«Wo Geld ohne Geist ist, sät es nur Streit und Unheil»
Einer der wichtigsten Schweizer Wirtschaftsführer der letzten Jahrzehnte blickt zurück. Er erklärt, warum die Elite eine wesentliche Mitschuld an der stark zunehmenden Regulierung trägt und warum der Kampf dagegen ein Kampf gegen zeitgeistige Windmühlen ist.
Herr Soiron, Sie gehören als unternehmerisch enorm erfolgreicher Intellektueller einer, wie mir scheint, immer kleiner werdenden, aber für die Historie der modernen Schweiz bedeutenden Zunft an. In Geschichte promoviert, übernahmen Sie bereits mit 28 eine Führungsposition bei Sandoz. Wie kam einer wie Sie in die Chemiebranche?
Das ist ganz einfach. Ich hatte zwar einen guten Job als Geschichtslehrer, wollte aber nicht noch 40 Jahre bis zur Pensionierung den immer gleichen Stoff – Geschichte, Latein, Deutsch – vermitteln. Die Chemie suchte damals Leute, denn es herrschte Hochkonjunktur. Sandoz zahlte mir 100 Franken mehr im Monat. Das war damals – wir reden von 1973 – viel Geld. Also: Ja, ich bin des Geldes wegen in die Chemie.
Wie hat sich die Rolle des Staates entwickelt, wenn Sie auf Ihre fast 50 Jahre in Führungspositionen zurückschauen?
Da hat es massive Veränderungen gegeben! Ich illustriere das ein wenig. Zu meinen Aufgaben bei Sandoz gehörte es, den Geschäftsbericht zu schreiben. Vergleichen Sie nur einmal den damaligen Umfang mit dem des heutigen Novartis-Berichts: Die paar Seiten von damals wurden durch ein Buch ersetzt. Zweites Beispiel: Als ich in den frühen 90ern zum ersten Mal in einem Verwaltungsrat sass, war «Compliance» für mich ein reines Fremdwort. Heute belastet und dominiert es die Arbeit vieler Verwaltungsräte. Dass das Bewusstsein gefördert werden muss, dass Regeln gelten: okay – aber inzwischen heisst Compliance allzu oft: Häkchen in Kästchen setzen, Listen und Protokolle führen etc. Verfahrensvorschriften werden immer wichtiger und überlagern, ja ersticken die Idee und den erwünschten «Outcome». Wie fragwürdig die bürokratischen Regeln des Staates geworden sind, erlebt derzeit mein Sohn: Wir wollen auf einem Grundstück einen Baum fällen. Das verbietet man uns, weil sein Stamm inzwischen einen Durchmesser von 20 Zentimetern erreicht hat. Hätten wir das Gelände ein paar Jahre früher gekauft, wäre der Baum ein paar Zentimeter dünner – und er hätte ihn fällen dürfen! Übrigens habe ich nachgeschaut: Der Begriff «Regulierung» wird erst in den frühen 1990ern im deutschen Sprachgebrauch üblich. Offenbar wurde das Phänomen erst damals relevant genug, dass man ein Wort dafür benötigte. Heute breitet sie sich immer weiter aus!
Wie kommt es dann, dass man von links Klagen darüber hört, der Kapitalismus sei heute ungezügelter denn je, die Ziele der «Neoliberalen» seien erreicht?
Erstens: Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Denkweisen in der Gesellschaft. Dabei greift «rechts» oder «links» zu kurz, denn wenn es der Rechten dient, versucht auch sie gerne, ihre Interessen regulatorisch durchzusetzen. Genauso rufen auch immer wieder sogenannte «Liberale» nach Regulierung, wenn es um ihre eigenen Interessen geht. Die Beispiele findet man in der Versicherungs- und Bauwirtschaft, auch in Big Pharma. Das wird von den Gegnern sehr wohl wahrgenommen und untergräbt damit die Glaubwürdigkeit «echter» liberaler Forderungen. Der konsequente liberale Ansatz wird eigentlich nur noch von Think Tanks, «Uninteressierten» und Intellektuellen vertreten. Zweitens muss man ja auch sagen, dass es das liberale Lager selber war, das einen Teil der Munition für immer neue Regulierungsforderungen produzierte: Unternehmerische Fehlleistungen wie Swissair oder Enron, Gehaltsexzesse oder die Finanzkrise von 2008, welche die Politik, Volkswirtschaft und den gesellschaftlichen Diskurs tief prägten – und einiges ist noch gar nicht ausgestanden –, das hat Bilder geschaffen und Vorurteile bestätigt: Die Mächtigen und die Eliten tun nicht mehr, «was sich gehört und anständig wäre». Das Versagen von Vorzeigeunternehmen wie Swissair, UBS, Deutsche Bank etc. schuf ein Gefühl der Dysfunktionalität von Systemen, des Ungenügens der Führungsgruppen und der Notwendigkeit, «einzugreifen», bei einem gleichzeitig völligen Mangel an Erfahrung, dass Regulierung nur ein Kaschieren von Dysfunktionalitäten ist – in kleinen Beamtenstrukturen und in Regeln, die dann wiederum systematisch missbraucht werden.
Der klassische Liberalismus scheint einen schweren Stand zu haben…
Tatsächlich! Wird eines Tages die Geistesgeschichte unserer Zeit geschrieben, dann wird sie wahrscheinlich «Sicherheitsbedürfnis» und «Schutz vor Risiken» als stärkere Motivatoren identifizieren als beispielsweise «Innovation» oder «Wachstum». Innovation und Wachstum vermögen es ja nicht, die ganz normalen Leute «auf der Strasse» wirklich «anzuturnen»; die sehen darin viel eher die Unsicherheiten und Risiken statt «Sicherheit»! Insofern befriedigen Regulierung, die wachsende Präsenz des Staats und die hohe Staatsquote, die weiter steigt, ein Zeitbedürfnis. Darauf haben wir als Liberale – geben wir es zu – keine Antwort, die wirklich zündet. Das war einst anders, als die Befreiung von Zunftzwängen und ähnlichem ein Zeitbedürfnis bediente, das besonders der neu entstehende Mittelstand der Anwälte, Ärzte, kleinen Fabrikanten und Händler empfand, die sich alle entfalten wollten. Heute bedient die Regulierung eben das Zeitbedürfnis eines Mittelstands, der sich verändert hat und sich bedroht fühlt. Das sind die zeitgeistigen Windmühlen, mit denen wir zu kämpfen haben.
Also ist Regulierung unausweichlich in dieser zunehmend komplexen und individualisierten Welt?
Es wäre mir lieb, ich könnte mit Überzeugung sagen: Nein! Aber ich kann es nicht. Das Rad der Geschichte zurückzudrehen, ist immer eine Illusion. Meine Strategie wäre die folgende: Erstens müssen wir die Regulierung, die wir haben, intelligenter machen. Da hülfen eine grössere organisatorische Phantasie und bessere Anreize, um die gewünschten Resultate attraktiv zu machen. Zweitens müssen wir das Wachstum der Regulierung bremsen. So würde ja etwa die moderne Datentechnologie erlauben, Transparenz und damit Wettbewerb so herzustellen, dass bürokratische Regelungen überflüssig würden. Drittens müssen die massiven volkswirtschaftlichen Kosten der Regulierung der Öffentlichkeit viel bewusster werden. Sie liegen weltweit vielleicht irgendwo zwischen 10 und 15 Prozent des BIP. Das ist gigantisch.
«Der konsequente liberale Ansatz wird eigentlich nur noch von Think Tanks, ‹Uninteressierten› und Intellektuellen vertreten.»
Diese Schätzung halte ich noch für sehr vorsichtig, wenn man sieht, wie viel Zeit in Grossbetrieben für unproduktive Tätigkeiten aufgewendet wird bzw. werden muss. Aber wer soll denn diese Zahlen berechnen? Abermals staatliche Behörden, die dafür abermals Ressourcen verbrauchen und deren Berechnungen an den üblichen Krankheiten leiden? Private Akteure? Wer glaubt diesen?
Es gibt eine ganze Reihe Think Tanks, die das können. Und es gibt solche, die haben eine beachtliche Resonanz und Glaubwürdigkeit. Bei uns zum Beispiel Avenir Suisse. Und wenn die Resultate den Vorwurf «Ihr spinnt mit euren Berechnungen!» mitsamt den entsprechenden Debatten provozieren, dann ist es genau das, was es braucht. Wir müssen die Gesellschaft dafür sensibilisieren, wie viele Mittel wir in unproduktive Regulierung ohne genügend Mehrwert stecken.
An Regulierung können vier Typen von Akteuren Interesse haben: Unternehmen bzw. deren Interessenverbände, Politiker, die Verwaltung, die Stimmbürger. Wer dominiert?
Tatsächlich tragen ganz verschiedene Akteure zum Phänomen der um sich greifenden Regulierung bei. Wer dominiert, fällt mir schwer zu sagen. Natürlich sind da all die Politiker, die wahrgenommen werden wollen und darum ihre Vorstösse lancieren. So wäre Thomas Minder ohne seine Initiative nie so bekannt geworden, wie er es heute ist. Sein Beispiel zeigt übrigens auch, dass die Regulierung nicht nur von der Linken angetrieben wird. Dann ist da die Verwaltung. Zum einen führt sie aus, wozu die Politik sie antreibt. Dann meint sie, in eigener Verantwortung Dinge perfektionieren oder antizipieren zu müssen. Dazu gehören dann eben auch Aufgaben, die von aussen her an die Schweiz herangetragen werden: Steuerschlupflöcher schliessen, das Finanzsystem regulieren, den CO2-Ausstoss reduzieren etc. Als dritte Kraft wirken dann gelegentlich Branchen und Unternehmen selber, und zwar dann, wenn sie die Bewahrung spezifischer schweizerischer Privilegien bzw. Schutz gegen Konkurrenten suchen. Dass das nichts anderes als «Rent Building» ist und klar gegen liberale Grundsätze verstösst, kümmert dann wenig. Beispiel: Als Avenir Suisse sich 2008 für den Parallelimport von Arzneimitteln einsetzte, hat die – sonst so liberale – Basler Pharmaindustrie sehr ungnädig reagiert. Und schliesslich wird der Regulierungsapparat von einer Mehrzahl der Medien in Gang gehalten: Kommen Missstände ans Tageslicht, dann wird garantiert ziemlich laut gefordert, das könne so nicht weitergehen und die öffentliche Hand habe deshalb einzugreifen.
Konnten Sie in Ihrem Berufsleben dazu beitragen, diesen «zeitgeistigen Mechanismus» etwas abzuschwächen?
(hält inne) Nein. (hält inne) Nein! Punkt.
Als was würden Sie sich beruflich bezeichnen? Sind Sie Historiker? Unternehmer?
Ein Berufshistoriker stellte mich vor ein paar Jahren in den Senkel: Nur weil ich Geschichte studiert habe, sei ich noch lange kein Historiker. Schliesslich hätte ich weder ein Buch geschrieben noch einen Lehrstuhl. Und vielleicht hatte er nicht einmal unrecht. Die Bezeichnung, die mir am liebsten war, ist: Industrieller.
So positiv konnotiert klingt das wie aus einer anderen Welt, mindestens aus einer anderen Zeit.
Ja tatsächlich: Für mich hat der Titel «Industrieller» einen positiven Klang! Es sind die Industriellen, die einen erheblichen Teil der Weltversorgung sicherstellen. Sie sind es, die mit limitierten Ressourcen Mehrwerte schaffen – denn das ist es, was die Unternehmen tun. Übrigens ist ja auch Geld eine limitierte Ressource, von der man weniger in ein Unternehmen reinstecken darf, als rauskommen muss. Für mich ist darum der Industrielle ein höchst paradigmatischer Beruf: Er kann Nachhaltigkeit besser und wirksamer verkörpern als alle, die sie nur predigen.
Haben Sie als – ich nenne Sie nun trotzdem so – Historiker einen anderen Zugang zum Geschäftsleben als ein Betriebs- oder Volkswirt? Ergaben sich daraus Vor- oder Nachteile?
Zuerst etwas Anekdotisches: Als Historiker verwenden Sie in Diskussionen, Sitzungen, Anträgen ganz automatisch gewisse Analogien und Beispiele, die gelernten Betriebswirten oder Ingenieuren nicht geläufig sind – und daher zuweilen viel Eindruck machen: Da ist ein autokratischer CEO bald einmal ein zweiter Sonnenkönig, ein Einflüsterer ein Père Joseph, ein kalter Stratege ein zweiter Richelieu. Und dann hören Sie schnell: «Was für ein glänzender Vergleich!» Die systematischere und wichtigere Antwort ist: Die Limitierung von Ressourcen prägt das Denken von Ökonomen; juristische Denkkategorien sind Regeln, Haftung, Verträge. Historiker hingegen sind vom Begriff der Zeit geprägt. «Zeit» ist ihr Rohstoff, Zeit verändert alles. Sie müssen einen Historiker nicht erst überzeugen, dass alles total veränderlich sei. Veränderlichkeit und Vergänglichkeit sind dagegen für klassische Manager oft fast Erweckungserlebnisse, während sie Historikern eine natürliche Skepsis gegenüber dem Momentanen – so sicher es auch scheint – mitgegeben haben. Dies dann konstruktiv in Pläne und Strategien einzubauen, ist schon was!
«Die Lust am intellektuellen Fight ist in meinen politischen Kreisen und Positionen – von Ausnahmen wie Konrad Hummler, Tito Tettamanti oder Walter Kielholz einmal abgesehen – nicht weit verbreitet.»
Was würden Sie in beruflicher Hinsicht als Ihren grössten Erfolg bezeichnen?
Eigentlich liegt der grösste Erfolg ausserhalb der beruflichen Mandate: Man spricht mit mir auch ausserhalb der Wirtschaftskreise! Dazu gehört auch, dass meine Kinder und Enkelkinder mich um Rat fragen, mit mir reden, auch wenn wir nicht immer gleicher Meinung sind. Ich sage das, weil ich zu viele Familien kenne, wo die nächsten Generationen sich keinen Deut darum interessieren, was die Alten denken.
Und beruflich?
Gewiss: Der Turnaround bei Lonza freut mich.
Gab es auch grosse Misserfolge?
Ja. Bei Nobel Biocare habe ich es verpasst, einen wirklichen Turn-around einzuleiten. Und bei Holcim hätte ich nach Abschluss der Fusionsverhandlungen mit Lafarge nicht abtreten dürfen, auch wenn ich meinen Rücktritt vorher angekündigt hatte. Der Wechsel an der Spitze gab nämlich Veränderungen und Unsicherheiten Raum, die eine ohnehin schon schwierige Aufgabe komplizierten.
Sie haben bis auf das Präsidium des Graduate Institute in Genf und einen Verwaltungsratssitz bei der Jungbunzlauer-Gruppe alle Ämter abgegeben. Wie leben Sie mit der Einbusse an beruflicher Bedeutung?
Natürlich wusste ich, dass ein Rücktritt nach dem anderen kommen würde – und ich hatte riesige Angst davor, in ein Loch zu fallen. Ja, auch der Wegfall von «Bedeutung» tat schon zum vornherein weh. Jetzt, wo das alles da ist, erschrecke ich fast in einem ganz anderen Sinn: Ich entdecke nämlich, dass ich fast zum Pensionär geboren bin. Die Existenz des «Partikulars» – so nannte man das früher – ist mir auf den Leib geschnitten. Gewiss: Ganz immun gegen den Verlust des VIP-Status bin ich nicht – aber ich geniesse es, nicht mehr total ausgebucht und von Sitzungen, Meetings, Terminen fremdgesteuert zu sein (hält inne). Da gibt es allerdings schon auch noch etwas, das dem allem eine zusätzliche Wendung gab. Meine Frau hatte einen schweren Unfall und ist auf Hilfe und Pflege angewiesen. Das hat meiner Verfügbarkeit, die es vorher nicht gab, einen ganz unerwarteten Sinn gegeben…
Was hatte Sie in Ihrer Berufszeit angetrieben?
Vor allem: Die Mechaniken, die Zusammenhänge und wie die Organisationen tickten zu verstehen.
Waren Sie ein guter Networker?
Vielleicht weil mich die spezielle Mechanik von Organisation so interessierte, kam ich immer ziemlich rasch in die Nähe derjenigen, die das Sagen hatten. Quantitativ waren meine Netzwerke daher nie sehr gross, qualitativ aber recht gut. Wahrscheinlich habe ich das viel gezielter ausgenutzt, als ich mir selber eingestehe.
Kann man das lernen?
Ich glaube – und vielleicht ist diese Aussage etwas gewagt –, es gibt schon einen angeborenen Machiavellismus. Und ich würde mich als nicht ganz frei davon bezeichnen. Wer die Mechanik, wie Organisationen ticken und wer die Uhrmacher sind, schneller sieht als andere, sagt dann auch: Die, die keine Uhrmacher sind, interessieren mich nicht so schrecklich.
Den Jungen wird nachgesagt, sie seien wenig aufopferungs- und leidensbereit. Halten Sie diesen Vorwurf für nachvollziehbar?
Diese Debatten führe ich mit meinen Grosskindern immer wieder. Weniger aufopferungsbereit zu sein, werfe ich ihrer Generation gar nicht vor. Was ich den Jungen vorwerfe, ist der zum Teil gedankenlose Hedonismus. Diesen – er ist nicht einmal sophistiziert! – betrachte ich als gefährlich. Aber vielleicht projiziere ich damit auch ein Gesellschaftsbild, das etwas Naives und schrecklich Altmodisches hat, nämlich das des mittelständischen Bürgers, der seine Pflichten erfüllt, der genau weiss, in welchem gesellschaftlichen Umfeld diese Pflicht stattfindet, der auch weiss, dass er dem Kaiser das geben muss, was des Kaisers ist.
Wie geht es der Schweiz?
Der Schweiz geht es gut! Natürlich gibt es x Dinge, die nicht gut laufen: Die Sozialversicherung wird so, wie sie ist, an die Wand gefahren, der Föderalismus wird ausgehöhlt, die Energiezukunft wird fahrlässig angepackt etc. Dennoch: Die Schweiz hat tragfähige Strukturen; die Wirtschaft ist konkurrenzfähig – nicht für immer, aber zurzeit; und wir haben immer noch ein Gemeinschaftsverständnis, das es erlaubt, im Krisenfall Lösungen zu finden. Also: Wir leben nicht im Paradies, aber a) stehen wir nicht schlechter da als früher und b) brauchen wir uns im internationalen Vergleich nicht zu verstecken. Im Gegenteil: Mit einigen Grundproblemen, die unsere Nachbarn belasten, sind wir viel besser fertig geworden.
Sie meinen den Umgang mit der Polarisierung, die aktuell viele andere Länder umtreibt?
Ja. Vielleicht setze ich mich in die Nesseln, wenn ich behaupte, der SVP-Aufstieg seit den 90ern sei insofern fast ein Glück gewesen, weil wir dadurch Diskussionen und Strömungen à la AfD, Front National etc. bereits hinter uns haben. Der entscheidende Unterschied: Im Gegensatz zu den Deutschen und Franzosen haben wir die Unzufriedenen, die es halt gibt, nicht ausgegrenzt. Das ist nicht selbstverständlich. Als ich auf einem Podium in Stuttgart sagte, die systematische Ausgrenzung der AfD werde sich noch einmal rächen, wurde sogar der sonst so besonnene Ministerpräsident Winfried Kretschmann ziemlich heftig: Mit diesen «Undemokraten» dürfe man nicht reden! Meine Antwort, dass diese Ausgrenzung als «Undemokraten» sie mit der Zeit wirklich zu Undemokraten mache, wurde überhaupt nicht akzeptiert. Solche Ausgrenzungen sind im Schweizer System glücklicherweise fast nicht möglich. Insofern ist die Schweiz gut aufgestellt.
Wie steht es in liberalen Kreisen um die Lust, zu wissen und zu begreifen? Kommt da eine Generation nach, die auf ähnlichem Niveau argumentieren kann?
Die Lust am intellektuellen Fight ist in meinen politischen Kreisen und Positionen – von Ausnahmen wie Konrad Hummler, Tito Tettamanti oder Walter Kielholz einmal abgesehen – nicht weit verbreitet. Viele nehmen einfach vorgegebene Positionen auf, diskutieren nicht gerne quasi experimentell und sind auch nicht sehr willens, die Schwächen des eigenen Lagers zu identifizieren, einzugestehen und zu diskutieren. Leider sehe ich auch bei der nächsten Generation einen Hang, Musterlösungen ziemlich unbesehen nachzubasteln, und wenig Originelles, Eigenständiges.
Das stimmt mich jetzt nicht gerade optimistisch.
Das war nicht meine Absicht. Sehen Sie doch, was ich bin: Ein schon recht alter Mann, der wie alle älteren Herren meint, die nächste Generation sei einfach nicht voll da. Dabei weiss der Historiker in mir genau, dass sich die Welt immer wieder weiterentwickelt und sich gelegentlich fast neu erfunden hat – und zwar mehrheitlich zum Guten.
Welches Buch muss jeder Schweizer, jede Schweizerin gelesen haben?
Diesen Rat kann ich nicht geben, ich bin kein Volkserzieher. Gotthelf war das schon eher, von ihm lese ich gerade «Geld und Geist». Das ist keine Heimatschnulze, sondern ein regelrechtes Psychodrama, was Geld und Reichtum mit Menschen machen können. Wir haben die Wahl zwischen «Liebywil» und «Dorngrüt». Wo Geld ohne Geist, d.h. gesellschaftliche respektive gar spirituelle Orientierung ist, sät es nur Streit und Unheil. Damit führt das Emmentaler Drama die gleiche Debatte, wie sie nach der Finanzkrise wieder hochgekommen ist: Der Kapitalismus braucht eine gesellschaftliche Dimension, sonst verliert er seine Legitimation und wird ihm die «license to operate» entzogen. Und eigentlich kommen wir damit auch zum Anfangsthema unseres Gesprächs zurück, der Regulierung: Wenn der freien Wirtschaft die geistig-gesellschaftliche Dimension fehlt, die den Entscheidungsträgern Richtung und Grenzen gibt, wird die Gesellschaft sich zur fortlaufenden Regulierung berechtigt fühlen.