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(0) Zahlenwahn

350 Jahre sind vergangen, seit ein sichtlich enttäuschter Engländer Bilanz zog aus seinem Studium der Klassiker: es seien die alten, moralphilosophischen Werke halt nicht «scripta scientifica», sondern bloss «scripta verbifica», Wortgeklingel und Gerede. Was Wunder, wenn es keine Fortschritte gebe im Bereich der Philosophie, wenn die Menschen immer noch Kriege führten und allerorten Elend herrsche. […]

350 Jahre sind vergangen, seit ein sichtlich enttäuschter Engländer Bilanz zog aus seinem Studium der Klassiker: es seien die alten, moralphilosophischen Werke halt nicht «scripta scientifica», sondern bloss «scripta verbifica», Wortgeklingel und Gerede. Was Wunder, wenn es keine Fortschritte gebe im Bereich der Philosophie, wenn die Menschen immer noch Kriege führten und allerorten Elend herrsche. Besserung sei dann erst zu erwarten, wenn auch die Gesetze des Zusammenlebens endlich «wissenschaftlich» angegangen würden. «Wenn die Verhältnisse der Menschen und ihrer Handlungen mit der gleichen Gewissheit erkannt worden wären, wie es mit den Grössenverhältnissen geschehen ist, so würden Ehrgeiz und Habgier gefahrlos werden. […] Weshalb aber hat man diese Gesetze noch nicht studiert, wenn nicht aus dem Grunde, weil es bisher keine klare und exakte Methode dafür gab?»

Der so schrieb, war Thomas Hobbes – jener streitbare Geist also, der die politische Philosophie der Neuzeit recht eigentlich begründen sollte. Sein Denkstil war zutiefst dem Szientismus verpflichtet, seine Erkenntnistheorie bestimmt von den methodischen Vorstellungen und Genauigkeitsidealen der neuen, mathematischen Naturwissenschaften. Als Galilei der Staatsphilosophie ver-stand er sich und war gewillt, endlich jene Friedenswissenschaft – more geometrico – zu leisten, auf die die Welt so lange hatte warten müssen.

Mit jenem Projekt ist Hobbes gescheitert. Sein Methodenoptimismus aber, das Vertrauen in die exakte Methode als Königsweg zur besseren Welt, ist geblieben. Schätzungen zufolge beläuft sich der Anteil von Datenerhebung und -verwertung an der gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit in den westlichen Industrieländern mittlerweile auf 3 Prozent. Die Masse des statistischen Materials wächst so schnell wie der Apparat zu dessen Auswertung. Zahlen sind gefragt: immer neue, immer genauere, immer bessere Zahlen. Mehr denn je erscheint auch der Sozialwissenschafter heute als Zwillingsbruder des Naturwissenschafters und des Ingenieurs; mehr denn je wird das mathematische Instrumentarium auch für ihn zum passage obligé auf dem Weg zur vermeintlich gesicherten, eben wissenschaftlichen Erkenntnis. So weit und so aggressiv hat die Methode sich emanzipiert, dass ihre Angemessenheit im Verhältnis zum untersuchten Gegenstand nicht mehr leicht zu ermitteln ist.

Eben darum aber, um das angemessene Verhältnis von Methode und Gegenstand, geht es in letzter Konsequenz. Dass und in welchem Ausmass dieses Verhältnis aus den Fugen geraten ist, erhellen die hier versammelten Beiträge ebenso wie der weiter hinten in dieser Ausgabe abgedruckte, 1968 entstandene Essay Herbert Lüthys zur Mathematisierung der Sozialwissenschaften.

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