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Wolfgang Schivelbusch. Entfernte Verwandtschaft: Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939

Mangelnde Courage wird man Wolfgang Schivelbusch nicht vorwerfen können. Wenn er in seinem Band «Entfernte Verwandtschaft» Beziehungen zwischen Faschismus, Nationalsozialismus sowie dem New Deal und damit natürlich auch zwischen den Führungsfiguren Benito Mussolini, Adolf Hitler und Franklin D. Roosevelt aufzeigt, dann begibt er sich nicht eben in ruhige Gewässer. Vielmehr muss er zwischen der Skylla […]

Mangelnde Courage wird man Wolfgang Schivelbusch nicht vorwerfen können. Wenn er in seinem Band «Entfernte Verwandtschaft» Beziehungen zwischen Faschismus, Nationalsozialismus sowie dem New Deal und damit natürlich auch zwischen den Führungsfiguren Benito Mussolini, Adolf Hitler und Franklin D. Roosevelt aufzeigt, dann begibt er sich nicht eben in ruhige Gewässer. Vielmehr muss er zwischen der Skylla eines populären latenten Antiamerikanismus und der Charybdis einer Relativierung nationalsozialistischer Menschheitsverbrechen hindurch steuern. Gegen erstere Gefahr sind selbst seriöse Forscher wie E.-O. Czempiel («Weltpolitik im Umbruch») gelegentlich nicht gefeit, letzteres ist in der Debatte um die Bücher Jörg Friedrichs («Der Brand») über den alliierten Bombenkrieg und jüngst Götz Alys («Hitlers Volksstaat») über die soziale Attraktivität des Nazi-Regimes jenseits von Terror und Unterdrückung in den Vordergrund gerückt. Um jeden Zweifel auszuräumen, sieht sich auch Schivelbusch genötigt, im einleitenden Kapitel eine Klarstellung zu liefern.

Dann aber geht er in die Vollen. In einem einführenden Kapitel über die Renaissance der Monumentalität in der Architektur, die den Kulturhistoriker Schivelbusch von seiner besten Seite zeigt, legt er den Grundstein, auf dem sich sein Vergleich aufbaut: die Wiederentdeckung der Selbstdarstellung staatlicher Macht und Autorität. Die bewusste Abwendung vom laissez-faire des bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts, als der Staat dem Bürgertum Führung und Gestaltung überliess, führt nicht nur zu einer neuerlichen Repräsentationsarchitektur, sondern in der Annäherung von Staat und Wirtschaft zur «Wiedereinsetzung des Staates in eine fast absolute Macht durch die Weltwirtschaftskrise, die ja nichts anderes war als die grosse Niederlage des liberalen Kapitalismus und der Revanchesieg des Staates».

Staatliche Interventionspolitik ist also der Schlüssel des Vergleichs. Seine Anknüpfungspunkte liegen einerseits in der neueren Totalitarismusforschung, die neben dem terroristisch-militaristischen Aspekt der Unterdrückung in diesen Regimes auch deren sozial-egalitären Charakter betont, der ja wiederum nicht unmassgeblich zu Erfolg und blindem Volksgehorsam dieser Systeme beitrug. Von Interesse ist daher der Sozialismus im Nationalsozialismus.

Zum anderen unternimmt es Schivelbusch, jene politischen Techniken zu vergleichen, deren sich das beginnende Dritte Reich ebenso bediente wie Roose-velt; namentlich die Herausstellung einer charismatischen Führungsfigur, die Ideologie von Nation, Volk und Boden, der staatliche Dirigismus und die Propaganda. Dabei dürfe das Wissen um die späteren Geschehnisse nicht die Perspektive verfälschen. So postuliert der Autor, bei der Betrachtung der Entstehung der drei Regime nicht etwa 1945, sondern vielmehr 1929, den Ausbruch der grossen Krise, als Bezugspunkt zu wählen.

War nach der Implosion des ökonomischen diejenige des politischen Liberalismus zwingend? Das Vertrauen in eine liberale Demokratie gelangte 1933 jedenfalls an ihren Tiefpunkt. Mussolini war bereits elf Jahre an der Macht, in Deutschland hatte man genug vom Weimarer Versuchslaboratorium einer Demokratie mit ständigen Wahlen und Gewalt auf den Strassen; die Mehrheit forderte einen radikalen Wandel. Ähnlich die Situation in den USA: Pleiten, Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Not und hunger lines vor den Suppenküchen sind Indizien dafür, dass die Grundstimmung in einem sonst von unerschöpflichem Optimismus geprägten Lande nur noch mit Great Depression beschrieben werden konnte. Diesen Auswüchsen eines liberalen Kapitalismus, so zeigt Schivelbusch anhand von Aussagen aus der Zeit anschaulich, glaubte man in Deutschland, Italien und den USA 1933 nur Einhalt gebieten zu können durch wirtschafts- und sozialpolitische Massnahmen, die im Zeichen der Gemeinschaft statt des Individuums, des Eingriffs statt der Freiheit standen.

Nicht erst seit Hobsbawm sehen Historiker im Ersten Weltkrieg die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Unter dem Mantel des 1945 von den USA und ihren Alliierten erfochtenen Sieges lassen sich heute die kriegerische Metaphorik und Psychologie, derer sich die Politik des New Deal bediente, bequem verstecken. Wenn die wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise damals nicht nur bekämpft, sondern ihr vielmehr der Krieg erklärt werden musste, so erschien dies als Rückgriff auf die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, um die nötige Energie aufzubringen, die Nation zu einen – oder gleichzuschalten? Des Autors Wille, die Rolle des pointierten Agent provocateur zu übernehmen, der die gedanklichen Funken dieses Essays zum Sprühen bringt, lässt ihn die Selbstbeschneidung des Kongresses gegenüber der Regierung im März 1933 als Ermächtigungsgesetzgebung bezeichnen. Ohne Anführungszeichen, versteht sich.

Die ideengeschichtlichen Grundlagen des New Deal werden an der Bewegung des Progressivismus festgemacht. Dieser nahm sich das preussische Modell der Verwissenschaftlichung von Technik, Wirtschaft und Politik zum Vorbild. Die Hegelsche Theorie des Staates und der preussische Militarismus wurden als effizientere Steuerungsmodelle dem Liberalismus entgegengesetzt. So ist die Euphorie der Progressivisten – denen der junge Roosevelt nahestand – zu erklären, als es 1917 in den Krieg ging. Endlich war die Chance da, eine umfassende Erneuerung in den USA zu beginnen.

So gegensätzlich Hitler und Roosevelt in diesen Tagen auch wahrgenommen werden, so beharrt Schivelbusch doch zu Recht auf beider Einordnung als charismatische Führungsfiguren. Beide nutzen die Chance der Krisensituation. Beide kommen von ausserhalb der diskreditierten Führungsschicht und sprechen direkt die Massen an. Beide nutzen das Radio als das Medium der Zeit. Die Schilderung der Unterschiede jedoch, wie Hitler und Roosevelt die Seele des Zuhörers zu erreichen versuchten, jeder auf seine Art mit Erfolg, gehört zu den Höhepunkten des Essays. Roosevelts fireside talks gaben jedem Hörer zu Hause am Kamin den Eindruck, der Präsident wende sich in dieser intimen Situation allein an ihn. Das Wohlergehen des Einzelnen ist, so scheint es, sein höchstes, das Entstehen eines Vertrauensverhältnisses das unmittelbare Ziel. Die beeindruckenden Wahlergebnisse bestätigen die Strategie.

Auch Hitlers Reden sind Gemeinschaftserlebnisse. Während die überlieferten Filmausschnitte in aller Regel die zuweilen sich überschlagende Stimme vorführen, wird die Dramaturgie der Gesamtrede in der heutigen Wahrnehmung unterschlagen. Neben den Mitteln der Rhetorik steht die Inszenierung mit Elementen der Theatralik, Musik und Liturgie. All dies verschmilzt zu einem Gesamtkunstwerk – und der Redner verschmilzt mit der Masse zu einer Einheit. Jeder Zuhörer ist Teil der Inszenierung. Als Hitler an der Macht ist, tritt er in eine höhere Sphäre. Für die tägliche Pflege des Führerkults ist nun die Propaganda zuständig. Roosevelt dagegen bleibt stets ein Werbender, er muss sein Charisma stetig erneuern. Auch in den folgenden Kapiteln zur Siedlungspolitik und Symbolbaustellen wie Agro Pontino, Tennessee Valley Authority und Reichsautobahn werden Parallelen gezogen. Wie immer man sie auch bewerte, entfernte Verwandtschaft kann man diesen monumentalen Projekten nicht absprechen.

Schivelbuschs Essay gelingt es auf frappierende Weise, Gemeinsamkeiten zwischen den Untersuchungsgegenständen freizulegen und damit die Gilde der Historiker gehörig zu provozieren; die Anzahl der zu diesem Thema publizierten Studien lässt sich ja an den Fingern einer Hand abzählen. Allein schon, wenn es ihm gelänge, mit seinem Werk eine tiefgreifendere Beschäftigung mit dieser Thematik zu initiieren, hätte sich seine Mühe gelohnt. Die Thesen werden überzeugend belegt. Möglicher Kritik an der fast ausschliesslichen Verwendung von Quellen der dreissiger Jahre muss die bewusste Wahl dieser Perspektive entgegengehalten werden. Seinem Anspruch tut es auch keinen Abbruch, dass die Unterschiede in diesem entfernten Verwandtschaftsverhältnis nur in der gebotenen Kürze präsentiert werden.

Man könnte allerdings den Eindruck gewinnen, der Autor wolle sich selber mit seinem Text nicht zufrieden geben und hätte deswegen einen überlangen Endnotenapparat angehängt, der wohl einer zusätzlichen Unterfütterung der Thesen dienen sollte, aber bei fehlendem Lesebändchen zu ständigem Blättern nötigt. Wichtige Belege werden dort versteckt, so etwa Leon Samsons Rollendefinition des Präsidenten von 1934 – eine Definition, die verdeutlicht, weshalb der Faschismus europäischer Prägung sich in den USA nicht herausbilden konnte: «It is precisely in his role as spokesman of the mass against the class that the American President performs the function of fascism without assuming any of its forms.» Dieser kritische Einwand, gleich wie jener gegenüber einem mitunter nachlässigen Lektorat, wirft indes nur schwache Schatten auf eine ansonsten gewinnbringende Lektüre.

besprochen von Andreas Böhm. Der 1977 geborene Politikwissenschafter ist Assistent am Schweizer Lehrstuhl für Politische Wissenschaften der Andrássy-Universität Budapest.

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