Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Wünschenswertes Gegenbild, entsetzliche Groteske

«Gullivers Reisen» in neuer Übersetzung

«Ich habe Material für eine Abhandlung», schrieb Jonathan Swift an seinen Dichter-Freund Alexander Pope, «die beweisen wird, dass die Definition ‹animal rationale› falsch ist und dass es sich nur um einen ‹rationis capax› handelt. Auf diesem grossen Fundament der Misanthropie sind meine ‹Reisen› errichtet.» Nicht mehr «vernünftiges Lebewesen», sondern nur «fähig zur Vernunft»! Gleich nach seinem Erscheinen 1726 wurde dem Roman der Vorwurf der Misanthropie, einer geradezu verbitterten Menschfeindlichkeit gemacht. Swift, Dekan der Saint Patrick’s Cathedral in Dublin, war damals neunundfünfzig Jahre alt und ein bekannter satirischer Schriftsteller. Zuerst anonym erschienen, genauer: unter Pseudonym, als «Reisen in verschiedene ferne Länder der Erde. Von Lemuel Gulliver, zuerst Wundarzt, später Kapitän verschiedener Schiffe», wurde der Roman zum Bestseller, zum Longseller – in den ersten hundert Jahren gab es 100 Auflagen – und schliesslich zum Klassiker.

Die anhaltende Popularität des Romans beruht allerdings auf einem Missverständnis. Die scharfe Gesellschaftssatire wurde unter dem Titel «Gullivers Reisen» zu einem Kinderbuch gezähmt, und die derben symbolstarken Episoden wurden zu komisch-phantastischen Szenen entschärft. Dabei verstand Swift seinen Roman keineswegs als unterhaltsame Reisegeschichte, sondern als politische Kampfschrift. Um gegen die englischen Verhältnisse am Anfang des 18. Jahrhunderts anzugehen, griff er zurück auf die geläufigen literarischen Gattungen seiner Zeit, wie Reisebericht, Abenteuergeschichte und Robinsonade, und gab den Roman als Quellenfiktion aus, also als authentischen Bericht des Seefahrers Gulliver über vier Reisen in ferne fremde Welten.

«Und so habe ich Dir denn, geneigter Leser, getreulich die wahre Geschichte meiner Reisen erzählt,» gibt Gulliver vor, «…war meine Absicht doch vor allem, Dich aufzuklären, nicht jedoch, Dich zu zerstreuen.» Gulliver ist Erzähler und Figur – weniger eine ausgereifte Erzählerfigur als eine narrative Maske, die die Intentionen des Autors (aus)trägt. Denn innerhalb einer Rahmenerzählung, die als Reisebericht daherkommt, entwirft Swift ein düsteres Sozialgemälde und lässt Gulliver von einem fröhlichen und geselligen Mann zu einem verbitterten und desillusionierten Menschenfeind werden. Anders als sein Vorbild Robinson Crusoe, der in heroischer Einsamkeit den humanistischen Idealen treu bleibt und sich nach seiner Rettung reibungslos wieder integriert, wird Gulliver in der Konfrontation mit den fremden Zivilisationen aus seiner anthropozentrischen Gutmütigkeit herausgezerrt, so dass seine Rückkehr zugleich eine Flucht in die Isolation ist.

Dabei ist die Gesellschaftskritik, die den Roman nährt, weder konsequent noch kohärent. So wird das Zwergenland Lilliput, wohin die erste Reise Gullivers führt, ebenso utopisch verherrlicht wie satirisch verspottet; auch die Rieseninsel Brobdingnag, Ziel der nächsten Reise, und all die anderen «fremden Welten», wie Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubdubdrib und die Pferderepublik der Houyhnhnms

und Yahoos sind keine durchgehend negativen Utopien, sondern spiegeln, in satirischer Verzerrung, die Wirklichkeit sowohl als wünschenswertes Gegenbild wie als entsetzliche Groteske wieder. Doch die kritischen Hiebe und die politischen Anspielungen lassen sich kaum noch entschlüsseln und haben ihre verstörende Wirkung verloren.

Auch wenn seine Satire nicht mehr im letzten verständlich ist, haben Swifts utopische Weltentwürfe dennoch ihre Suggestivkraft behalten. Das liegt nicht zuletzt an der Sprache, die einfach ist und dennoch voller Wortspiele steckt. Weil Wortspiele ihrerseits zeitgebunden sind, impliziert eine moderne Übersetzung nicht nur das übliche Verhandeln zwischen der Ausgangs- und der Zielsprache, sondern auch einen Kulturtransfer über mehrere Jahrhunderte. Um «den historischen Sprachstand aufscheinen zu lassen», wie sie selber es formuliert, hat sich die renommierte Übersetzerin Christa Schuenke für eine sprachliche Mimikry entschlossen und das Deutsch des 18. Jahrhunderts nachzubilden versucht, und es gelingt ihr dabei, Manierismen zu vermeiden. Schuenkes neue Übersetzung des gesamten Romantextes, die gerade in einem Prachtband mit kraftvollen Illustrationen des österreichischen Künstlers Anton Christian erschienen ist, kombiniert philologische Genauigkeit mit alltagskulturellem Realismus und beachtet den Rhythmus des Satzbaus ebenso wie stilistische Eigenheiten. Dem abgenutzten Roman hat Schuenke ein schönes frisches Sprachkleid angezogen.

Jonathan Swift, «Gullivers Reisen», aus dem Englischen von Christa Schuenke. München: Manesse Verlag, 2006.

Stefana Sabin, geboren 1955, schreibt als freie Kulturkritikerin insbesondere für die NZZ und die FAZ.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!