur geniesst, zeigt sich am sichtbarsten im Wiedererstarken regionaler Nationalismen in Katalonien und Schottland, wo der Ruf nach nationaler Unabhängigkeit mit einem klaren Bekenntnis zur europäischen Einigung verwoben wird. Diese Positivbesetzung der Nation mit Blick auf ihr Verhältnis zur europäischen Ebene leistet einen essentiellen Beitrag zur Entwicklung politischer Zukunftsvisionen, die nationale und europäische Anliegen komplementär und glaubhaft in sich zu vereinigen vermag.

Wie könnte ein solches Verhältnis konkret aussehen? Zunächst dürfen rein rationale Überlegungen zu Skalenerträgen und grenzüberschreitenden Externalitäten bei der Kompetenzallokation von Politikfeldern nicht als alleiniger Massstab dienen3. Je nach Politikfeld haftet diesen auch eine affektive Komponente an, die unmittelbar mit dem Nationalstaat assoziiert wird und somit als besonders souveränitätssensitiv gilt. Dies betrifft vor allem redistributive oder wesentlich kulturell geprägte Bereiche, wie die Sozial- und Gesundheitspolitik oder die Bildungspolitik. In diesem Lichte grenzen Forderungen nach einem europäischen Mindestlohn an blinden Integrationsaktionismus, der das Feingespür für die Fragilität historisch hart erkämpfter, sozialpolitischer Arrangements vermissen lässt. Stattdessen sollten weitere Integrationsschritte sich auf jene Felder konzentrieren, in denen die Skalenerträge gross, der potentiell affektive Widerstand jedoch möglichst niedrig ausfällt. Neben der Währungsunion trifft dies vor allem auf die Aussen- und Sicherheitspolitik zu, wo die Vorteile einer schlagkräftigeren EU sowohl gegenüber den aus Souveränitätsverlusten resultierenden Kosten als auch dem fürs Nichtstun zu bezahlenden Preis prävalieren.

Halten wir fest: Die Bindewirkungen der Nation werden vorerst stärker bleiben als jene des supranationalen Europas. Andererseits sind die einzelnen Nationen nicht dazu imstande, einen Rückzugsraum vor den globalen Umwälzungen zu schaffen, ohne gemeinsam unter einem soliden europäischen Dach zu stehen. Es wäre demzufolge fatal, einen antagonistischen Diskurs zu bedienen, der suggeriert, die Bürgerinnen und Bürger Europas müssten sich zwischen ihren Nationalstaaten und der EU entscheiden. Vielmehr geht es darum, die Stärken und Schwächen beider Sphären gegen- und also miteinander auszuspielen.

  1. Vgl. Die politische Ökonomie des Populismus. Gespräch zwischen Michael Wiederstein und Philip Manow. In: Schweizer Monat 1066, Mai 2019.

  2. Vgl. Urs Saxer: Renaissance des Nationalstaats? In: Schweizer Monat 1066, Mai 2019.

  3. Vgl. Michael Wohlgemuth: Souveränität, Legitimität, Solidarität.
    In: Schweizer Monat 1066, Mai 2019.

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