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Yoknapatawpha und der Vierwaldstättersee

Solide und leserfreundlich aufgemacht, 423 Seiten stark, mit zahlreichen erläuternden Abbildungen versehen und mit 17 aufschlussreichen Faltkarten garniert, präsentiert sich die überarbeitete Fassung der Basler Dissertation von Barbara Piatti. Ihre grundgescheite Studie ist ein engagiertes Plädoyer für eine «Geographie der Literatur». Simpler Dichtertourismus ist fortan passé. Die Ausgangsfrage ist einfach: «Wo spielt Literatur und warum […]

Solide und leserfreundlich aufgemacht, 423 Seiten stark, mit zahlreichen erläuternden Abbildungen versehen und mit 17 aufschlussreichen Faltkarten garniert, präsentiert sich die überarbeitete Fassung der Basler Dissertation von Barbara Piatti. Ihre grundgescheite Studie ist ein engagiertes Plädoyer für eine «Geographie der Literatur». Simpler Dichtertourismus ist fortan passé.

Die Ausgangsfrage ist einfach: «Wo spielt Literatur und warum entscheidet sich ein Autor dafür, seine Geschichte an einem bestimmten Ort spielen zu lassen – oder auch nicht?». Literaturgeographie muss darauf bestehen, dass es eine referentielle Beziehung gibt zwischen inner- und ausserliterarischer Wirklichkeit. Ist das so? Auf die Frage «Wie verhält sich der literarische Raum zum empirischen?» gibt es keine einfache Antwort. Doch die Autorin weist überzeugend nach: Literatur schafft es immer wieder, auf ganz unterschiedliche Art und Weise freilich, einen real existierenden Ort oder eine Landschaft in einen fiktionalen Raum von höchster Symbolkraft zu transponieren. Das schlüssig zu belegen, ist schon viel. Aber Piatti will noch mehr, sie möchte eine «Konzeption von vergleichender Literaturgeschichte unter räumlichen Gesichtspunkten» entfalten, die die seit rund hundert Jahren im deutschsprachigen Raum existierende Literatur- und Literatengeographie von Grund auf revolutioniert.

Das klingt recht akademisch und ist es streckenweise auch. Wer kulturwissenschaftlichen Debatten generell wenig abgewinnen kann, darf die Lektüre auch auf Seite 123 beginnen. Da wird es dann richtig konkret. Als Modellregion dient Piatti die Gegend um den Vierwaldstättersee und das Gotthardmassiv, einer der «Hauptorte auf der europäischen Landkarte der Literatur» – der, vertraut man ihrer Zählung, zwischen 1477 und 2004 in nicht weniger als 150 literarischen Texten eine wichtige Rolle spielt. Fünf von ihnen werden genauer betrachtet: Friedrich Schillers «Wilhelm Tell» (1804) natürlich, der Roman «Auch Einer» (1878) des allmählich wieder ins kulturelle Bewusstsein rückenden Friedrich Theodor Vischer, «Albin Indergand» (1901) von Ernst Zahn, «Ursprung / Die Sendung» (1933) von Meinrad Inglin und «Pilatus» (2003) von Christina Viragh.

Der Schauplatz der Werke wird erkenntlich als eine im Text oft wie ein eigenständiger Protagonist agierende «Grauzone» zwischen Realität und Fiktion. Und weil sie gemeinsame Handlungsräume aufbauen und sich darin wechselseitig spiegeln, sich ergänzen oder einander widersprechen, stehen plötzlich Texte aus verschiedenen Literaturen und Epochen nebeneinander, «die sonst nie in einem Zusammenhang gesehen würden». Das eröffnet in vielen Fällen ganz neue Perspektiven, nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für den Literaturtourismus – für Experten beider Bereiche ist die Lektüre dieses Buches Pflicht.

Barbara Piattis «Hilfswissenschaft der Literaturgeschichte» kann aber auch mit Texten umgehen, die wie «Harry Potter» an offensichtlich gänzlich erfundenen Schauplätzen spielen, deren Autoren imaginäre Räume wie «Yoknapatawpha County» durch detaillierte Karten anschaulich machen, oder die geographische Realien kaum beachten und falsch darstellen wie Kafkas «Verschollener». Aufregend! Wissenschaft könnte gerne öfter so daherkommen.

vorgestellt von Klaus Hübner, München

Barbara Piatti: «Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien». Göttingen: Wallstein, 2008

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