Wo bleiben die Manieren?
Die öffentliche Debatte ist geprägt von einem eklatanten Mangel an Stil und gegenseitigem Respekt. Den Akteuren ist der Sinn für Ambivalenzen abhandengekommen.
Das Schauspiel, das sich seit einigen Jahren auf den Bühnen der westeuropäischen Gesellschaft abspielt, wird von ganz unterschiedlichen Akteuren geprägt. Zumindest auf den ersten Blick: Naturverbundene Aktivisten, die für alles andere als für ökologische Leitbilder kein Auge haben. Chauvinistische Demonstranten, die für alles andere als für nationalistische Schlagworte kein Gehör besitzen. Linksliberale Journalisten, die nur für sozialdemokratische Ideale Verständnis aufbringen. Rechtskonservative Publizisten, die ausschliesslich für traditionelle Werte Akzeptanz zeigen.
Zwar scheint es, dass diese – jeweils mit unterschiedlichen Werthaltungen auftretenden – Akteure wenig miteinander gemeinsam haben. Im Habitus allerdings zeigen sie überraschende Übereinstimmungen. Der ehemalige «Merkur»-Herausgeber Karl-Heinz Bohrer hat in bezug auf etliche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens während den 1990er Jahren wiederholt von «Provinzialismus» gesprochen, von einem Verhalten, das durch Engstirnigkeit charakterisiert sei.1 Bohrers Beobachtung ist einleuchtend – und zu ergänzen: Nicht nur zeugen diese Akteure von einem enormen Übermass an Provinzialität, sie zeugen auch von einem eklatanten Mangel an Stil.
Ein eklatanter Mangel an Stil? Bevor versucht wird, diese These plausibel zu machen, bedarf es einer Begriffserläuterung. In der ästhetischen Theorie wie in der philosophischen Tradition gilt «Stil» üblicherweise als Hinwendung des Individuellen zum Allgemeinen: Stil hat es, wenn sich etwas respektive wenn sich jemand weniger an sich selbst als vielmehr an der Umwelt orientiert – was gleichermassen bei einem Kunstwerk, bei einem Kleidungsstück oder beim Menschen selbst der Fall sein kann.
Ein Gemälde hat den Stil der italienischen Renaissance, wenn darin nicht nur die Eigenart des Künstlers, sondern auch die Eigenheiten der Epoche ausgedrückt werden. Ein Abendkleid hat den Stil des viktorianischen Englands, wenn daran nicht nur der Charakter der Trägerin, sondern auch die Merkmale der Ära erkennbar werden. Und ein Mensch hat Stil im Umgang mit seinen Mitmenschen, wenn er nicht nur für sich, sondern auch für die anderen da ist – und im Alltagsleben dem Gegenüber den Vortritt, dem Nächsten den Vorrang, dem Umfeld die Freiheit lässt.
Von diesem klassischen Begriffsverständnis her kommt’s, dass man bei einem freundlichen Herrn, der bei der Begrüssung einen kleinen Knicks macht sowie seinen Hut zieht, denkt: Der Mann hat Stil. Von daher kommt’s, dass man bei einer selbstkritischen Dame, die in einer Diskussionsrunde eine respektvolle Art besitzt und ihre Gesprächspartner ernst nimmt, denkt: Die Frau hat Stil. Von daher kommt’s, dass man bei jenen, die Manieren zeigen, denkt: Da haben Leute Stil. Sie alle, Herr, Dame und Wohlerzogene, orientieren ihr Verhalten am Gegenüber, am Mitmenschen, an den anderen und sind deshalb – stilvoll.
Narzisstische Selbstinszenierung
Zu diesem Stil – also zum Stil des Verhaltens, nicht zum Stil der Kunstwerke, der Kleidungsstücke u.a. – lässt sich nun einiges sagen. Das stilvolle Vortrittlassen, das stilvolle Vorranggeben, das stilvolle Benehmen, der – eben: Stil im Verhalten, fehlt nämlich einem Grossteil jener Akteure, die in Westeuropa seit einiger Zeit die öffentliche Szene beherrschen. Insofern ist es für die westeuropäische Gesellschaft der Gegenwart kennzeichnend, dass es ihr an Manieren fehlt.
Als Prüfsteine dieser These mögen typische Veranstaltungen aus dem linken beziehungsweise aus dem rechten Milieu dienen: Wiewohl nicht immer, aber doch sehr oft trifft man dort auf Verhaltensweisen, bei denen die je eigene Position dermassen auf- und die je fremde Position derart abgewertet wird, dass man dieses Verhalten, fände es in einem privaten Umfeld statt, schlicht als stillos bezeichnen würde. Sehr häufig stösst man in diesen Kontexten nicht mal auf den blossen Versuch, weitere Standpunkte als den je eigenen gelten zu lassen.
Das selbstgefällige Statement einer Aktivistin («How dare you!») ist genauso typisch für stilloses Verhalten wie der egozentrische Ausruf einiger Demonstranten («Der Islam gehört nicht zu Europa!»). Die narzisstische Selbstinszenierung einiger Journalisten als Retter der Demokratie ist ebenso exemplarisch dafür wie die egomanische Selbstbemitleidung anderer als Opfer der politischen Korrektheit. Es ist die Glorifizierung der eigenen Auffassung, die stillos ist, denn immer – das ist entscheidend – stellt man sich dabei in den Mittelpunkt. Es kommt somit nicht zur Hinwendung des Individuellen gegenüber dem Allgemeinen, nicht zur Überschreitung der eigenen Weltsicht, nicht zur Einnahme einer fremden Sichtweise.
Die wohl entscheidende Ursache für den Mangel an Stil liegt beim Fehlen eines Sinns für Ambivalenzen. Die Figuren auf Veranstaltungen innerhalb einer Blase sind sich häufig nicht bewusst, dass bei jeder weltanschaulichen Debatte im Mindesten zwei, meist noch viel mehr Positionierungen möglich sind: Kein Gedanke daran, dass sie mit ihrer Position nur eine und nicht alle denkbaren Positionen einnehmen. Kein Gedanke daran, dass neben ihrer Position noch andere Positionen legitim sind. Kein Gedanke daran, dass auch der andere im Recht sein könnte.
Stillosigkeit äussert sich dann insbesondere auf zwei Arten. Bei jenen, die zugleich sich selbst wie ihre Anschauungen sehr wichtig nehmen, ist dies leicht zu erkennen. Einerseits wird der je eigene Standpunkt verabsolutiert – und ihm eine erlösende Kraft zugesprochen; andererseits wird der je andere Standpunkt missbilligt – und ihm ein zerstörerisches Moment attestiert. Weder Selbstdistanz noch Selbstkritik, geschweige denn ein ironischer Umgang mit dem eigenen Standpunkt sind da zu finden. Im Gegenteil, das negative Moment richtet sich grundsätzlich auf den Standpunkt von anderen.
Die 1950er Jahre als Vorbild
Der Mangel an Stil ist zugleich ein Mangel an Rücksichtnahme: Das ästhetische Defizit erweist sich damit als moralisches Defizit. Daran zu erinnern scheint unzeitgemäss zu sein in einer Zeit, die nicht nur von reaktionären Beobachtern als «hypermoralisch» bezeichnet wird – und in der man bei aller Moralfixierung kaum noch Sinn für den Umstand besitzt, dass Moral auch etwas mit Ästhetik zu tun hat.
Politische Kultur ist genau dann vorhanden, wenn die Personen des öffentlichen Lebens darum bemüht sind, neben eigenen Interessen immer auch fremde Interessen zu berücksichtigen. Politische Kultur ist jene Kultur, die Stil hat. Zur Etikette dieser Kultur gehört selbstredend, dass man permanent versucht, ein Sensorium für die jeweils gegenüberliegende Seite zu haben. Es schickt sich in jener Kultur folglich nicht, Andersdenkende unbedacht als unmoralisch zu disqualifizieren.
In dieser Hinsicht als Vorbild dienen kann nicht zuletzt die europäische Nachkriegszeit. Gerade weil man sich etwa in den vermeintlich bornierten 1950er Jahren noch sehr bewusst gewesen ist, dass die Ausgrenzung von Personen ebenso wie die Ausgrenzung von Ansichten schwere Folgen nach sich ziehen kann, hat man sich einem Prozess der Zivilisierung unterzogen. Es war damals möglich, dass ein linksgesinnter Philosoph, ein rechtsgesinnter Soziologe und ein apolitischer Moderator zusammensitzen – man denke an das legendäre Fernsehgespräch zwischen Theodor W. Adorno, Arnold Gehlen und Günter Gaus2 – und in aller Ruhe sowie mit gegenseitigem Verständnis über die Konsequenzen des Kapitalismus, über die Folgen der Bürokratisierung, über technische Umwälzungen und über allerlei Themen mehr sprechen konnten. In Sachen Stil wie in Sachen politischer Kultur sind selbst etliche der damaligen Eliten aus dem extremen Politspektrum einem Grossteil der gegenwärtigen, angeblich aufgeklärten Eliten voraus.
Wäre es also nicht angebracht, auf andere Zeiten, auf andere Räume, ja auf andere Verhaltensweisen zu blicken – um zu erfahren, wie man es auch machen könnte? Bei diesem Blick würde man schnell feststellen: Man kann auch, wenn man nicht gleicher Meinung ist, freundlich und höflich miteinander umgehen.
Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Provinzialismus. Ein physiognomisches Panorama. München: Hanser, 2000. Bohrer hat nicht zuletzt jene Figuren des Politikbetriebes im Sinn gehabt, welche unfähig sind, eine andere als die jeweils eigene Perspektive einzunehmen. Die Polemik des Kritikers richtete sich gegen «progressive» wie gegen «konservative» Figuren. ↩
Vgl. Adorno/Gehlen: Freiheit und Institution, http://www.youtube.com/watch?v=mWklSE08aCw ↩