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Wohlbehütet im Überwachungsstaat
Gregory Jones-Katz, zvg.

Wohlbehütet im Überwachungsstaat

Der Alltag in Chinas High-Tech-Metropole Shenzhen ist geprägt von Gesichtserkennung, QR-Codes und Internetzensur. Die Omnipräsenz der Technologie ist bequem, aber gefährlich.

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Im nicht mehr ganz jungen einundzwanzigsten Jahrhundert finde ich mich in Shenzhen wieder, dem «Silicon Valley Chinas», der Heimat der Tech-Giganten ­Huawei, Tencent, DJI und ZTE. Hier musste ich mich an die Spannungen gewöhnen zwischen den technologischen ­Realitäten der Stadt – Big Data, künstlicher Intelligenz (KI), Robotik, Fintech und dem digitalen Überwachungsstaat im allgemeinen – und meinem westlichen, demokratischen Ethos. Ich habe meine technologisierte Existenz weder ­abgelehnt noch blindlings hingenommen, sondern sehe die Technologie sowohl als Gefahr wie als Befreiung. Oft denke ich über diese Konflikte zwischen meinen techno­logisch geprägten Erfahrungen in Shenzhen und meinem Bekenntnis zur Freiheit nach amerikanischem Vorbild nach. Denn an den Brennpunkten meines täglichen Lebens zeigen sich oft die Grenzen meiner Freiheiten.

6.30 bis 7 Uhr: «Welcome to the Machine»

Nach dem Aufwachen greife ich nach meinem Smartphone, das neben meinem Bett liegt. Das Abrufen von Nachrichten und E-Mails meines Gmail-Kontos ist ein tägliches Ärgernis, mit dem ich mich 2016, als ich in Shenzhen ankam, abzufinden glaubte. Das Problem beim Konsumieren westlicher Medien in China ist jedoch nicht die WLAN-Verbindung in meiner Wohnung. Das Problem ist die «Grosse Firewall», die chinesische Internetzensur. Um zum Beispiel frei auf amerikanische Nachrichten zugreifen zu können, muss ich mein VPN (Virtual Proxy Network) einschalten, das meine chinesische IP-Adresse verbirgt, einen verschlüsselten Datentunnel herstellt und meine Online-Identität verschleiert. Mein VPN verwendet eine IP-Adresse in Hongkong – eine komplexe Ironie. Aber Verbindungen per VPN sind nie ganz zuverlässig; mein VPN muss häufig neu gestartet werden, was mich dazu zwingt, mein festes Bekenntnis zu den Prinzipien der Pressefreiheit und des freien Gedankenaustauschs zu hinterfragen. Fast jedes Mal, wenn das VPN ausfällt, kommen mir Sprüche der Aufklärung in den Sinn – wie der, der fälschlicherweise Voltaire zugeschrieben wird: «Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.»1

7 bis 8 Uhr: Handy-Zensur

Ich habe nur eine halbe Stunde Ruhe, bevor direkt vor meinem Fenster die Bauarbeiten beginnen – das Grundrauschen des Lebens in unserer Megastadt. Ich ziehe mich an, frühstücke und entscheide mich, wie ich Musik höre: eine Schallplatte oder per Stream über YouTube, Apple Music oder Spotify? Ich entscheide mich für die elektro­nische Variante, für die ich allerdings wiederum das VPN ­benötige. Doch auch so kann ich keine Lieder über Apple Music herunterladen. Spotify ist seit 2020 blockiert. Wir Westler verstehen, warum offenkundig politisch heikle Informationen eingeschränkt werden – wie etwa ein Artikel über die Internierungslager in Xinjiang –, aber wir können die meisten Entscheidungen der Kommunistischen Partei Chinas nie wirklich nachvollziehen. Mit einem Knopfdruck in Peking kann der Internetzugang zu allem, was nicht zu den offiziellen Parteiorganen gehört, vollständig blockiert werden, wie es regelmässig während der jährlichen Sitzungen des Nationalkongresses der Kommunistischen Partei Chinas geschieht. Diese Zensur zu ignorieren ist unmöglich, vor allem weil die Technologie fast jeden Aspekt des Lebens durchdringt. Ich könnte mich zwar an chinesische Medienalternativen halten, etwa an Bilibili, eine chinesische Videostreaming-Website, die in China YouTube am nächsten kommt. Natürlich ist aber der Inhalt nicht derselbe. Ausserdem gibt es eine Sprachbarriere.

8 bis 8.30 Uhr: Überwachung im Aufzug

Es ist an der Zeit, zu Fuss zur Arbeit auf den unteren Campus zu gehen. Jeder Aufzug wird überwacht. In den ersten Tagen der Pandemie, von Januar bis März 2020, waren die Wände der Aufzüge mit Plakaten zur öffentlichen Sicherheit beklebt, während die Sicherheitsbeamten des Campus die Aufzüge über Kameras überwachten und diejenigen, die sich nicht an die Regeln hielten, über WeChat – eine vom Technologiekonzern Tencent mit Sitz in Shenzhen entwickelte Social-Messaging-App – ermahnten. Sicherheitskräfte sind in der Tat allgegenwärtig, nicht nur bei grossen politischen Veranstaltungen, sondern auch an den Eingängen zu den meisten öffentlichen Räumen wie Einkaufszentren und Restaurants. Diese Wachleute überprüfen den QR-Code auf unseren Smartphones, der sie da­r­über informiert, ob wir Corona-Hotspots besucht haben oder durch einen in China zugelassenen Impfstoff geschützt werden. Es beruhigt mich, diese Vorsichtsmassnahmen zu beobachten, vor allem wenn ich Geschichten darüber höre, was in den USA abläuft. Gleichzeitig wecken solche Kontrollen das Big-Data-Unbehagen, denn die persönlichen Daten könnten auch für Einschränkungen meiner Bewegungsfreiheit verwendet werden.

8.30 bis 9 Uhr: Gesichtserkennung

Um den oberen Campus zu verlassen, passiere ich Fussgängerschleusen, die sich öffnen, wenn ich meinen Campusausweis über einen elektronischen Sensor halte oder von einem Gesichtserkennungssystem identifiziert werde, das mein Gesicht mit einem von der Universität gespeicherten digitalen Bild vergleicht. Mit diesem System wird der Zutritt zu den Campusgebäuden, vor allem den Bibliotheken, überwacht und freigegeben. Dann gehe ich an einem kleinen Park vorbei, wo während des Lockdowns von 2020 Drohnen surrten und Anweisungen für die öffent­liche Gesundheit durchgaben. Ich benutze keinen Zebrastreifen, wohl wissend, dass die Verkehrspolizei von Shenzhen, wie die «South China Morning Post» berichtete, KI, Big Data und Gesichtserkennungstechnologien einsetzt, um undisziplinierte Fussgänger per SMS zu züchtigen und zu bestrafen.2 Das 2014 eingeführte Sozialkredit-system missachtet jedes Recht auf Privatsphäre.

9 bis 12 Uhr: Abschied vom Bargeld

Mein Fussmarsch dauert etwa zwanzig Minuten. Auf dem Weg zum unteren Campus komme ich an einem «Über­wachungsraum» der Universität vorbei. Der Raum hat getönte Fenster; ich war noch nie drin, aber nachts sehe ich das Leuchten der Bildschirme. Dann kaufe ich meinen Morgenkaffee im «Symposium», einem von Studenten ­betriebenen Café, das nach Platons berühmtem Text benannt ist. Dazu brauche ich keine Renminbi-Scheine oder -Münzen – die offizielle Währung Chinas –, sondern ­WeChat Pay (über ­einen QR-Code), das mit meinem chinesischen Bankkonto verbunden ist. Mit einem weiteren, inzwischen zur Gewohnheit gewordenen Zücken meines Smartphones funktioniert die Zahlung reibungslos, und schon bin ich weg. Früher habe ich mich gegen WeChat Pay gesträubt, und bis vor etwa einem Jahr habe ich Kassierern nur Bargeld gegeben, worauf sie mit gerunzelten Brauen reagierten. Mein Widerstand war zugegebenermassen zum Teil auf Gewohnheit zurückzuführen, aber er entsprang auch einer gewissen Besorgnis darüber, wie leicht elektronische Zahlungen zu verfolgen sind. Ich wollte schreien: «Das ist ein gesetzliches Zahlungsmittel, Leute!» Schliesslich mache ich mich auf den Weg in mein Büro, wo ich mich auf den Unterricht am Nachmittag vorbereite.

«Mit einem Knopfdruck in Peking kann der ­Internetzugang zu allem,

was nicht zu den ­offiziellen Parteiorganen gehört,

vollständig ­blockiert ­werden.»

12 bis 13 Uhr: WeChat-Kultur

Mittagszeit, eine Tageszeit, in der die meisten Kollegen eine SMS schreiben und aktuelle Ereignisse oder Medien abrufen – alles über die WeChat-App. Ich esse mit Freunden; ein ­Europäer, der über ein Jahrzehnt in Mexiko gelebt hat, protestiert gegen die Allgegenwärtigkeit von Smartphones. In seinen Augen sind die meisten Menschen emotional distanziert. Ein neues australisches Wort, das von den Amerikanern noch nicht übernommen wurde, ist erst kürzlich in meinem Wortschatz angekommen: «Phubbing». Es bezeichnet die Brüskierung eines anderen, indem man in einer sozialen Interaktion auf sein Telefon schaut. Aber die WeChat-Kultur, so wendet ein anderer Freund ein, habe auch Konsequenzen in der realen Welt. Als China zum Beispiel im Juni 2021 die WeChat-Konten verschiedener LGBT-Gruppen schloss – der Zhihe Society an der Fudan-Universität und der Wudaokou Purple an der Tsinghua-Universität –, waren die Chinesen gespalten. Die meisten, die ich kannte, protestierten auf WeChat mutig gegen die Entscheidung der Regierung. Ohne die kleinen Regenbogenflaggen in den Profil­bildern der Leute und die eingebaute englische Übersetzungsoption von WeChat hätte ich es vielleicht nie erfahren.3

13 bis 13.30 Uhr: Wer alleine reist, ist verdächtig

Seit ich nach Shenzhen gezogen bin, nutze ich mein Smartphone zweifellos öfter. Man kann nicht leben oder sich fortbewegen, ohne regelmässig QR-Codes vorzuweisen. In den USA sichert das Alleinreisen in gewisser Weise die ­Anonymität und erleichtert die Fortbewegung; es ist eine Möglichkeit, nicht aufzufallen. In China hingegen ist es ­gerade das Reisen in einer Gruppe, das eine leichtere Fort­bewegung ermöglicht, während das Alleinreisen die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zieht und das Winken mit dem Smartphone und das Überprüfen der QR-Codes erforderlich macht. Auf diese Weise wurde ich gezwungen, mich an meine technologisierte Realität zu gewöhnen. Trotzdem muss ich mich an die Technik noch weiter anpassen: Als ein Freund einen teuren elektronischen Einkauf über die TaoBao-App von Alibaba tätigt, wird ohne Vorwarnung ein Foto geschossen, um die Identität des Käufers zu bestätigen. Ich erschaudere; dieser technologische Moment lässt mir eine Welle des Unbehagens den Rücken hinunterlaufen. Doch die Bequemlichkeit des E-Commerce in China liegt auf der Hand: Der Artikel wird über das grösste Kurierdienstsystem der Welt geliefert, wobei die Verkäufer die Waren an ein Netz von Selbstbedienungspaketstationen (in China gibt es 170 000 solche Schliessfachstandorte) liefern, das von der 2015 in Shenzhen gegründeten Firma Hive Box betrieben wird. Auf dem Höhepunkt der Pandemie kamen die Chinesen zu der Überzeugung, dass dieses System für die öffentliche Gesundheit unverzichtbar sei.

13.30 bis 17.30 Uhr: Der Hörsaal als Fundbüro

Meine Vorlesungen verlaufen reibungslos. Ich vermeide es, politisch heikle Themen anzusprechen, zum Teil aus dem Bewusstsein heraus, dass ich hier nur ein Gast bin. Diese Vorsicht hat seit meiner Ankunft vor einem halben Jahrzehnt zugenommen. Insbesondere die Proteste 2019 und 2020 in Hongkong, die durch das Hongkong-Auslieferungsgesetz ausgelöst wurden, haben die politische und persönliche Gleichung verändert. An einer Demonstration im Juni 2019 in Hongkong nahmen fast zwei Millionen Menschen teil; ein erheblicher Teil der Proteste wurde von Universitätsstudenten organisiert. Videokameras, die in der Ecke ­jedes Vorlesungssaals hängen – ähnlich wie im Aufzug meines Wohnhauses –, sollten mich innehalten lassen, obwohl ich nie die Gefahr gespürt habe, beobachtet zu werden. Mehr als einmal war ich sogar froh, dass sie da waren: Ich habe Dinge auf dem Rednerpult vergessen – zum Beispiel ein Zip-Drive (ein technisches Relikt) oder mein Smartphone. Da ich in New York City aufgewachsen bin, gehe ich davon aus, dass der Gegenstand in solchen Fällen für immer verschwindet. Aber egal, ob ich ein paar Stunden oder ein paar Tage später an den Ort meiner Vergesslichkeit zurückkehre – der vergessene Gegenstand ist immer da und wartet. Inwieweit schreckt die ständige Überwachung vor Diebstählen ab?

17.30 bis 18 Uhr: Der Weg nach Hause

Mein Heimweg verläuft ähnlich wie der morgendliche Weg zur Arbeit – bis auf die Tatsache, dass mich ein selbstfahrendes Auto, das vom Robotik- und KI-Labor des Campus entwickelt wurde, fast überfährt. Das ist eine tatsächliche Bedrohung für meine Existenz in Shenzhen. Mein Weg wird auch von Sicherheitskräften unterbrochen, die als Reaktion auf einen kleinen Covid-Ausbruch in einer Nachbarprovinz meine Temperatur mit einer Messpistole über­prüfen und mir über das Gesichtserkennungssystem einen Thermalscan verpassen. Gemäss der chinesischen Null-­Toleranz-Politik hätte mich eine Temperatur von über 38 °C zu einer wochenlangen Quarantäne gezwungen. Diese koordinierte und inzwischen übliche Reaktion auf Covid hat den Einfluss der chinesischen Regierung vergrössert, und ich stehe ihr, zumindest was die Massnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit angeht, nach wie vor zwie­spältig gegenüber. Am Ende komme ich wohlbehalten nach Hause.

Freiheit in der Ferne

Expats aus westlichen Ländern, die ich getroffen habe, verbreiten eine Binsenweisheit, um den Schmerz der kulturellen Desorientierung zu lindern: «Du veränderst China nicht, China verändert dich.» Dieses Sprichwort bringt mich nicht nur zum Schmunzeln, sondern auch zum Nachdenken über die ungelösten Spannungen zwischen den technologischen Realitäten um mich herum und meinen Verpflichtungen gegenüber der westlichen Freiheit. Unter Freiheit verstehen wir Westler vor allem die Selbstverwirklichung durch Wahlmöglichkeiten, also das Schmieden des Selbst innerhalb ­eines ­offenen Spektrums von Möglichkeiten, das weder durch «Instinkte» noch durch eine Wiederholung der Vergangenheit begrenzt ist. Eine solche Freiheit scheint mir ­immer weiter von meinem Leben in Shenzhen entfernt zu sein.

Vor allem die akademische Freiheit ist hier nicht etwas, das zu erkämpfen oder zurückzugewinnen ist. Es gibt sie einfach nicht so, wie wir sie im Westen kennen. Westler und chinesische Lehrkräfte wissen, welche harten Grenzen sie nicht überschreiten dürfen. Manche Grenzen sind weniger klar. Sogar während ich dies schreibe, habe ich ­Bedenken in meinem Kopf. Habe ich die Bots getriggert? Unabhängig davon bestürzt mich der Verfall des öffent­lichen Diskurses in Amerika und der unverantwortliche Umgang meiner Mitbürger mit ihrer Rede- und Pressefreiheit.

Und dennoch: Hand in Hand mit diesem spürbaren Verlust an Freiheit und Handlungsfähigkeit in Shenzhen ging eine Befreiung von der Angst vor dem Leben als Mitglied des akademischen Prekariats – einer sozialen Schicht, der ich mein ganzes Erwachsenenleben lang angehört hatte. Ausserdem hat mir mein technologisiertes Dasein in Shenzhen die Augen für die sich verändernde geopolitische Dynamik geöffnet. Der deutsche Philosoph Hegel sah in Napoleon «die Weltseele zu Pferde», die den Wandel der menschlichen Welt im frühen neunzehnten Jahrhundert verkörperte.4 Zieht der Geist der Weltgeschichte in Shenzhen vor meinen Augen vorbei, mit jedem Smartphone-Swipe, jedem KI-Algorithmus und jedem Gesichtserkennungssystem?

  1. Evelyn Beatrice Hall, «The Friends of Voltaire», London: Smith, Elder, & Co., 1906, S. 199.

  2. Siehe «Jaywalkers under surveillance in Shenzhen soon to be punished via text messages», http://www.scmp.com/tech/china-tech/article/2138960/jaywalkers-under-surveillance-shenzhen-soon-be-punished-text, ­abgerufen am 3. November 2021.

  3. Siehe «China divided as WeChat deletes LGBT accounts from platform», http://www.bbc.com/news/world-asia-china-57759480, abgerufen am
    4. November 2021.

  4. G.W.F. Hegel in einem Brief vom 13. Oktober 1806 an F. I. Niethammer, Nummer 74 (S. 119) in Briefe von und an Hegel, Hrsg. Hoffmeister, Vol. 1 (1970).

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