Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Wissenschaftshörigkeit führt in den Totalitarismus
Michael Esfeld, zvg.

Wissenschaftshörigkeit führt in den Totalitarismus

In der Coronakrise haben von Experten ersonnene Vorschriften das Zusammenleben der Menschen beherrscht. Doch wer aus Wissenschaft ein politisches Programm machen will, hat von Wissenschaft nichts verstanden.

Platon zufolge sollen die Philosophen im Staate herrschen. Sie sind die Experten, die über die Erkenntnis des Guten verfügen. Deshalb sind sie dazu legitimiert, die Lebensbahnen der Menschen zu lenken. Das ist Szientismus: die Auffassung, dass mit wissenschaftlichen Methoden erworbenes Wissen unbegrenzt ist und dementsprechend nicht nur Tatsachen erkennt, sondern auch normativ ist; es umfasst die Erkenntnis des Guten für alle und jeden. Politisch ist der Szientismus, wenn aus diesem Erkenntnisanspruch ein Herrschaftsanspruch wird: «Follow the science» (folge der Wissenschaft) als politisches Programm.

Platon hat in den vergangenen Jahren zahlreiche neue Freunde gewonnen und die offene Gesellschaft mit sich selbst bestimmenden Menschen dementsprechend viele neue Feinde erhalten. Wie das geschehen kann, hat bereits Karl Popper im Angesicht von Kommunismus und Nationalsozialismus, die sich beide für wissenschaftliche Lehren hielten, in seinem Werk «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» in den 1940er-Jahren dargelegt. Der politische Szientismus baut auf dem Versagen von Urteilskraft auf und treibt dieses an: Die Menschen können gemäss dieser Auffassung gar nicht selbst über die Gestaltung ihres Lebens urteilen. Die Herausforderungen, heute bestehend in Dingen wie Virenwellen und Klimawandel, sind so gewaltig, dass die Menschen sich untereinander gefährden würden, wenn man sie selbst beurteilen liesse, wie sie ihr Verhalten an diese Herausforderungen anpassen wollen. Deshalb sind die Experten, die von den Bürgern durch Zwangsabgaben in Form von Steuern finanziert werden, berechtigt und verpflichtet, eine Task-Force zu bilden und die Politiker zu beraten, wie sie das Leben der Menschen regulieren sollen. Diese folgen bereitwillig der Wissenschaft mit einem Coronaregime, das das Leben der Menschen bis in den engsten Familienbereich hinein regelt. Eine solche Feinsteuerung des menschlichen Verhaltens zeichnet sich auch in anderen Bereichen ab. In Zukunft könnte dies ein Klimaregime sein, das vorschreibt, bis zu wie viel Grad man seine Wohnung heizen und wie heiss man seine Wäsche waschen darf. Angeblich bewältigt die Politik auf diese Weise Risiken, welche die einzelnen Menschen durch Einsatz ihrer Urteilskraft nicht bewältigen könnten. Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall: Wie inzwischen durch zahlreiche wissenschaftliche Studien nachgewiesen ist, haben die politischen Coronamassnahmen zur Risikoverminderung nicht funktioniert1, sondern nur Schäden angerichtet, und zwar speziell Schäden für die allgemeine Gesundheit.2 Das Klimaregime droht uns von der Versorgung mit sicherer, ständig verfügbarer und preisgünstiger Energie abzuschneiden. Diese Versorgung ist jedoch die Voraussetzung für technischen Fortschritt, der erwiesenermassen zu einem schonenderen Umgang mit der Natur und den natürlichen Ressourcen führt.

«Folge der Wissenschaft» statt «Versuch und Irrtum»

«Folge der Wissenschaft» als Handlungsmaxime schaltet nicht nur die Urteilskraft der Menschen aus, auf die eine Demokratie und eine offene Gesellschaft angewiesen ist. Wenn aus Wissenschaft ein politisches Programm wird, dann unterminiert man auch die eigene Urteilskraft in Wissenschaft und Politik: Wenn Wissenschaft Botschaften verkündet, denen die Menschen als politisches Programm zur Gestaltung ihres Lebens folgen sollen, dann muss sie diese Botschaften auf etwas stützen, das als unhinterfragbare Erkenntnis ausgegeben wird. Dass das nicht wissenschaftlich sein kann, zeigt ein Zitat des US-amerikanischen Physikers und Nobelpreisträgers Richard P. Feynman. «Das wissenschaftliche Wissen ist ein Körper von Aussagen mit verschiedenen Gewissheitsgraden – einige sind sehr unsicher, andere fast sicher, aber keine absolut sicher. Wir Wissenschafter finden das ganz normal und gehen davon aus, dass es vollkommen konsistent ist, unsicher zu sein.»3 Man muss also die wissenschaftliche Methode der kontrollierten Skepsis, des Einsatzes von Urteilskraft im Hinterfragen und Nachprüfen von Erkenntnisansprüchen, aufgeben, um aus Wissenschaft ein politisches Programm zu machen. Die Coronaimpfkampagne mit ihren voreiligen Versprechungen zu Wirksamkeit und Sicherheit unzureichend geprüfter Impfstoffe bietet hierzu reichliches Anschauungsmaterial.

Genauso in der Politik: Eine Politik, die «der Wissenschaft folgt», statt jeweils auf der Grundlage der Tatsachen einschliesslich der wissenschaftlichen Fakten verschiedene Handlungsmöglichkeiten abzuwägen, ist keine pragmatische, auf die jeweilige Situation vor Ort bezogene Politik kleiner Schritte des Versuchs und Irrtums, die man jederzeit und ohne Gesichtsverlust korrigieren kann. Um «der Wissenschaft» zu folgen, muss man die Urteilskraft in der Politik aufgeben, die stets im Blick behält, dass Politik immer mit Zwang gegen die Menschen operiert, die bei der jeweiligen politischen Entscheidungsfindung in der Minderheit waren.

Genauso wie beim letzten Mal, als Politik angeblich wissenschaftlichen Lehren über Klassen und Rassen im Kommunismus und im Nationalsozialismus folgte, begeben wir uns heute wieder auf einen Weg, der im Totalitarismus endet, nämlich in einem Regime totaler sozialer Kontrolle mit Ausgrenzung derjenigen, die ihre eigene Urteilskraft einsetzen, statt sich diesem Regime zu fügen. Man erinnere sich: Vor hundert Jahren war die Eugenik mit der Lehre von höher- und minderwertigen Genen und dem politischen Programm, die Menschen mit minderwertigen Genen aus Solidarität mit dem Fortbestand der zivilisierten Menschheit zu sterilisieren, wissenschaftlicher Konsens – und zwar tatsächlich bestehender Konsens4, im Unterschied zum heutigen, lediglich medial inszenierten Konsens. Die letzte Konsequenz, die Vernichtung der Menschen mit angeblich minderwertigen Genen, hat dann natürlich niemand gewollt.

Platons Philosophen durchlaufen einen langen Weg der Ausbildung, um das Wissen um das Gute zusammen mit der moralischen Qualifikation, über andere Menschen zu herrschen, zu erlangen. In den Ideen, in deren Erkenntnis nach Platon das Wissen besteht, sind Tatsachen und Normen bzw. Werte vereint. Nicht so in der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Für diese ist Des­cartes’ programmatische Aussage charakteristisch, uns zu Herren und Besitzern der Natur zu machen. Damit meint Des­cartes, Erkenntnis über die Bewegungsgesetze der Materie zu gewinnen und diese Erkenntnis zur Verbesserung der Lebensumstände einzusetzen – zunächst in der Medizin zur Bekämpfung tödlicher Krankheiten und dann durch technologischen Fortschritt, der auch zu wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt führt.

Um solche Erkenntnisse zu gewinnen, muss Wissenschaft objektiv sein: Sie muss von allen subjektiven Bewertungen absehen, um an die Tatsachen heranzukommen, wie sie unabhängig von unserer Einflussnahme in der Natur bestehen. Deshalb ist die wissenschaftliche Methode die bereits erwähnte kontrollierte Skepsis: Weil Wissenschafter immer auch von ihrem sozialen Umfeld beeinflusst sind, muss man jeden Erkenntnisanspruch kritisch hinterfragen und darf als Wissenschafter nie unumstössliche Wahrheiten in der Öffentlichkeit verkünden. Wer auf der Basis der neuzeitlichen Naturwissenschaft aus Wissenschaft ein politisches Programm macht – «follow the science» –, hat daher von Wissenschaft nichts verstanden, welche Titel, Positionen, Preise usw. sie oder er auch immer haben mag. Sowohl die moderne Wissenschaft als auch der moderne Staat sind aus den leidvollen Erfahrungen der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts hervorgegangen, infolge derer religiöse Einflussnahme aus den Bereichen des wissenschaftlichen Wissens und der politischen Entscheidungsfindung verbannt wurde. Es ist eine Perversion der Wissenschaft, ihr die politische Rolle aufzuzwingen, welche die Staatsreligion einst spielte.

Der Weg zurück zur offenen Gesellschaft

Dementsprechend ist die offene, demokratische Gesellschaft durch dreierlei gekennzeichnet:

Epistemische Bescheidenheit: Es gibt keine Erkenntnis eines allgemeinen Guten, das diejenigen, die eine solche Erkenntnis für sich in Anspruch nehmen, dazu legitimieren würde, über andere zu herrschen und ihnen Vorschriften zur Gestaltung ihres Lebens zu machen.

Freiheitsrechte: Wir Menschen haben uns in der Evolution davon befreit, lediglich auf Sinneseindrücke und Begierden zu reagieren. Wir können Stellung beziehen zu unseren Eindrücken und sind daher frei im Denken und Handeln, damit aber auch verantwortlich für unser Denken und Handeln. Aus diesem normativen Charakter der Freiheit folgen Freiheitsrechte als Menschenrechte. Diese sind Naturrecht, weil sie aus der Natur des Menschen folgen. Sie gelten unbedingt und stehen über dem gesetzten, positiven Recht der Staaten. Sie sind Abwehrrechte gegen unerwünschte äussere Eingriffe in die eigene Lebensgestaltung. Aufgabe des Staates ist es, diese Rechte zu schützen.

Konsequenzen: Der Respekt der Freiheitsrechte von jedem ist der erfolgreichste Weg, neue Herausforderungen zu bewältigen und technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt zu erzielen, der allen Bevölkerungskreisen zugutekommt. Es ist empirisch erwiesen, dass dort, wo sich die Staatsgewalt auf das Rechtswesen und die innere und äussere Sicherheit beschränkt, statt den Menschen politische Vorgaben für ihr soziales, wirtschaftliches und privates Leben zu machen, auch für Gesundheits- und Umweltschutz am besten gesorgt ist. Die Urteilskraft der Menschen schlägt auch in dieser Hinsicht immer den politischen Szientismus.

«Der Respekt der Freiheitsrechte ist der erfolgreichste Weg, neue

Heraus­forderungen zu bewältigen und technologischen und

wirtschaft­lichen Fortschritt zu erzielen.»

Wie können wir wieder zu einer solchen offenen Gesellschaft gelangen? Dreierlei ist erforderlich:

Urteilskraft einsetzen, statt sich durch die Indoktrination seitens unserer Vormünder aus Wissenschaft, Politik und Medien die eigene Urteilsbildung darüber, was konkret vor Ort eine verhältnismässige Reaktion auf neue Herausforderungen ist, nehmen zu lassen.

Skepsis gegenüber Machtkonzentration zur Geltung bringen und von unten soziale Gemeinschaften aufbauen: Es ist eine Illusion zu glauben, dass es eine mit Machtfülle ausgestaltete Staatsgewalt geben könnte, die ein Allgemeingut umsetzen könnte. Gutes tun können nur die Menschen selbst in jeweils konkreten Situationen.

Zivilcourage zeigen: Gemäss Immanuel Kant ist der freie öffentliche Gebrauch der Vernunft der wesentliche Schritt zur Aufklärung. Die Narrative, aus denen sich das Regime des politischen Szientismus heute speist, insbesondere die Darstellung von Coronavirenwellen und Klimawandel als lebensbedrohliche, die Menschheit in ihrer Existenz gefährdende Herausforderungen, brechen sofort zusammen, wenn man den Mut hat nachzufragen, Urteilskraft einzusetzen und sich mit Zivilcourage den Einschüchterungsversuchen entgegenzustellen.

  1. Siehe etwa Jonas Herby, Lars Jonung und Steve H. Hanke: A Literature Review and Meta-Analysis of the Effectiveness of Lockdowns on ­Covid-19 Mortality. In: Studies in Applied Economics, 200 (2022);  http://www.nber.org/papers/w29928; Vincent Chin et al.: Effect Estimates of Covid-19 Non-Pharmaceutical Interventions Are Non-Robust and Highly Model-Dependent. In: Journal of Clinical Epidemiology 136 (2021),S. 96–132; Eran Bendavid et al.: Assessing Mandatory Stay-at-Home and ­Business Closure Effects on the Spread of Covid-19. In: European Journal of Clinical Investigation 51, e 13484, 2021

  2. Siehe z.B. http://www.novo-argumente.com/artikel/auf_der_suche_nach_den_verlorenen_jahren.

  3. Richard P. Feynman: The Value of Science. In: Engineering and Science 19 (1955), S. 13–15, eigene Übersetzung.

  4. Siehe Michael Esfeld und Boris Kotchoubey: Wie die Wissenschaft sich selbst zerstört. In: R. Hauswald und P. Schmechtig (Hrsg.): Wissens­produktion und Wissenstransfer unter erschwerten Bedingungen. ­Freiburg (Brsg.): Alber, 2022, S. 55–79.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!