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Wissenschaft im intellektuellen Lockdown
Sandra Kostner, zvg.

Wissenschaft im intellektuellen Lockdown

Wer heute in der Wissenschaft tätig ist, kommt von verschiedenen Seiten unter Druck. Akademische ­Abhängigkeitsverhältnisse verunmöglichen genuine Forschung und fördern Agendawissenschafter.

 

Warum wird jemand Wissenschafter? Idealtypisch lautet die Antwort: weil er Phänomene verstehen und erklären möchte. Dieses Streben nach Erkenntnis setzt die Bereitschaft ­voraus, die eigene intellektuelle Komfortzone zu verlassen und offen für abweichende Hypothesen, Argumente und Forschungs­ergebnisse zu sein. Ein guter Wissenschafter akzeptiert, dass es tragfähigere Argumente und validere Ergebnisse gibt als die ­eigenen. Er lässt sich auf der Sachebene auf wissenschaftliche Dispute ein und bringt die notwendige charakterliche Reife mit, keine ­Ad-hominem-Argumente zu verwenden. Zudem erliegt er nicht der Versuchung – sei es aus Eitelkeit, Opportunismus oder weltanschaulichen Gründen –, sein Forschungsdesign so anzu­legen, dass nur die gewünschten Ergebnisse herauskommen können.

Da es wie überall auch in der Wissenschaft «menschelt», finden sich in der Realität zahlreiche Abweichungen von diesem ­Idealbild. So haben gerade Eitelkeit, Opportunismus und Ideo­logie Wissenschafter zu allen Zeiten dazu verleitet, sich selbst ­einen intellektuellen Lockdown zu verordnen. Was Eitelkeit ­betrifft, liegen die Gründe vor allem in der Persönlichkeit: Das ­eigene Ego erträgt keine Kritik und neigt zur verbohrten Recht­haberei.

Intellektuelle Selbstbegrenzung

Opportunismus wird stark durch externe Faktoren begünstigt. Insbesondere Abhängigkeiten beeinflussen opportunis­tisches Verhalten. Vor allem befristete Arbeitsverhältnisse, wovon es ­gerade in der Wissenschaft weit überdurchschnittlich viele gibt, befördern intellektuellen Konformismus. So befinden sich über 80 Prozent aller an deutschen Hochschulen beschäftigten Wissenschafter in einem befristeten Arbeitsverhältnis. Nicht selten liegt eine doppelte Abhängigkeit vor. Das ist dann der Fall, wenn Doktoranden und Habilitanden von ihrem Betreuer nicht nur hinsichtlich ihres wissenschaftlichen Vorankommens abhängig sind, sondern auch in bezug auf eine mögliche Weiterbeschäftigung in dessen Drittmittelprojekten.

Aber auch der seit den neoliberal inspirierten Hochschul­reformen der frühen 2000er Jahre stark gestiegene Druck, möglichst viele Drittmittel von möglichst prestigeträchtigen Geld­gebern einzuwerben, trägt dazu bei, dass Wissenschafter ihre ­Forschungsvorhaben an die Interessen jener Geldgeber anpassen. Eine offene Lenkung von Erkenntnisinteressen in die vom Geldgeber favorisierten Bahnen erfolgt durch die Ausschreibung von Mitteln für spezifische Themenstellungen. Sie erfolgt aber auch auf einem zweiten verdeckten Weg: den Gutachtergremien. Diese dienen eigentlich der Qualitätssicherung. Sie statten jedoch auch die in diese Gremien berufenen Fachkollegen mit erheblicher Macht darüber aus, welche Forschungsvorhaben eine Chance auf Realisierung bekommen. Es erfordert charakterliche Stärke und intellektuelle Offenheit, Anträge zu bewilligen, die erkennbar nicht mit den eigenen Forschungsansätzen konform gehen und deren Ergebnisse voraussichtlich sogar die Ergebnisse der eigenen Forschung infrage stellen werden.

Wer heutzutage eine Professur anstrebt, ist in besonderem Masse auf die erfolgreiche Einwerbung von Drittmitteln angewiesen. Fragestellungen, die von den Interessen der Geldgeber abweichen beziehungsweise die aus Gründen der Eitelkeit oder Welt­anschauung das Missfallen der Gutachter erregen, sind daher vor allem eines: karrierehinderlich. Die intellektuelle Selbstbegrenzung wird ferner durch das Publish-or-perish-System begünstigt, das parallel zur drittmittelfixierten Universität seinen Aufstieg nahm.

«Vor allem befristete Arbeitsverhältnisse

befördern intellektuellen Konformismus.»

Publish or perish – also publizieren oder untergehen – ist letztlich eine Reaktion des Wissenschaftssystems auf eine Überproduktion von Wissenschaftern, die zur Folge hat, dass deutlich mehr Wissenschafter auf den universitären Arbeitsmarkt drängen, als dieser aufnehmen kann. In diesem Kontext wurde die Anzahl von Publikationen im allgemeinen und in renommierten Fachzeitschriften im besonderen zu einem zentralen Kriterium für die Besetzung von Professuren. Insbesondere renommierte Fachzeitschriften zeichnen sich durch ein Peer-review-Verfahren aus, das ebenfalls der Qualitätssicherung dienen soll, aber mit den gleichen negativen Nebenwirkungen für wissenschaftliche Un­abhängigkeit und Eigenständigkeit belastet ist wie die Gutachtergremien bei der Drittmittelvergabe. Wer nun viele mit dem Qualitätssiegel «peer-reviewed» versehene Publikationen braucht, um eine feste Stelle im Wissenschaftsbetrieb zu ergattern, achtet darauf, dass er die Gutachter intellektuell nicht zu sehr herausfordert beziehungsweise dass er diese gewogen stimmt, indem er beflissen Literatur zitiert, die von den für die jeweilige Zeitschrift tätigen Gutachtern verfasst wurde.

In einem so stark von Abhängigkeiten geprägten System ist innovative Forschung allzu oft nicht das, was sie sein sollte: der Schlüssel zum Erfolg. Ganz im Gegenteil: Wer im Gleichschritt mit den wissenschaftlichen Türstehern marschiert, erhöht seine ­Karrierechancen. Dieses intellektuelle Lockstep-Verhalten ist im bestehenden System durchaus vernünftig. Es leistet aber einem intellektuellen Lockdown Vorschub, der die Innovationsfähigkeit der Wissenschaft nachhaltig lähmt.

Überdies gibt es Wissenschafter, die ein intellektuelles Lockstep-Szenario nachgerade anstreben. Da es sich hierbei um Akademiker handelt, die Forschung und Lehre als Mittel zur Transformation der Gesellschaft gemäss ihrer weltanschaulichen Agenda betrachten, bietet sich die Bezeichnung Agendawissenschafter an. Diesen Typus findet man besonders häufig in den ideologieanfälligen Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie in jüngerer Zeit in der hochgradig politisierten Klima­wissenschaft.

Aufstieg der Agendawissenschafter

Agendawissenschafter zeichnen sich dadurch aus, dass sie erstens ihr Weltbild zum Ausgangspunkt ihrer Forschung machen, dass sie zweitens Wissenschaft mit politischem Aktivismus verbinden, sich drittens an einem engen Korsett einschlägiger Theorien und Narrative orientieren, sich viertens mit Gleich­gesinnten in eine Selbstbestätigungsblase zurückziehen und fünftens auf abweichende Forschungsergebnisse reagieren, indem sie die entsprechenden Wissenschafter mit moralischen Diskreditierungen überziehen.

Besonders beliebt ist dabei die Unterstellung, die aus ideologischen Gründen missliebige Forschung sei anschlussfähig an die ­falsche politische Richtung. Falsch ist hier fast immer gleichbedeutend mit rechts, wobei im Grunde alles als rechts bezeichnet wird, was nicht im Einklang mit der eigenen Agenda steht. Die Unterstellung der Anschlussfähigkeit an rechts wird durch zwei weitere ­Signalwörter flankiert, mit denen angezeigt wird, welche Wissenschafter moralisch zu diskreditieren und folglich bei der Vergabe von Drittmitteln und Stellen aussen vor zu lassen sind. Es handelt sich um die Wörter «umstritten» und «problematisch». Wer beispielsweise in der von Agendawissenschaftern dominierten Rassismusforschung empirische Belege dafür einbringt, dass es andere Gründe als Rassismus dafür gibt, dass Menschen mit Migrationshintergrund nicht ihrem statistischen Anteil entsprechend in Parlamenten repräsentiert sind, erhält das Etikett «umstritten», weil seine Forschung «problematisch» sei. Und warum ist sie «problematisch»? Weil jede Infragestellung der Agenda automatisch als Punktgewinn für den politischen Gegner interpretiert wird.

Ähnlich verhält es sich beim Thema Klimawandel. Als «umstritten» werden Wissenschafter tituliert, deren Forschung nicht zum einzig legitimen Ergebnis kommt: Am Klimawandel ist der kapitalistisch wirtschaftende Mensch schuld. Ergo ist jeder, ­dessen Forschung daran Zweifel sät, eine Gefahr für den Fortbestand der Menschheit. Denn jeder Zweifel könnte den aufgebauten politischen Handlungsdruck abschwächen und den politischen Kräften zugutekommen, die mit den zur Rettung der Welt vorgeschlagenen Massnahmen nicht einverstanden sind. Wer von seiner Agenda das Überleben der Menschheit abhängig macht, der greift zur maximal möglichen Moralisierung, womit er ­zugleich anderen Wissenschaftern die höchste intellektuelle Lockdown-Stufe aufzunötigen versucht.

Wie erfolgreich Agendawissenschafter in ihren jeweiligen Fachdisziplinen einen Normierungsdruck erzeugen können, hängt stark vom Preis ab, den sie Kollegen aufzuerlegen in der Lage sind. Die Strukturen des Wissenschaftssystems – viele befristete Verträge, Drittmittelfixierung, Publish-or-perish-Druck – sind so beschaffen, dass sie Preiserhöhungen begünstigen. Je mehr ein Fachbereich von Agendawissenschaftern dominiert wird, desto höher lässt sich der Preis ansetzen. Damit wird es vor allem für Nachwuchswissenschafter schwierig, sich dem Normierungsdruck zu entziehen. Aber auch für Studierende werden die intellektuellen Entfaltungsspielräume enger, wenn die Erkenntnisrichtung in immer mehr Seminaren ideologisch vor­gespurt ist. Im ungünstigsten Fall durchlaufen Studierende dann ein Studium im ideologischen Vollwaschgang und verlassen die Hochschulen mit der Gewissheit, «die» Wahrheit zu kennen. ­Diejenigen, die in der Wissenschaft bleiben, tragen dazu bei, dass der ideologisch motivierte geistige Lockdown immer weitere Kreise zieht.

Wie kann dieser intellektuelle Lockdown, wo er bereits eingetreten ist, überwunden werden? Zunächst gilt es Abhängig­keiten zu reduzieren, weil diese nachgerade dazu einladen, Macht zur Normierung des Forschungsfeldes zu nutzen. Dort, wo Abhängigkeiten fortbestehen, muss man dafür Sorge tragen, dass ­Eitelkeit und Ideologie nicht zu Normierungsinstrumenten werden. Intellektuelle Heterogenität muss daher ein explizites Leitmotiv von Universitäten sein – nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis. Und: Ob Agendawissenschafter einen in ihrem Sinne wirkenden geistigen Lockdown durch­setzen können, hängt auch vom Verhalten aller anderen Wissenschafter ab. Hier heisst es also Rückgrat zeigen und für eine von ergebnisoffenem Streben nach Erkenntnis geprägte Wissenschaftskultur eintreten.

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Porträt des Kinderarztes Beat Richner in seiner Rolle als Musikclown Beatocello, aufgenommen mit seinem Cello anlässlich des Internationalen Jahres des Kindes 1979. Bild: Keystone / Susann Schimert-Ramme.
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