«Wokeness ist ein Mittel zum Machterhalt»
Thomas Chatterton Williams. Bild: Jean-François Paga / Opale / Leemage.

«Wokeness ist ein Mittel zum Machterhalt»

Die Rede von Rassismus ist mittlerweile omnipräsent. Das heisst aber noch lange nicht, dass dieser bekämpft wird −­­ im Gegenteil.

Herr Chatterton Williams, in Ihrem Buch «Selbstporträt in Schwarz und Weiss» erklären Sie, warum nicht nur der Rassismus, sondern auch das Denken in «rassischen» Kategorien ein Problem ist – egal, in welchem politischen Lager. Was hat Sie motiviert, es zu verfassen?

Es entwuchs einem Essay, den ich 2014/15 geschrieben hatte, ein Jahr, nachdem meine Tochter geboren worden war. Ich bin in New Jersey aufgewachsen, als Kind eines Vaters, der von afrikanischen Sklaven abstammte, und einer Mutter, die von europäischen Einwanderern abstammte. In den USA ist man schwarz, wenn man ­einen schwarzen Vater hat, insbesondere wenn man meiner Generation oder einer älteren angehört. Bis ich 20 Jahre alt war, konnte ich beim Zensus noch nicht mal mehr als eine «Race» angeben. Ich war überwiegend mit Mädchen und Frauen zusammen gewesen, die ebenfalls mixed oder schwarz waren, und war immer davon ausgegangen, dass meine Kinder eines Tages auch schwarz sein würden. Als ich dann mit 30 mit einer blonden Französin verheiratet war, ahnte ich, dass meine Kinder recht hellhäutig, aber dennoch schwarz sein und von der Gesellschaft auch so wahr­genommen werden würden.

Es kam aber anders?

Mit der Geburt meiner blonden Tochter in Paris begann ich, mir vorzustellen, wie ich sie wohl mit diesem binären Verständnis von «Race» grossziehen können würde – und das noch nicht mal in der amerikanischen, sondern in einer europäischen Gesellschaft. Als das in bezug auf sie keinen Sinn mehr machte, ergab dieses Denken als solches überhaupt keinen Sinn mehr.

Weil…?

Ich begriff, dass uns diese abstrakten Farben weder besonders gut beschreiben noch besonders gut tun. Sie zeugen von alten Erwartungen und stehen für alte Beziehungen zwischen Europa und ­Afrika sowie für die Ära des Sklavenhandels. Und dennoch haben wir die Welt nicht immer nach diesen Begriffen sortiert – weswegen ich mir vorzustellen begann, dass wir das vielleicht gar nicht müssen.

In Ihrem Buch bekunden Sie, dass die heutige Gesellschaft und der gegenwärtige Aktivismus von «Race» besessen, gleichwohl aber auch vollständig verwirrt seien.

Ich sehe hier in der Linken auf gewisse Weise die Probleme in der Rechten gespiegelt: Antirassisten zwingen dem Säkularismus ihre Besessenheit auf und rekurrieren auf denselben Annahmen, die tatsächliche Rassisten für selbstverständlich halten – und zwar, dass diese Kategorien nicht transzendiert werden können beziehungsweise dass ein Individuum sie nicht transzendieren könne, dass man sich folglich aufgrund der eigenen Hautfarbe mit bestimmten Leuten zu umgeben habe und nicht auf der Basis von ­individuellen Qualitäten. Das ist überaus problematisch. Und sehr nah dran an religiösem Denken.

Inwiefern?

Insbesondere die «Woke»-Kultur bewegt sich nahezu vollständig in einem religiösen Rahmen. Das Weisssein – worunter osteuropäische Juden, weisse angelsächsische Protestanten und Italiener fallen, eine auffällig diverse Gruppe an Menschen also – ist die Erbsünde. Dann gibt es Märtyrer wie Trayvon Martin und geweihte Räume, so etwa den Ort, an dem George Floyd ermordet wurde, der nun eine Pilgerstätte ist. Und dann gibt es noch Blasphemie, Dinge, die nicht gesagt werden können. All dies addiert sich zu einem ganzen System auf. In diesem scheint es sehr oft weniger um das Wohlergehen von Schwarzen, Latinos und anderen Nichtweissen zu gehen als um die moralische und psycholo­gische Absolution privilegierter Weisser, damit sich diese besser fühlen können. Das scheint therapeutisch zu sein, eine Art Selbsthilfekultur für sie selbst, die nicht dem armen schwarzen Kind hilft, das mit der Schule kämpft und dessen Lebensrealität weitaus mehr von seiner Klassenlage geprägt ist denn von der White-Supremacy-Gesellschaft, die Amerika angeblich sein soll.

Können Sie benennen, was zu dieser Situation geführt hat?

Es scheint mir recht kompliziert und mehrlagig zu sein. Zunächst ist das vermeintlich kritische Denken hervorzuheben, das im 20. Jahrhundert an europäischen Universitäten entstand und sich an den…

«Alles wo es sein muss:
Tiefe in den Gedanken.
Höhe im Niveau.»
Mark Schelker, Professor für Ökonomie,
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