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Wut im Netz

Das Problem wurde früh erkannt, ist aber noch immer ungelöst: In der Anonymität des Webs grassiert eine Unkultur aus Tipp-Tourette, Cholerik und Diffamierung. Was tun?

Ein Ort, an dem Menschen aus aller Welt miteinander und voneinander lernen können, eine mobile, bunte Welt mit Sinn für das Besondere, in der neue Freundschaften entstehen und alle gleichberechtigt sind. Ungefähr so lautete Mitte der 1990er Jahre die Vorstellung von dem, was aus dem Internet werden würde. Das war eine Fehleinschätzung.

Mit der Vernetzung entstand auch eine neue anonyme Streitkultur, es entstanden «Shitstorms», «Net-Mobs», virtuelle Hassreden. Inzwischen sind soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter sowie Kommentarspalten auf Webseiten beliebte Orte für Streit und Polemik. Faszinierend ist die Geschwindigkeit und Vehemenz, mit der im Netz verschiedenste, beizeiten banale Themen zu Beleidigungen führen, wie sie unter sich ins Gesicht blickenden Fremden nur schwer vorstellbar sind. «Dich sollte man erschiessen», «Kanakengesicht», «Geh auf den Strich, wo du hingehörst» – dies nur ein paar der während einer zehnminütigen Recherche ins Auge springenden Beispiele von Facebook-Kommentaren zu den Zeitungsthemen Klimaschutz, «Suppenverteilung an Arme: Ja oder Nein?», Kölner Übergriffe.

Bereits vor Jahrzehnten begannen Forscher in den USA, die Gründe für das Ausufern des Netzstreits zu untersuchen. Ihr Befund: im virtuellen Gespräch sei die Hemmschwelle für Beleidigungen niedrig, denn es fehlten natürliche Signale der Gesprächsregulation zwischen Sprecher und Zuhörer wie Augenkontakt, Betonung, Lautstärke, Mimik. Die so entstehende Verunsicherung, ob das soeben Geäusserte auf Beifall oder Ablehnung stosse, beschleunige Provokationen und Aggressivität. Ausserdem erleichterten Antwortoptionen und Kommentarspalten schnelle und unbedachte Reaktionen. Benutzernamen verschaffen ein Gefühl von Anonymität und beschränkter Haftbarkeit.

Der «Shitstorm», 2012 in der Schweiz zum Wort des Jahres gewählt, ist die heftigste Form der Auseinandersetzung im Internet. Einst waren mit dem Begriff riskante Gefechtssituationen im Zweiten Weltkrieg gemeint, im Netzjargon bezeichnet der Begriff einen kollektiven, spontanen Wutausbruch auf den Kommentarspalten einer Webseite in Reaktion auf unbedachte oder politisch fragwürdige Äusserungen von Prominenten oder Organisationen, oft mit der Folge des Imageverlusts für die Angegriffenen. Ein Beispiel? 2012 startete McDonald’s eine Imagekampagne. Unter dem Hashtag #McDStories sollten Kunden auf Twitter von ihren schönsten Erlebnissen bei der Fast-Food-Kette berichten. Der Hashtag wurde zum «Bashtag» (to bash, englisch: scharf kritisieren), Kommentierende taten zumeist Frust und Ärger kund, etwa über zu kleine Portionen oder «Schimmelburger», oder posteten Schlagworte wie «Scheissessen» und «Kapitalistenschweine». Es gibt seither eine lange Reihe von Beispielen, wie Onlinemarketing und PR-Aktionen virtuell nach hinten losgehen können – das geschieht meist spontan, hin und wieder durchaus auch kreativ, selten orchestriert.

 

Unfreundliche Fabelwesen

«Netztrolle» hingegen sind keine spontanen Streiter. Sie sind regelmässig in den Kommentarspalten anzutreffen, wo sie ganz bewusst provozieren. Ein Artikel der FAZ von 20141 beschreibt einen solchen Troll: Uwe Ostertag, ein gehbehinderter Frührentner, stellt täglich bis zu 200 provokative Kommentare auf Webseiten verschiedener Zeitungen, Nachrichtenkanäle und Blogs, um zumeist friedliche Diskussionen in Streit ausarten zu lassen. Der Ärger der anderen sei «wie ein Orgasmus», sagt er. Sein Privatvergnügen brachte ihm bisher eine Anzeige wegen Volksverhetzung, auf vielen Kommentarspalten wurde Ostertag gesperrt.

Im Jahr 2014 wurde in einer Studie der University of Manitoba2 ein erstes Persönlichkeitsprofil von Netztrollen erstellt. Menschen, die den Streit im Netz geniessen und herbeiführen, so das Ergebnis, wiesen stark narzisstische, sadistische und psychopathische Züge auf. So viel zum Befund. Doch: was steckt noch in dem Begriff? In skandinavischen Sagen ist der Troll ein hässliches Fabelwesen, versteckt sich in unterirdischen Gewölben oder lebt einsam in den Bergen, um von dort aus die Menschen zu überwachen oder ihnen zu schaden. «Nicht anfüttern», lautete die Devise, um sie sich vom Leib zu halten. Das ist zwar auch die Grundregel im Internet. Doch die Netztrolle durch Ignorieren zu entmutigen, funktioniert selten, die simple Sperrung dieser Einzelmasken durch die Plattformbetreiber ist so aufwendig wie aussichtslos – oft tauchen sie unter neuem Namen wenige Stunden oder Tage später wieder auf.

Trolle arbeiten aber auch in Verbänden, sogenannten «Trollfabriken», die aus Russland, den USA und Nordkorea operieren. Unlängst entlarvte die Journalistin Ljudmilla Sawtschuk3 eine Trollfabrik namens «Agentur für Internetforschung» in St. Petersburg, die Leute anheuerte, durch gezielte polemische Beiträge im Netz Stimmung gegen die Politik des Westens und für das Putin-Regime zu machen. Sawtschuk beschrieb die Atmosphäre der Fabrik als ebenso niederträchtig wie die dort verfassten Parolen: eine unter Druck stehende Belegschaft, die aus düsteren Räumen Gift in die virtuelle Welt pumpt; Mitarbeiter, die in Heulkrämpfe ausbrechen oder sich übergeben. Ihnen zur Seite: frustrierte arbeitslose Lehrer, die die rechtschreiberischen Stümpereien korrigieren, den Inhalt aber nicht. Hass als Geschäftsmodell: das Internet macht’s möglich.

 

Freie Meinung: kostenpflichtig!

Wie liesse sich das Netz rezivilisieren? Mit Manieren, antwortete 1994 die amerikanische Autorin Virginia Shea. Schon 1994 verfasste sie die Netiquette4, einen Benimmratgeber für Internetnutzer, der respektvolle Umgangsformen für die virtuelle Welt vermitteln sollte. Erste und zentrale Regel: «Auf der anderen Seite ist ein Mensch.» Der Computer ist zwar ein entpersönlichter Kasten, die Kommunikation im Netz ist aber trotzdem eine Angelegenheit zwischen Menschen mit Gefühlen. Auch virtuell, so sah es die Netiquette vor, sollten Manieren und eine Art kategorischer Imperativ herrschen: «Was du nicht willst, dass man dir sagt, das sag auch keinem anderen.» Um die Qualität der Debatten zu steigern, löscht oder kürzt auch die «Zeit» beleidigende Kommentare mit Verweisen wie: «Entfernt. Bitte sehen Sie von Diffamierungen ab und bemühen Sie sich um konstruktive Kritik», oder: «Gekürzt. Bitte sehen Sie von übertriebener Polemik ab.» Allerdings: die Moderation der Kommentarspalten und mehr noch der Social-Media-Auftritte ist zeit- und arbeitsintensiv.

Die Not digitaler Qualitätssicherung macht denn auch erfinderisch. Im Februar 2015 beschloss das New Yorker Online-Magazin «Tablet», den Leserkommentar kostenpflichtig zu machen. 2 Dollar pro Tag kostet der Zugang – freie Meinung, ja, aber eben nicht gratis. Der gewünschte Effekt trat ein, so die Herausgeberin Alana Newhouse: Die Qualität der Kommentare verbesserte sich, die Diskussionen wurden substanzieller. Für die Publizität der eigenen Bösartigkeit Geld ausgeben – das wolle eben kaum jemand. Schule macht das Konzept trotzdem nur langsam. Viele Webseiten, Nachrichtenportale oder Blogs – wie unlängst etwa die «Süddeutsche Zeitung» – schliessen die Kommentarfunktion für alle Leser, sobald Beleidigungen überhandnehmen. Eine häufige Benutzerreaktion darauf: der Vorwurf, das Kommentarverbot sei eine unnötige Beschränkung der Meinungsfreiheit. Gar von «Medienfaschismus» ist die Rede. Der ebenso geläufige Einwand der Redaktionen? Es handle sich bei Shitstorms und Troll-Kommentaren nicht um Meinungsäusserungen und interessierte sachliche Auseinandersetzungen, sondern oft um strafrechtlich relevante Beleidigungen. Dem wolle und könne man keine Plattform geben.

Für die letzten fünf Jahre stellte Freedom House, eine 1941 in Washington DC gegründete Organisation, die sich mit dem Status von Demokratie, politischer Freiheit und Menschenrechten befasst, einen weltweit massiven Rückgang der Meinungsfreiheit im Internet fest. Neben ohnehin schon stark zensierenden Ländern wie China, Iran, Saudi-Arabien oder Russland stünden seit dem «arabischen Frühling», dem Vormarsch des «Islamischen Staats» (IS) und den Terroranschlägen in Paris auch in westlichen Staaten öffentliche Meinungsäusserungen von Bloggern, Onlinekritikern und Journalisten im Visier. Warum? Seit seiner Entstehung nutzte der IS etwa 46 000 Twitter-Konten für Propaganda und Rekrutierung. Vor allem unter jungen europäischen IS-Anhängerinnen ist nicht nur Facebook, sondern vor allem Twitter beliebt. Ihre Konten sind bizarre Mixturen aus teenagerhaften Katzen-Memes, Schminktipps für Mädchen mit Kopftuch, Allerweltsgeplaudere, Koranzitaten und Hasstiraden gegen den Westen. «Ihr da im Land der Ungläubigen, kommt ins Land der Gesetze Allahs», lockt die britische IS-Kämpferin @Ash-Shamiyyah. Sie schwärmt vom Anblick eines auf einem Marktplatz in Manbij (eine Stadt nahe von Aleppo in Syrien) Erhängten.

Lange wurde Twitter für fehlende Zensur scharf kritisiert. Im Dezember jedoch revidierte das Unternehmen seine Regeln: die Förderung oder Androhung von Gewalt auf Grundlage von Rasse, Ethnizität, Nationalität, sexueller Orientierung, Geschlecht, Religion, Alter, Behinderung oder Krankheit sind von nun an verboten. Facebook jedoch zögert, die Regeln anzupassen, mit dem Hinweis, dass selbst die dümmsten Kommentare noch die Funktion erfüllten, die öffentliche Debatte abzubilden. Ein Punkt, den man nicht bestreiten kann. Aber, so der legitime Einwurf: Welchen sozialen Nutzen haben Debatten, deren einziges Ziel es ist, Andersdenkende nicht mit Argumenten, sondern per Diffamierung und Denunziation in die Knie zu zwingen? Genau: keinen.

Sigmund Freud beschrieb die anale Phase, die Zeit, in der das Kleinkind lernt, die Exkremente bis zum richtigen Zeitpunkt einzubehalten und sich auf die Toilette zurückzuziehen, als den Beginn der Sozialisierung des Ich. Auf das Netzproblem gemünzt bedeutet das: Exkremente als Projektile des (Netz-)Protests sind Ausdruck eines teilweisen Verlusts der Selbstzivilisation. Die Nichtgoutierung und Nichtveröffentlichung dieses virtuellen Kotwurfs auf öffentlichen (Medien-)Plattformen sind also nicht das Ende der freien Rede, sondern eine beinahe elterlich anmutende, aber klare Wegweisung an ihre Urheber: in Richtung privatem Sanitärbereich.


1 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/hass-im-netz-ich-bin-der-troll-13139203.html
2 http://scottbarrykaufman.com/wp-content/uploads/2014/02/trolls-just-want-to-have-fun.pdf
3 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/cyber-aktivist-ueber-engagement-fuer-wladimir-putin-und-russland-13524956.html
4 http://www.albion.com/netiquette/book/

 

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