«Wokeness ist ein Mittel zum Machterhalt»
Die Rede von Rassismus ist mittlerweile omnipräsent. Das heisst aber noch lange nicht, dass dieser bekämpft wird − im Gegenteil.
Herr Chatterton Williams, in Ihrem Buch «Selbstporträt in Schwarz und Weiss» erklären Sie, warum nicht nur der Rassismus, sondern auch das Denken in «rassischen» Kategorien ein Problem ist – egal, in welchem politischen Lager. Was hat Sie motiviert, es zu verfassen?
Es entwuchs einem Essay, den ich 2014/15 geschrieben hatte, ein Jahr, nachdem meine Tochter geboren worden war. Ich bin in New Jersey aufgewachsen, als Kind eines Vaters, der von afrikanischen Sklaven abstammte, und einer Mutter, die von europäischen Einwanderern abstammte. In den USA ist man schwarz, wenn man einen schwarzen Vater hat, insbesondere wenn man meiner Generation oder einer älteren angehört. Bis ich 20 Jahre alt war, konnte ich beim Zensus noch nicht mal mehr als eine «Race» angeben. Ich war überwiegend mit Mädchen und Frauen zusammen gewesen, die ebenfalls mixed oder schwarz waren, und war immer davon ausgegangen, dass meine Kinder eines Tages auch schwarz sein würden. Als ich dann mit 30 mit einer blonden Französin verheiratet war, ahnte ich, dass meine Kinder recht hellhäutig, aber dennoch schwarz sein und von der Gesellschaft auch so wahrgenommen werden würden.
Es kam aber anders?
Mit der Geburt meiner blonden Tochter in Paris begann ich, mir vorzustellen, wie ich sie wohl mit diesem binären Verständnis von «Race» grossziehen können würde – und das noch nicht mal in der amerikanischen, sondern in einer europäischen Gesellschaft. Als das in bezug auf sie keinen Sinn mehr machte, ergab dieses Denken als solches überhaupt keinen Sinn mehr.
Weil…?
Ich begriff, dass uns diese abstrakten Farben weder besonders gut beschreiben noch besonders gut tun. Sie zeugen von alten Erwartungen und stehen für alte Beziehungen zwischen Europa und Afrika sowie für die Ära des Sklavenhandels. Und dennoch haben wir die Welt nicht immer nach diesen Begriffen sortiert – weswegen ich mir vorzustellen begann, dass wir das vielleicht gar nicht müssen.
In Ihrem Buch bekunden Sie, dass die heutige Gesellschaft und der gegenwärtige Aktivismus von «Race» besessen, gleichwohl aber auch vollständig verwirrt seien.
Ich sehe hier in der Linken auf gewisse Weise die Probleme in der Rechten gespiegelt: Antirassisten zwingen dem Säkularismus ihre Besessenheit auf und rekurrieren auf denselben Annahmen, die tatsächliche Rassisten für selbstverständlich halten – und zwar, dass diese Kategorien nicht transzendiert werden können beziehungsweise dass ein Individuum sie nicht transzendieren könne, dass man sich folglich aufgrund der eigenen Hautfarbe mit bestimmten Leuten zu umgeben habe und nicht auf der Basis von individuellen Qualitäten. Das ist überaus problematisch. Und sehr nah dran an religiösem Denken.
Inwiefern?
Insbesondere die «Woke»-Kultur bewegt sich nahezu vollständig in einem religiösen Rahmen. Das Weisssein – worunter osteuropäische Juden, weisse angelsächsische Protestanten und Italiener fallen, eine auffällig diverse Gruppe an Menschen also – ist die Erbsünde. Dann gibt es Märtyrer wie Trayvon Martin und geweihte Räume, so etwa den Ort, an dem George Floyd ermordet wurde, der nun eine Pilgerstätte ist. Und dann gibt es noch Blasphemie, Dinge, die nicht gesagt werden können. All dies addiert sich zu einem ganzen System auf. In diesem scheint es sehr oft weniger um das Wohlergehen von Schwarzen, Latinos und anderen Nichtweissen zu gehen als um die moralische und psychologische Absolution privilegierter Weisser, damit sich diese besser fühlen können. Das scheint therapeutisch zu sein, eine Art Selbsthilfekultur für sie selbst, die nicht dem armen schwarzen Kind hilft, das mit der Schule kämpft und dessen Lebensrealität weitaus mehr von seiner Klassenlage geprägt ist denn von der White-Supremacy-Gesellschaft, die Amerika angeblich sein soll.
Können Sie benennen, was zu dieser Situation geführt hat?
Es scheint mir recht kompliziert und mehrlagig zu sein. Zunächst ist das vermeintlich kritische Denken hervorzuheben, das im 20. Jahrhundert an europäischen Universitäten entstand und sich an den amerikanischen Hochschulen zu Critical Legal Studies, Critical Race Theory, Critical Gender Studies und einem Denken in systematischer Unterdrückung fortentwickelt hat, das auf Begriffen wie «Patriarchat», «Heteronormativität», White Supremacy und so weiter beruht. Das hielt zwischen den 1970er und 1990er Jahren Einzug, um in den 2010er Jahren Früchte zu tragen. Dies fiel mit der sehr mächtigen Sphäre der sozialen Medien zusammen, in der wir alle miteinander verbunden sind, unsere politischen Weltbilder ausleben und einander überprüfen. Diese Technologie bildet Konsens aus, während sie zugleich zu Bestrafungen verleitet.
Weist diese Entwicklung amerikanische Besonderheiten auf?
Um das Jahr 2007/08 herum sahen viele – weisse Linke wie auch Schwarze – in der kommenden Präsidentschaft Barack Obamas den Weg in eine Gesellschaft, die post-racial ist. Darauf hoffte auch ich. Als mit seiner zweiten Amtszeit klar war, dass das nicht eingetreten war, fiel die Enttäuschung mit der Ankunft Donald Trumps am Horizont zusammen, in dem viele Menschen einen Faschisten erkannt haben wollten, was sie glauben liess: «Wir sind nicht nur keine nichtrassistische Gesellschaft, wir sind eine rassistische!» In der Linken führte das zu einer Art unentwegtem Ausnahmezustand, in dem selbst liberale Normen wie Probleme wirkten, die nun im Weg lagen, um gegen das Böse aufzustehen, das die Gesellschaft ergriff.
Worauf eine globale Pandemie folgte.
Ja, und eine schwere Krise des Gesundheitswesens, die zumeist Arme, Schwarze und Latinos in den USA betrifft. Und dann tauchte dieses unfassbar verstörende Video eines schwarzen Mannes auf, George Floyd, der von mehreren Polizisten festgenommen wird, wobei einer von diesen auf ihm kniet, was wie eine Kreuzigung aussieht – höchst religiös. All dies geschah zeitgleich: Menschen versuchten, wieder etwas aufzubauen, nachdem sie zwei Monate zu Hause eingeschlossen waren. Gegen den Lockdown konnten sie nicht rebellieren, weil Trumps Anhängerschaft das gemacht hat – also zog es sie auf die Strassen, um dort gegen das zu protestieren, was sie White Supremacy nennen.
Ist dieser Kampfbegriff so aggressiv, weil er so ungenau ist?
Ja. Das ist dem Umstand geschuldet, dass heute sehr unterschiedliche Dinge darunter fallen – Auseinandersetzungen, bei denen Schwarze bisweilen noch nicht einmal anwesend sind. Wenn beispielsweise eine weisse Feministin einer weissen Transperson widerspricht, wird das von manchen bereits White Supremacy genannt. Es ist wirklich schwierig, dieser Logik zu folgen.
Spielt dieses Vokabular eine solch wichtige Rolle, weil es verschleiernd ist?
Ich denke, es kann nicht vom Fakt getrennt werden, dass es sich um eine Art elitäre Gatekeeping-Rhetorik handelt. Wenn man weiss, wie diese Codes funktionieren, erschliesst sich Wissensarbeitern kulturelles Kapital. Hannah Arendt bemerkte einmal, dass das politische Verfolgen von Menschen für diejenigen, die das machten, ein Job sei – so wird Macht gesichert. Und Wokeness ist ein Mittel zum Machterhalt in einer sehr kompetitiven Wissensökonomie.
In Ihrem Buch sagen Sie, dass wir – egal, wie kompliziert das alles sein mag – eine gewisse Naivität entwickeln müssen, um diese Situation zu bekämpfen.
Das würde mit einer vereinfachten Sprache beginnen. Die meisten Menschen, die nicht aufs College gegangen sind, können den heute verwendeten Begriffen nicht mehr folgen. Selbst ein Begriff wie «Rassismus», der eigentlich vertraut scheint, steht heute für so viele verschiedene Dinge. Wir müssen unser Denken hiervon lösen, so dass die Dinge wieder in einfacher Sprache erklärbar werden. Das heisst nicht, dass Komplexität stets schlecht ist, sondern dass unser Verständnis überkompliziert geworden ist – und zwar so sehr, dass unsere Sinneseindrücke nunmehr unterdrückt werden. Wenn eine schwarze Person eine asiatische Person angreift und das ein Beispiel für White Supremacy sein soll, erkennt man, mit welcher Verdrehung wir es zu tun haben.
Was könnte aus der Situation hinausführen?
Ich schlage vor, dass wir die Welt sehen, wie sie Kinder erfahren. Meine Tochter konnte nicht verstehen, dass ihre Mutter weiss sein soll, weil ihre Hautfarbe eher an Rosa gemahnt, und sie konnte auch nicht sehen, dass ihr Grossvater schwarz sein soll, weil seine Hautfarbe Braun ist. Sie suchte nach einer genaueren Beschreibung und fragte sich, warum überhaupt jemand Farbbezeichnungen verwendet, die die gemeinten Farben gar nicht beschreiben. Selbstverständlich können wir immer über kindliche Weisheit lachen, aber wie James Baldwin einmal sagte: Man kann sich eine Situation vorstellen, in der die Hautfarbe nicht bedeutsamer als die Augenfarbe ist. Aber wir ziehen es vor, so zu tun, als ob da mehr Bedeutung wäre. Ich plädiere für diese kindlichere Weise, um der Welt mit offeneren Augen, mit Staunen und Direktheit zu begegnen, statt mit dieser angelernten Sophistiziertheit. Die Nazis waren ziemlich sophistizierte Denker, was «Rasse» angeht – ganz sicher keine kindlichen.
Eine kindliche Wahrnehmung klingt weitaus weniger anstrengend, als «Race» in allem zu entdecken.
Das ist der Grund, warum diese Aktivisten immer sagen, dass sie so erschöpft seien – wenn man unentwegt und in jeder Situation nach Unterdrückung sucht, strengt das eigene Leben selbstverständlich unglaublich an. Mein Vater ist 83 Jahre alt, er wuchs zu Zeiten der Segregation auf und seither ist enormer Fortschritt gemacht worden, um eine multiethnische Gesellschaft Realität werden und nichtweisse Menschen prosperieren zu lassen, sowohl in den USA als auch andernorts. Das zu leugnen und zu behaupten, dass sich nichts ändere und dass White Supremacy etwas Permanentes sei, erfordert wirklich Pessimismus – oder Blindheit.
Es wäre aber zu ergänzen, dass eine stattliche Anzahl von Personen Geld aus dieser Sache schöpft: zum Beispiel Robin DiAngelo, Autorin des antirassistischen Bestsellers «Wir müssen über Rassismus sprechen».
Bei ihr handelt es sich um eine weisse Soziologin, die überall vorträgt und unzählige Bücher verkauft. Wenn man behauptet, dass Rassismus etwas Permanentes sei, und das 100mal pro Jahr verkünden darf sowie von einer Firma 25 000 Dollar für einen Vortrag erhält, wird klar, warum es da keinen Bezug auf den gemachten Fortschritt gibt. Auf eine schwarze, konservative Kommentatorin wie Candace Owens wiederum beziehen sich viele Weisse, obwohl sie nichts zur Debatte beiträgt. Es finden sich schlichtweg viele Menschen auf beiden Seiten, die von der Verwirrung und dem tatsächlich erreichten Fortschritt profitieren, während es weitaus weniger Personen gibt, die die Komplexitäten begreifen und die Situation zum Besseren verändern wollen.
In Ihrem Buch erinnern Sie an den Literaturkritiker Albert Murray, der für eine politisch offene, intellektuell geprägte Tradition steht. Und Sie legen nahe, dass ein Individuum zwischen dieser Tradition oder aber derjenigen wählen kann, die der Black-Panther-Party-Aktivist und Autor Eldridge Cleaver repräsentiert. Demnach befinden sich nun viele in einer Cleaver-Phase. Wie liesse sich das zum Besseren wenden?
Wir müssen Wege finden, um weniger getrennt voneinander zu leben. In vielen Teilen der amerikanischen Gesellschaft begegnen sich Menschen nicht auf ebenbürtige Weise, viele Weisse unterhalten keine engeren Beziehungen zu Nichtweissen. Ihnen fehlt jenes Verständnis, das notwendig ist, um die Dinge zum Besseren zu wenden. In Frankreich, wo ich lebe, sind die Menschen allein schon durch die Bauweise der Städte stark voneinander getrennt. Wir müssen Wege zur Assimilation und zur Integration finden – Begriffe, die mittlerweile als verdächtig gelten, da man in den USA mit der Behauptung konfrontiert wird, sie stünden selbst für White Supremacy, weswegen man genötigt wird, Respekt für Segregation zu bekunden.
Sie zitieren auch die Künstlerin und Philosophin Adrian Piper, die einmal erklärte, dass sie sich gern von «Race» zurückziehen würde. Wäre das ein Beispiel für die vorgenannte Naivität?
Das war eines ihrer Kunstprojekte, sich von «Race» pensionieren zu lassen – und für mich war das wirklich transformierend. Sie meinte damit nicht, dass sie nicht mehr rassistisch beleidigt werden könne, wenn sie die Strasse entlangläuft, sondern dass sie sich nicht mehr länger an einem abnormen und schändlichen Spiel beteiligen wolle. Dass sie das Wort «Pensionierung» wählte, ist bemerkenswert, weil das ja eine Art vorgängiger Arbeit meint. Ich finde, sie hat recht damit.
Der US-amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King, der 1968 von einem Rassisten ermordet wurde, hatte fünf Jahre zuvor in Washington D.C. seine weltberühmte Rede gegen den Rassismus in den Vereinigten Staaten gehalten, die gerade dabei waren, die Rassentrennung abzuschaffen. King sagte damals: «Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.» Denken Sie, dass das ein Traum ist, der für die Gegenwart relevant ist?
Ja. Vor allem deshalb, weil es nun diese Sorte Antirassismus gibt, der darauf besteht, dass «Race» real sei, ob nun biologisch oder sozial, und der Farbenblindheit für eine anmassende Ungeheuerlichkeit hält. Ich denke, dass Kings Worte zweifelsfrei für sich sprechen: Wir sollten einer Gesellschaft den Weg ebnen, in der die Hautfarbe deiner Kinder nichts ausmachen darf, weil sie Individuen sind und ihr Charakter davon zeugt, wer sie sind und wie sie beurteilt werden sollten. Das sollte das Ziel einer liberalen Gesellschaft sein. Und von einer solchen sind wir gerade weit entfernt.
Meinen Sie, dass sich die Situation verschärfen könnte?
Das liegt stets im Bereich des Möglichen. Das vergangene Jahr war enorm gewaltreich. Und dass diese Debatte – oder eher schon dieses «Woke»-Vokabular – in Europa angekommen ist, ist nicht sonderlich hilfreich. Die jüngsten islamistischen Anschläge etwa sind bereits umdefiniert worden in Reaktionen von People of Color auf White Supremacy – während das Opfer des islamistischen Terroranschlags in Nizza 2020 eine schwarze Frau aus Brasilien war.
Was sind Ihre Hoffnungen für Ihr Buch?
Ich hoffe auf einen erneuerten Humanismus und Liberalismus – auf eine postidentitätspolitische Politik, in der man sich selbst wie die anderen im Lichte neuer Werte sieht. Das ist meine konkrete Hoffnung: Dass die Macht von Geschichten das Denken verändern kann – und das vollzieht sich bei einzelnen. Die Zukunft ist noch immer ungeschrieben.