Wo ist die liberale Konterrevolution?
Ich hatte einen Onkel, der mir alle zwei Wochen ins Stammbuch schrieb: Wenn es dir gut geht, musst du besonders aufpassen! Das will ich weitergeben: Ein Sensibilisierungsprogramm in 10 Punkten.
Die Schweiz ist ein äusserst erfolgreiches Land mit nur etwas mehr als 8 Millionen Einwohnern. Das entspricht einer mittleren chinesischen Grossstadt. Dieser Erfolg hat neben glücklichen Zufällen viel mit den Institutionen und einer besonderen politischen Kultur zu tun, die beide von Generationen von Bürgern aufgebaut worden sind. Heutzutage werden Nobelpreise in Ökonomie bisweilen auf der Basis von Erkenntnissen vergeben, die durch Experimente mit Studenten in Labors gewonnen wurden. Warum eigentlich wird nicht auch die Schweiz als interessantes politisches und ökonomisches Experiment aufgefasst, allerdings mit 8 Millionen werktätiger Probanden anstelle einer Handvoll Jugendlicher im Seminarraum? Statt dass man allerdings von diesem Experiment zu lernen versucht, wird die Schweiz von vielen ausländischen Politikern (allerdings weniger von deren Bürgern!) zunehmend kritisiert. Aber Neid ist ja bekanntlich die ehrlichste Form der Anerkennung. Das Problem ist nur: Lange währender Erfolg macht träge und selbstzufrieden. Und überheblich.
Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Erfolg wird in der Schweiz mittlerweile als selbstverständlich betrachtet. Die Erfahrung, dass Erfolg stets aufs neue erkämpft werden muss, geht verloren, und jene, die daran erinnern, werden belächelt. Nur wenige im Lande machen sich grundsätzliche Gedanken zu den Fundamenten unseres Wohlstands und sind bereit, für deren Erhalt auf die Barrikaden zu steigen. Und viele, die es wissen müssten, brillieren durch Bequemlichkeit und Mangel an Mut. Die professionellen Empörungsbewirtschafter sorgen dafür, dass sich die Politik im Modus einer sorgsam gepflegten Daueraufregung auf Nebenkriegsschauplätzen befindet. Alle reden von Ungleichheit, alle reden von Ungerechtigkeit, alle reden von Umverteilung, und dies in einem Lande, dessen Zustand den Bewohnern anderer Staaten schlicht als paradiesisch erscheint.
Ich hatte einen Onkel, der mich noch mit über 90 Jahren wöchentlich im Büro besuchte und mir jedes zweite Mal ins Stammbuch schrieb: Wenn es dir gut geht, musst du besonders aufpassen! Dann beginnst du Fehler zu machen. Das, meine ich, müsste man auch vielen Akteuren der Schweizer Politik und deren Gehilfen in der Medienlandschaft ins Stammbuch schreiben.
Die 10 Gebote des Wohlstands
Die Schweiz ist nach dem Weltreichtumsreport der Allianz-Versicherung gemessen am Pro-Kopf-Vermögen vor den USA, Japan, Dänemark und Holland mit Abstand das reichste Land der Welt. Die Schweizer haben seit dem letzten Jahr die höchste Lebenserwartung der Welt, ganz abgesehen davon, dass sie über eines der besten Gesundheitssysteme verfügen. Die Einkommensverteilung ist gemessen an allen verfügbaren statistischen Daten ausgeglichener als in den meisten OECD-Ländern. Man beachte: Nur Kuba und Nordkorea sind noch wesentlich ausgeglichener. Diese Verteilung ist trotz ganz wenigen Ausreissern nach oben in den letzten Jahrzehnten stabil geblieben, und die Armut hat ungeachtet problematischer Berechnungsweisen («relative Armut») abgenommen. Das World Economic Forum hat die Schweiz auf der Basis einer Reihe von Indikatoren zum wettbewerbsfähigsten Land der Welt erklärt und die EU-Kommission zum innovativsten. Die Arbeitslosigkeit ist mit rund 3 Prozent die tiefste in Europa, die Beschäftigung mit Abstand die höchste. Das alles ist indes nicht gottgegeben.
Es gibt eine Unzahl von Büchern und Studien, die sich mit der Frage befassen, warum einige Länder Wohlstand erarbeiten und andere nicht. Es ist dies die Frage, die mich schon als Finanzminister umtrieb. Ich habe einerseits versucht, Erkenntnisse aus meinen Erfahrungen als Unternehmer und Politiker herauszudestillieren. Andererseits habe ich in der ökonomischen Literatur und in Gesprächen mit Wissenschaftern nach Bestätigung oder Nichtbestätigung meiner Erfahrungen gesucht. Dort, wo sich wissenschaftliche Erkenntnis und Erfahrung decken, gehe ich davon aus, dass das Ergebnis robust ist. Ich will versuchen, das in zehn Gebote des Wohlstandes zu verdichten.
Erstes Gebot: Der Staat soll die Steuerung von Angebot
und Nachfrage den Märkten überlassen.
Ein Staat kann keinen Wohlstand erwirtschaften, das können nur seine Bürger. Erarbeiten die wirtschaftlichen Akteure keinen zureichenden Wohlstand, verliert der Staat in den Augen seiner Bürger rasch seine Legitimation. Die Belohnung von Erfolg und Bestrafung von Misserfolg auf den Märkten ist ein unermüdlicher Treiber des Wohlstandes. Die Märkte erfüllen ihre Allokationsfunktion aber nur dann zureichend, wenn der Staat ihnen genügend Freiräume belässt. Nur eine freiheitliche Wirtschaftsordnung wird die erwartete Leistung erbringen. Staatseingriffe in die Märkte haben das Potential, auch gut funktionierende Marktwirtschaften abzuwürgen. Der Preis der Freiheit ist allerdings die Verantwortung. Es liegt im ureigensten Interesse der Unternehmen, eine Unternehmungskultur zu pflegen, welche sich an die Prinzipien des ehrbaren Kaufmanns hält – sonst machen sich die Regulatoren an die Arbeit, und die Unternehmen dürfen sich nicht beklagen. Mit ein Grund für die aktuelle Regulierungswelle ist die Wahrnehmung der Politiker, viele Manager hätten solche Werte massiv verletzt. Allerdings ist diese Wahrnehmung oftmals bloss vorgeschoben, denn der weitaus grösste Teil der Unternehmen wird tadellos geführt. Sonst ginge es der Schweiz niemals so gut. Freiraum für Märkte bedeutet auch, den grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsaustausch zu liberalisieren. Dieses Konzept, unter dem Stichwort «Globalisierung» gelobt und verteufelt, war in den letzten 60 Jahren beispiellos erfolgreich. Im Gegensatz zu dem, was uns Medien und Hilfswerke immer einreden wollen, ist die Welt nicht ungleicher geworden, hat die Armut trotz Bevölkerungsexplosion abgenommen, hat sich der Hunger verringert, ist die Lebensqualität für einen grossen Teil der Weltbevölkerung markant gestiegen und bildet sich in vielen früher mausarmen Ländern ein Mittelstand, der die Armut überwunden hat.
Zweites Gebot: Der Staat soll die Reaktion der Menschen
bedenken, wenn er etwas reguliert.
Ohne die Durchsetzung elementarer Regeln ist auch eine moderne Marktwirtschaft nicht funktionsfähig. Regeln aber vermitteln immer Anreize. Die Verhaltensökonomie zeigt, dass Menschen auf solche «Incentives» reagieren. Die gleichen Menschen verhalten sich unterschiedlich, wenn ihre Institutionen und Kulturen unterschiedliche Anreize vermitteln. Weil Politiker diesen Tatbestand aufgrund des in der Politik verbreiteten statischen Denkens oder wegen ideologischer Scheuklappen oft nicht berücksichtigen oder falsch einschätzen, hat ein grosser Teil der staatlichen Erlasse andere als die beabsichtigten Wirkungen. Ein Beispiel sind die Eingriffe in die Arbeitsmärkte zum Schutz der Arbeitnehmer oder hohe Mindestlöhne, welche bloss zu höherer Arbeitslosigkeit führen, damit die gegenteilige als die beabsichtigte Wirkung entfalten und sich gegen die zu Schützenden richten. Eine weitere Erkenntnis ist wichtig: Auch eine Häufung im einzelnen begründbarer Regulierungen entwickelt in der Summe durch ihre unberechenbaren Interaktionen eine neue wachstumslähmende Qualität. Montesquieus weiser Satz darf heute noch mehr Gültigkeit beanspruchen als damals: «Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen, ist es nötig, kein Gesetz zu machen!»
Drittes Gebot: Die Menschen sollen die Früchte ihrer Arbeit
behalten dürfen.
Innovationen, die von Unternehmern, Kaufleuten und Ingenieuren entwickelt und umgesetzt werden, sind Motoren des Wohlstandes. Dafür müssen die Menschen hart arbeiten, sparen, investieren, innovieren, sich ständig aus- und weiterbilden. Das alles werden sie nur dann tun, wenn sie dazu die nötigen Freiräume haben und wenn sie die Früchte ihrer Arbeit behalten dürfen. Hier ist der Staat gefordert: Er muss Eigentum schützen durch moderate Steuern, stabilen Geldwert, gutes Patentrecht. Er muss Freiräume durch Wirtschafts- und Vertragsfreiheit sowie durch zurückhaltende Regulierung sichern. Er muss weiter durch den Rechtsstaat langfristige Stabilität und Berechenbarkeit schaffen, den Wettbewerb vor der Wirtschaft selber schützen, in leistungsfähige Infrastrukturen investieren und Dienstleistungen in Bereichen wie etwa des Rechtswesens, der Bildung, der Aussenwirtschaftspolitik oder des Sozialwesens erbringen. Das alles belegt, dass die Marktwirtschaft auf einen effizienten Staat angewiesen ist, weil sie selber die Bedingungen für ihr eigenes Überleben nicht zu schaffen vermag. Staat und Wirtschaft bilden ein niemals konfliktfreies, aber im Idealfall fruchtbares Zusammenspiel.
Viertes Gebot: Alle müssen die Chance erhalten, ihre Talente, Fähigkeiten und Neigungen zu nutzen.
Eine moderne Volkswirtschaft muss den Talentpool des ganzen Volkes nutzen können, nicht nur den einer privilegierten Minderheit. Das braucht eine offene und durchlässige Gesellschaft, Chancen- und Rechtsgleichheit sowie Bildungsmöglichkeiten für alle. Das kann auf Dauer wohl nur eine Demokratie sichern. Was es nicht braucht, sind Lohnpolizisten, Genderkontrolleure und andere Vertreter einer neuen staatlichen Misstrauenskultur.
Fünftes Gebot: Neues muss Obsoletes ersetzen können.
Nur die stete Erneuerung kann Wohlstand auf Dauer sichern. Sie entsteht durch die Initiative von Individuen, die bereit sind, grosse persönliche Risiken auf sich zu nehmen und Neues zu wagen. Joseph Schumpeter nannte dies die «schöpferische Zerstörung». Es muss alles vermieden werden, was diesen Prozess behindert: übersteigerter Kündigungsschutz, Behinderung von Betriebsstilllegungen, Ächtung neuer Technologien.
Sechstes Gebot: Alle sollen angemessen am Wohlstand
teilhaben können.
Man mag dies wollen oder nicht: Die Verhaltensökonomie zeigt, dass die Menschen eine angeborene Fairnesspräferenz haben. Sie bekunden Mühe, zu grosse und nicht nachvollziehbare Wohlstandsunterschiede innerhalb der Grossgesellschaft zu akzeptieren. Die emotionale Diskussion über Managersaläre ist ein Ausdruck davon. Fakt ist: Marktwirtschaft schafft materielle Ungleichheiten. Der Staat muss diese massvoll glätten, sonst verliert die Marktwirtschaft an Akzeptanz beim Volk, was ihre notwendigen Freiräume politisch gefährdet. Progressive Steuern und Sozialwerke, welche die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit berücksichtigen, sind geeignete Umverteilungsinstrumente zum Wohlstandsausgleich. Allerdings zeigt sich hier ein grundsätzlicher Zielkonflikt: Greift der Staat zu viel ein, schafft er Fehlanreize. Beide, Zahler und Bezüger, erhalten Anreize zur Leistungsverminderung, die den Wohlstand gefährden. Greift der Staat hingegen gar nicht ein, empfinden die Menschen das System als ungerecht. Das wirkt sich politisch aus durch mehr Interventionismus, der am Ende alle ärmer macht. Gleichheit und Wohlstand sind eben nicht gleichzeitig maximal erreichbar oder anders gesagt: Gleichheit ist nur um den Preis allgemeiner Armut zu haben. Der Staat darf erstens keine Illusionen nähren und muss zweitens dafür sorgen, dass alle genug zum Leben haben und Leistung nicht bestraft wird. Weil die Grösse des zu verteilenden Kuchens von einer möglichst effizienten Marktwirtschaft abhängt, darf die Glättung des Wohlstandes nicht über Markteingriffe erfolgen. Sonst wird der Kuchen kleiner, und es gibt weniger zu verteilen. Es geht darum, die primäre marktbedingte Ungleichheit hinzunehmen und diese in einem zweiten Schritt angemessen zu glätten.
Siebtes Gebot: Du sollst den Wert des Geldes in Ehren halten.
Langfristig ist die Bewahrung des Geldwertes für die Erhaltung von Wohlstand äusserst wichtig. Inflation enteignet viele und begünstigt wenige. Zu tiefe Zinsen, welche die Risiken nicht mehr reflektieren, führen zu Verzerrungen, Fehlallokationen und Blasen. Sie vermitteln Anreize zu übermässiger Verschuldung. Die Erfahrung zeigt, dass politisch nicht unabhängige Notenbanken stets von den Politikern für ihre Interessen missbraucht werden, beispielsweise um Menschen kalt zu enteignen und um Strukturschwächen zu überdecken, deren Behebung politisch unangenehm ist. Deshalb müssen Notenbanken einen klar und eng definierten Auftrag haben. Dieser Auftrag kann nur die Sicherung der Geldwertstabilität sein. Ich halte die Erweiterung des Auftrages wie in den USA auf die Maximierung der Beschäftigung oder wie bei der EU auf die Bankenaufsicht für verhängnisvoll. Sie führt zu einer fatalen und demokratisch nicht legitimen Politisierung der Notenbanken.
Achtes Gebot: Staaten, Gliedstaaten und Kommunen müssen ihre Aufgaben selbstverantwortlich und im Wettbewerb
wahrnehmen.
Nur wenn Gliedstaaten und Kommunen auch für die Finanzierung ihrer Aufgaben zuständig sind und gleichzeitig wissen, dass ihnen niemand hilft, wenn sie in Finanznot geraten, haben sie genügend Anreize, ihre Selbstverantwortung wahrzunehmen. Der Systemwettbewerb führt zu innovativen Lösungen, die sich im Erfolgsfall verbreiten, und er ist der beste Test für Regulierungsfolgen. Der Steuerwettbewerb schützt den Bürger vor staatlicher Ausbeutung und zwingt den Staat zu einem optimalen Preis-Leistungs-Verhältnis wie bei einem Unternehmen.
Neuntes Gebot: Der Staat soll seine Verschuldung
an Nachhaltigkeit orientieren.
Alle Finanzkrisen sind Verschuldungskrisen. Sie haben tiefgreifende und lange anhaltende negative Effekte auf Assetpreise, Wachstum und Beschäftigung. Das weiss man eigentlich schon lange. Man kann auch empirisch belegen, dass Schuldenstände über 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) das Wachstum signifikant beeinträchtigen. Der staatliche Handlungsspielraum geht verloren, Lasten, beispielsweise im Sozialbereich, werden auf künftige Generationen verlagert. Man wagt sich nicht auszudenken, was etwa in den USA oder in europäischen Ländern geschähe, wenn die Zinsen ein normales Niveau erreichten. Die Finanzpolitik vieler Industrieländer in den guten Jahren vor der Krise war schlicht unverantwortlich. Es zeigt sich auch, dass nur Konsolidierungsstrategien erfolgreich sind, die schwergewichtig bei den Ausgaben ansetzen. Hinzu kommt ein weiteres: Die Staatsrechnungen zeigen nur einen Teil der Wahrheit, nämlich die explizite Verschuldung. Nicht ausgewiesen werden die rechtlich verbindlich versprochenen, aber nicht finanzierten Sozialleistungen. Sie bilden die sogenannte implizite Verschuldung. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass global allein die demographiebedingten nicht finanzierten Mehrkosten der Sozialversicherungen das Zehnfache der Kosten der Finanz- und Wirtschaftskrise ausmachen. Der CFO einer Grossbank, der seine Bilanz wie ein Staat darstellte, wäre längst im Gefängnis.
Zehntes Gebot: Die Demokratie muss ihre Fehlanreize
institutionell und kulturell bändigen.
Eigentlich gibt es zur Demokratie keine vertretbare Alternative. Nur sie kann Machtmissbrauch bändigen und die Entstehung einer ausbeuterischen politischen Oligarchie verhindern. Die Public-Choice-Theorie von Nobelpreisträger George Buchanan zeigt und die Erfahrung bestätigt, dass auch die Politiker wie die Wirtschaftenden ihren Eigeninteressen folgen. Sie sind nicht von höherer Moral beseelte Menschen. Ich möchte drei Fehlanreize der Demokratie erwähnen: Erstens wollen Politiker wiedergewählt werden und denken deshalb in Legislaturen und nicht in Generationen. Zweitens versprechen und beschliessen Politiker aus wahlpolitischen Gründen mehr, als Staat und Wirtschaft zu finanzieren vermögen. Sie tun das deshalb, weil nicht sie, sondern ihre Nachfolger oder die nächsten Generationen für die Schulden haften. Es kam noch kein Politiker ins Gefängnis, weil er seinen Staat in den Bankrott führte. Manche bekamen sogar Denkmäler! Drittens werden häufig jene Probleme angepackt, die gerade von den Medien oder den Politikern selber hochgespielt werden und nicht die wirklich wichtigen. Nicht nur von den Führungskräften der Wirtschaft, sondern auch von Politikern ist eine Verstärkung der Kultur der Verantwortung zu fordern. Institutionell gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die Anreize in der richtigen Richtung zu verändern, etwa durch Schuldenbremsen oder durch eine strukturelle Stärkung der Selbstverantwortung, wie ich sie vorher bei den Strukturen der Gliedstaaten erwähnt habe.
Die politische Kultur der Schweiz: die sechs Prinzipien
Die Schweiz wird nicht von einer gemeinsamen Kultur, Konfession oder Sprache zusammengehalten. Im Gegenteil: sie ist im Grunde voller zentrifugaler Kräfte. Trotzdem ist sie seit langem überdurchschnittlich stabil. Sie wird im wesentlichen von sechs politischen Prinzipien zusammengehalten.
Das erste Prinzip (1) ist die Freiheit, und zwar einerseits als individuelle Freiheit, gepaart mit Selbstverantwortung, andererseits als Freiheit gegenüber einem übermächtigen eigenen Staat und gegenüber politischer Einflussnahme von aussen, beispielsweise von Brüssel.
Das zweite (2) ist das genossenschaftliche Prinzip, das zum freiheitlichen in einem permanenten Spannungsverhältnis steht und sich etwa äussert in breit akzeptierten Sozialwerken, in kollegial strukturierten Regierungen oder in der Suche nach Lösungen im Konsens.
Weil praktisch jeder Schweizer irgendeiner Minderheit angehört, sei es einer sprachlichen, konfessionellen, regionalen oder kulturellen, gibt es drittens (3) einen verwurzelten Respekt Minderheiten gegenüber.
Die Schweiz unterscheidet sich von anderen europäischen Ländern durch einen tief verwurzelten kulturellen Faktor. Der bedeutende politische Denker Karl Schmid bezeichnete ihn als die allgemeine Sorge aller um das Gemeinwesen. Die Politik wird nicht an eine abgehobene politische Kaste delegiert, sondern die Bürger treten, wie einst Gottfried Keller schrieb, vor die Haustüre und sehen zum Rechten. Daraus erwächst das, was wir als Milizprinzip bezeichnen. Es ist das vierte (4) der sechs Prinzipien und drückt sich darin aus, dass zahllose Bürger nebenamtlich für die res publica tätig sind, beispielsweise in kantonalen oder nationalen Parlamenten oder als Kader in der Armee.
Ausdruck der gleichen Kultur ist die direkte Demokratie, das fünfte (5) unserer Prinzipien. Sie ist zum eigentlichen Identitätsmerkmal der Schweiz geworden. Fast alle zentralen politischen Entscheide werden in letzter Instanz vom Stimmvolk getroffen. Das gibt politischen Entscheiden hohe Legitimität, es fördert die Identifikation mit dem Staat und es zwingt die Bürger zur permanenten Befassung mit der Politik.
Das sechste (6) Prinzip ist der Föderalismus mit Kantonen und Gemeinden mit hoher Autonomie, auch hoher Finanzautonomie. Er gestattet den Minderheiten die Gestaltung des näheren politischen Umfeldes gemäss ihrer besonderen Identität. Er bändigt die Macht des Staates durch Teilung, er führt durch Systemkonkurrenz zu bürgernäheren, gezielteren und effizienteren staatlichen Dienstleistungen, und er bewahrt die Bürger vor überbordendem Fiskalismus.
Wie halten es die Schweizer mit den zehn Geboten?
Ich glaube, dass die geschilderte politische Kultur mit ein Grund dafür ist, dass die zehn Gebote in der Schweiz zwar bei
weitem nicht perfekt, aber doch im internationalen Vergleich überdurchschnittlich befolgt werden. Das ist der Grund für die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz auf den Weltmärkten.
Die verfassungsmässig abgesicherten Handels-, Gewerbe- und Vertragsfreiheiten sind ausgeprägt. Die Skepsis gegenüber einem zu mächtigen Staat sowie der Sinn für Selbstverantwortung und Freiheit führen zu einer verhältnismässig tiefen Staatsquote (allerdings auch schon gegen 50 Prozent!), einer moderaten Steuerbelastung für Unternehmen und tiefe und mittlere Einkommen sowie einer im Vergleich vernünftigen Regelungsdichte. Leider gibt es auch bei uns eine zunehmende Tendenz, die Bürger durch Regulierung zu bevormunden. Das Volk hat an der Urne aber immer wieder die Regulierungswut gedämpft. Einige jüngere Volksentscheide und eine Häufung wirtschaftlich riskanter Volksinitiativen haben allerdings die Befürchtung geweckt, der Sinn für Freiheit im Volk könnte ebenfalls einer gewissen Erosion unterworfen sein. Lange waren in der Binnenwirtschaft die Märkte durch Kartelle verkrustet. In den letzten Jahren wurden aber diese Märkte grösstenteils aufgebrochen.
Auch wir haben natürlich zahlreiche Regulierungen mit Fehlanreizen, die nach dem zweiten Gebot eigentlich nicht zulässig sind. Aber die generell noch tiefe Regulierungsdichte verhinderte bisher Schlimmeres, und die direkte Demokratie mit ihren langwierigen und umständlichen Prozessen mag zwar hin und wieder geniale Lösungen erschweren. Aber viel wichtiger: sie verhindert auch geniale Fehler.
Das dritte Gebot, welches die kalte Enteignung der Leistungsträger verhindern will, wurde durch die moderaten Steuern, die überdurchschnittliche Geldwertstabilität und die recht solide Eigentumsgarantie bisher zureichend eingehalten. Elemente wie eine gute Infrastruktur, hohe Rechtssicherheit, verlässliche Verwaltung und wenig Korruption sind zusätzliche Erfolgsfaktoren.
Das vierte Gebot, die Nutzung des nationalen Talentpools, wurde in der Schweiz schon früh befolgt. Einer der Hauptgründe für die Entwicklung des Wohlstandes im 19. Jahrhundert war die Einführung einer qualitativ hochwertigen Volksschule, die recht eigentlich die nationalen Begabtenreserven erschloss. Als Erfolgsmodell erweist sich das duale Bildungssystem, das nicht nur qualitativ gute Hochschulen umfasst, sondern auch eine hervorragende Berufsbildung. Dieses System produziert nicht wie in vielen Ländern durch übertriebene Akademisierung am Bedarf der Wirtschaft vorbei, und es ist so durchlässig, dass auch tüchtige Berufsleute über Weiterbildung grosse Karrieren machen können.
Der relativ liberale Arbeitsmarkt und die gut ausgebaute Arbeitslosenversicherung machen Restrukturierungen und Betriebsschliessungen einfacher als anderswo. Von der Linken wird das zwar immer wieder scharf kritisiert. Aber dies ist ein enormer Standortvorteil, der die Erneuerung der Volkswirtschaft beschleunigt und der von Neuansiedlern als Pluspunkt verbucht wird.
Ich habe die im Vergleich zu anderen Ländern ausgewogene Einkommensverteilung in der Schweiz erwähnt. Unsere Einkommenssteuern sind stark progressiv, und die Sozialwerke enthalten starke Umverteilungskomponenten. Trotzdem scheint ein insgesamt akzeptables Gleichgewicht ohne allzu störende Fehlanreize erreicht worden zu sein. Damit ist das sechste Gebot einigermassen erfüllt. Allerdings ist auch hierzulande das Gefühl einer verbreiteten Ungerechtigkeit unverkennbar, losgelöst von den statistischen Daten, die hierfür keinen Anlass bieten. Das führt dazu, dass die politische Verteidigung der Marktwirtschaft schwieriger geworden ist – es braucht besondere Anstrengungen, die ich im letzten Teil dieses Essays skizziere. Ein Kampf ist allerdings noch nicht ausgestanden: der Kampf der noch Ungeborenen und der Kinder, die keine wirksame politische Lobby haben, gegen die Besitzstandswahrer der Aktiven- und Rentnergeneration. Diese, man muss sagen, privilegierte Generation hat es bisher nicht fertiggebracht, die Sozialwerke angesichts der demographischen Veränderungen und des anhaltenden Tiefzinsumfeldes nachhaltig zu sichern. Hier drohen Entwicklungen, die den Wohlstand – wie in anderen Ländern auch – gefährden, wenn nicht mutige Entscheide gefällt werden. Dass das bisher nicht geschah, hat mit den erwähnten Fehlanreizen der Demokratie zu tun.
Der Auftrag unserer Notenbank ist klar: Sie muss sich auf die Stabilität des Geldwertes fokussieren. Darin war sie sehr erfolgreich. Damit ist das siebte Gebot erfüllt. Als ich zur Schule ging, kostete 1 US-Dollar 4.30 Franken, heute noch 90 Rappen. Im Durchschnitt wertete sich der Franken während Jahrzehnten pro Jahr um etwa 1 Prozent auf. Das hat die Wirtschaft gestärkt, weil die Exportwirtschaft stets gezwungen war, die Kostennachteile durch Innovation und Effizienz zu kompensieren. Zurzeit spielt der gesunde Mechanismus nicht, weil die Nationalbank den durch die Finanzkrise schockartig angestiegenen Aufwertungsdruck durch die Fixierung einer Frankenuntergrenze gegenüber dem Euro brechen musste. Das Problem wird sein, wie die Notenbank den Ausstieg aus dieser Fesselung wieder schaffen wird.
Das achte Gebot eines ökonomisch einigermassen effizient gestalteten Föderalismus ist bei uns gut erfüllt. Allerdings ist ein permanenter Druck zu mehr Zentralisierung mit all ihren schädlichen Nebenwirkungen unverkennbar.
Das neunte Gebot der überschaubaren Verschuldung ist gut erfüllt – mit Ausnahme der Sozialwerke. Die Schweiz hat während der ganzen Finanzkrise Überschüsse erwirtschaftet und Schulden abgebaut. Das ist allerdings das Resultat einer gewaltigen politischen Anstrengung um die Jahrhundertwende, als die Schweiz in eine Verschuldungsspirale geriet. Mit einer Verfassungsvorschrift, der sogenannten Schuldenbremse, die den Rechnungsausgleich über einen Konjunkturzyklus fordert, und mit drei substanziellen Sparpaketen gelang die Wende. Die Schuldenbremse gewann deshalb viel Autorität, weil sie gegen den Widerstand der Linken mit 84,5 Prozent Ja-Stimmen vom Schweizer Volk angenommen worden war. Es ist eine alte Schweizer Erfahrung, dass häufig das einfache Volk klüger als seine Politiker ist. Leider hat die gute Finanzlage der Schweiz den Effekt, dass die Finanzdisziplin wieder nachzulassen beginnt.
Drei institutionelle Faktoren bändigen gemäss dem zehnten Gebot in der Schweiz die Fehlanreize der Demokratie: erstens die erwähnte Schuldenbremse, zweitens der institutionelle Druck zur Selbstverantwortung auf die Kantone und Gemeinden durch den Föderalismus und drittens die direkte Demokratie. Der Zwang, wichtige Probleme dem Volk zur Entscheidung vorzulegen, beispielsweise auch Steuererhöhungen, wirkt in hohem Masse disziplinierend.
Ich glaube also, dass der Erfolg der Schweiz kein Zufall ist. Das ist die gute Nachricht. Es gibt leider auch eine schlechte: Erfolg macht verwöhnt. Man beginnt Fehler zu machen, und die Disziplin lässt nach. Es wird politisch immer schwieriger, die Einhaltung der zehn Gebote durchzusetzen, und dies trotz des Anschauungsunterrichts in der EU, wohin deren Verletzung führt.
Wie halten es unsere Nachbarn mit der Sünde?
Die hohen Staatsquoten und die sprunghaft zunehmende Regulierungsdichte früher wohlhabender europäischer Industriestaaten verdrängen die marktwirtschaftlichen Freiräume zusehends. Der Harmonisierungswahn der EU hebt die Systemkonkurrenz Schritt für Schritt auf. Nach dem Prinzip «Raise your rivals’ cost» versuchen die überregulierten grossen Länder durch Harmonisierung den agileren Konkurrenten ihre Wettbewerbsvorteile zu reduzieren, eine Strategie, die auch einen grossen Teil des Druckes der EU auf die Schweiz erklärt. Im Steuerbereich stehen die Zeichen auf Steuerkartelle und nicht auf Steuerwettbewerb. Zu hohe Steuern und Bestrafung der Sparer durch negative Realzinsen, aber auch der Bruch der Maastricht-Kriterien und die Nichteinhaltung des Bail-out-Verbotes im Vertrag von Lissabon befeuern die Angst vor Enteignung unter dem Vorwand der Krisenbewältigung.
Die meisten Länder haben die guten Zeiten vor der Krise nicht zur Konsolidierung ihrer Finanzen genutzt und sind schon überschuldet in die Krise geschlittert. Wohl haben einige Länder anerkennenswerte Anstrengungen zur Konsolidierung der Haushalte und zur Behebung von Strukturschwächen unternommen, aber die Resultate sind ungenügend. Die durch die Notenbanken künstlich verbilligten Zinsen haben den Reformdruck gedämpft. Dabei haben Länder wie Schweden, Polen, die Türkei oder Estland gezeigt, dass nur mutige, tiefgreifende und rasche Reformen erfolgreich sind. Die Politik der Notenbanken, die in der Krise zur Verhinderung des Zusammenbruchs des Finanzsystems richtig war, verliert an Wirkung, verzerrt die Lenkungswirkung der Zinsen und stellt die Unabhängigkeit der Notenbanken in Frage.
Die Arbeitsmärkte sind nicht wirklich entschlackt worden, und in vielen Ländern werden Restrukturierungen immer noch grosse Widerstände entgegengesetzt. Die Wohlstandsunterschiede und die Arbeitslosigkeit sind in den Ländern mit den rigidesten Arbeitsmärkten am grössten, aber den Regierungen gelingt es nicht, sich gegen die Interessengruppen durchzusetzen, welche Strukturreformen sabotieren. Im bisher erfolgreichen Deutschland wird gar der Rückwärtsgang geschaltet, obwohl sich gerade dort die nicht einmal so spektakulären Schröder-Reformen so segensreich ausgewirkt hatten. Die Selbstverantwortung der EU-Staaten wird durch die fortschreitende Harmonisierung und die Hilfszusagen der verschiedenen Rettungsschirme geschwächt und nicht gestärkt. Ich befürchte, dass die momentane Beruhigung der Märkte das Resultat der Drogen der Zentralbanken ist. Kein einziges der fundamentalen Probleme ist wirklich gelöst.
Ein Plan
Das kann es nicht sein, was die Schweiz anstrebt. Sie befindet sich in einer gleichsam prekären Lage: Es geht ihr noch gut, aber das scheint eine weitsichtige Politik zu erschweren. Die Linken wittern Morgenluft und blasen zum Angriff auf die helvetischen Errungenschaften. Sie tun dies konsequent und erfolgreich, keine Frage. Die veröffentlichte Meinung strotzt vor linken Gemeinplätzen. Grundsätzlich wäre darum jetzt eine mediale liberale Konterrevolution angezeigt. Schaffen es die bürgerlichen Parteien, sich auf eine wirtschaftsfreundliche Agenda zu einigen? Ich würde es mir wünschen. Die Wirtschaft macht ihre Hausaufgaben mit Erfolg. Bei der Politik beschleichen einen Zweifel.
Es ist jedenfalls höchste Zeit, dass führende Unternehmer und Wirtschaftsvertreter den direkten Kontakt zu den Bürgern suchen und zu aktuellen Fragen in der Öffentlichkeit wieder klarer Stellung beziehen. Es braucht in der politischen Diskussion gewiss auch die bezahlten Verbandsfunktionäre, die in der Sache und in der Argumentation versiert sind. Viel wichtiger ist aber, dass die Unternehmer selber wieder Flagge zeigen. Sie sind viel glaubwürdiger als ihre bezahlten Stellvertreter. Die Klartextargumentation darf nicht mit Arroganz und Überheblichkeit verbunden sein, wie man das leider bisweilen spürt, sonst fühlt sich der Büezer zu Recht an der Nase herumgeführt.
Die Unternehmen müssen sich bewusst sein, dass ihr Verhalten auch die politische Stimmung beeinflusst und dass diese Stimmung darüber entscheidet, wie viel Freiheit das Volk der Wirtschaft gewährt. Die verstärkte kommunikative Tätigkeit darf darum nicht zur Selbstglorifikation der Topmanager degenerieren. Es geht um das Interesse an der Sache und um einen kreativen
Dialog mit dem Volk. Und gute Kommunikation ist auf Dauer nur glaubwürdig, wenn die Substanz dahinter stimmt.
In das gleiche Kapitel geht die Frage, wie sehr sich ausländische Führungskräfte in die schweizerische Mentalität einfühlen können. Ich bin der Meinung, die Verbände müssten sich um die «Helvetisierung» auch der ausländischen Kader kümmern. Man könnte sich sogar vorstellen, dass pensionierte gute Manager und Unternehmer in der Anfangszeit für ausländische Führungskräfte eine gewisse freiwillige Coach-Funktion übernehmen.
Aber das Problem liegt noch tiefer: Wir erleben eine Zeitgeisttransformation grundsätzlicher Art. Die allmähliche Drift von der Selbstverantwortung zum Wunsch nach Betreutwerden, von der Freiheit zur Gleichheit, von der Risikobereitschaft zum Sicherheitswahn, von Verzicht und Disziplin zu Partystress und Konsumrausch. Gegen den Zeitgeist anzukämpfen, ist eine Herkulesaufgabe. Aber unmöglich ist diese Aufgabe nicht: Wenn sich die letzten freiheitlichen Bannerträger nur ein wenig von Motivation, Diskussionsfreude und Kampfgeist der Jungsozialisten (Juso) anstecken liessen, wäre schon viel gewonnen!
Wenn nicht, ist vielleicht meine Generation die mit dem historisch höchsten Wohlstand gewesen.