Wirtschaftsethik – erzwungen oder selbstreguliert?
Von der Gefahr, alles regeln zu wollen Wer alles regeln will, zahlt einen hohen Preis. Der Preis für eine rechtlich verordnete Ethik ist letztlich eine totalitäre Gesellschaft, die durch eine lückenlose Kontrolle und harte Sanktionenihr ganzes Zwangsgebäude zu schützen versucht.
Ein Blick in die Geschichte zeigt uns, dass die Empörung über Abzocker, versagende Wirtschaftskapitäne und ineffiziente Verwaltungsräte schon vor 2350 Jahren aktuell war. Kein geringerer als Plato hat gegen die skrupellosen Geldverleiher und die geldgierigen Reeder seiner Zeit gewettert. Später haben Thomas More, Tommaso Campanella, Francis Bacon, Jean-Jacques Rousseau, Karl Marx und viele andere, weniger bekannte Philosophen ein Gedankengut verbreitet, das die Realität unter dem Gesichtspunkt einer Utopie, das heisst einer besseren, aber noch nirgends verwirklichten Ordnung kritisiert.
Die Utopisten, meist Persönlichkeiten von hoher moralischer Autorität, sind in der Regel begabte Diagnostiker, die die Schwächen und Fehler ihrer Gesellschaft nicht nur scharf beobachten, sondern auch kritisieren. Sie sind aber gefährliche und schlechte Therapeuten. Sie konzipieren zunächst das Modell einer idealen Gesellschaft ohne Laster und Untugenden und zeigen dann Mittel und Wege auf, um ihr Ziel, das einer besseren Gesellschaft, zu erreichen. Wenn man heute «Utopia» von Thomas More oder «La città del sole» von Tommaso Campanella liest, erschrickt man über die detaillierten, strengen Regeln, die das Leben aller ordnen sollen, selbstverständlich im Interesse der Gemeinschaft. Geregelt wird, wer arbeitet und wer nicht, wann gearbeitet wird, und auch wo die Leute leben sollen. Man lebt in strenger Geschlechtertrennung, und auch die Kinder werden von ihren Eltern separiert. Geregelt ist auch, wann, mit wem und wo Kinder gezeugt werden können und wie diese Kinder zu erziehen sind. Ausländer sollen zwar höflich behandelt werden, aber sie müssen ausserhalb der Stadtmauern leben.
Zwang zerstört Freiwilligkeit
Seit je kann man auf der Welt zwei geistige Hauptströmungen unterscheiden: Die Utopisten auf der einen Seite und diejenigen, die von der Realität ausgehen und Spontaneität vorziehen, auf der anderen. Jene wollen die Menschen radikal verändern, diese nehmen die Menschen grundsätzlich so, wie sie sind. Kant beispielsweise bezeichnete es als Illusion zu glauben, man könne «aus dem krummen Holz, woraus der Mensch gemacht ist, etwas Gerades zimmern». Die Utopisten hingegen werden nicht müde, das Holz um jeden Preis und nach ihren Vorstellungen gerade biegen zu wollen. Das Resultat: ein Prokrustesbett, in dem die Kleinen gestreckt und die Grossen gekürzt werden, beides mit tödlichen Folgen. In der Weltgeschichte fehlt es nicht an Tyrannen, die dieses Verfahren immer wieder angewandt haben.
Die Ethik lebt von der Freiwilligkeit, sie besteht aus Pflichten, die aus freien Stücken ohne äusseren Zwang übernommen werden. Es ist immer wieder vorgeschlagen worden, man solle so viele ethische Verhaltensweisen wie möglich erzwingen und könne dadurch das ethische Niveau in einer Gesellschaft erhöhen. Dies führt aber zu einem Teufelskreis von Regulierungen, mit einem Kontrollbedarf, der totalitäre Strukturen hervorbringt. Eine totalitäre Ordnung ist alles andere als stabil und tendiert dazu, rigorose Kontrollen durch Korruption zu unterlaufen. Kein Kontrollsystem ist vor Korruption gefeit. Zudem zerstört der Zwang die an sich in jeder Gesellschaft durchaus vorhandene Bereitschaft, sich freiwillig altruistisch zu verhalten. Beim Widerstand gegen erzwungene Ethik verschwindet letztlich per saldo mehr ethisch positives Verhalten, als wenn man auf Freiwilligkeit abstellt.
Ausgenommen von der Freiwilligkeit sind natürlich eigentliche Verbrechen. Jede Gesellschaft schützt vernünftigerweise die höchsten Rechtsgüter durch ein Strafrecht, das das «ethische Minimum» an Verhaltensregeln festsetzt. Verstösse gegen das Recht und Verstösse gegen die Moral sind aber scharf auseinanderzuhalten. Das ist schon eine Kernaussage von Thomas von Aquin, der deshalb strikt zwischen Verbrechen (als Verstoss gegen das Recht) und Sünde (als Verstoss gegen die Moral) unterschieden hat.
Die etatistische Illusion
Wir sind Kinder des 20. Jahrhunderts. Dieses Jahrhundert hat zwar enorme technologische Fortschritte gebracht, aber es ist geprägt von Ideologien, von totalitären Diktaturen und von den Irrtümern des Kommunismus, des Faschismus und des Nationalismus. Diese haben der Menschheit zwei Weltkriege und den Kalten Krieg beschert. Im Krieg werden auch Demokratien gezwungen, ihre Wirtschaft und ihre Gesellschaft weitgehend zu verstaatlichen und ihre Bürger bis an die Grenze und zum Teil auch über die Grenze der kollektiven Enteignung hinaus zu besteuern.
In Kriegs- und Krisenzeiten werden alle Staaten notgedrungen mehr oder weniger autoritär und kollektivistisch, und die Fähigkeit der individuellen Selbstregulierung und Selbstvorsorge geht schrittweise unter. Was auch nach Kriegs- und Krisenzeiten nicht verschwindet, ist die reflexartige Vorstellung, der Staat könne durch Interventionen, Regulierungen, Besteuerung und Subventionen alle gesellschaftlichen Probleme lösen. Wenn diese Illusion von Mehrheiten geteilt wird, so sind auch Demokratien nicht vor dem Teufelskreis fortschreitender Verstaatlichung gefeit.
Diese Grundhaltung ist nicht nur falsch, sie ist anachronistisch. Wir leben heute in einer neuen Zivilisation, in der Information und Biotechnologie Schlüsselbereiche sind. Sie sind durch flexible Vernetzungen charakterisiert und brauchen keine bürokratischen Hierarchien, die ein Charakteristikum des Feudalismus und der Industrie- und Massengesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts gewesen sind.
Die Selbstregulierung ist keine neue Erfindung und auch kein schlauer Trick zur Vermeidung oder Verwässerung bestehender gesetzlicher Regulierungen. Sie ist vermutlich der beste und vielleicht sogar der einzig gangbare Weg in eine hoch arbeitsteilige und komplexe Gesellschaft der Zukunft, die auf Flexibilität und auf eine permanente Anpassungsfähigkeit der Strukturen in hohem Mass angewiesen ist. Mit rigiden, generell-abstrakten, allgemeinverbindlichen Zwangsregulierungen können die Probleme einer künftigen Gesellschaft nicht mehr befriedigend gelöst werden. Die Alternative dazu ist nicht das Chaos, sondern die Entwicklung von freiwilligen innerbetrieblichen Kontrollmechanismen zur Gewährleistung wirtschaftlicher und ethischer Standards.
Die Zivilgesellschaft hat diesbezüglich neue, anpassungsfähigere Lösungen hervorgebracht. Im Fall der Corporate Governance wachen die institutionellen Investoren sehr genau über das Einhalten von gewissen Regeln, und das Fehlen von Transparenz führt dazu, dass sie einfach nicht mehr investieren bzw. zur Konkurrenz abwandern. So wird der Wettbewerb zur wirksamen Aufsichtsinstanz. Einen grossen, manchmal bestimmenden Einfluss haben die Medien, insbesondere die Wirtschaftspresse, das Urteil der Analysten und die Rating-Agenturen. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang die ordentlichen Gerichte, die heute viel mehr vom Fach verstehen und immer häufiger in Anspruch genommen werden.
Die Zukunft gehört der Selbstregulierung
Zu viele Gesetze und allgemeinverbindliche Regulierungen können zu einer schleichenden Tyrannei des Staates führen. Unsere Kultur kann durch etatistisches Gedankengut auf der Basis von Hierarchien, Zentralität und genereller Einmischung der Politik nicht erhalten und weiterentwickelt werden. Entscheidende Regeln des Wirtschaftens und des Zusammenlebens können ihren Ursprung auch in der Zivilgesellschaft haben. Sie können von den Direktbetroffenen und -beteiligten (von unten nach oben) ohne Allgemeinverbindlichkeit aufgrund neuer Erkenntnisse und Einstellungen ständig neu erarbeitet, angepasst und kontrolliert werden.
Freiheit und Ethik sind auf Freiwilligkeit angewiesen. Das Recht hat als «ethisches Minimum» eine andere Funktion als die Ethik, die die Basis des Zusammenlebens in Frieden und Anstand bildet. Was unsere Gesellschaft heute braucht, sind nicht neue Gesetze, sondern eine Moral der Verantwortlichkeit, die im Dickicht der Zwangsvorschriften nicht gedeihen kann. Leider ist diese Moral der Verantwortlichkeit in einer Gesellschaft, in der auch in der Erziehung mehr von Rechten als von Pflichten die Rede ist, ein rares Gut.
Dr. Tito Tettamanti ist Unternehmer und präsidiert den Verein Zivilgesellschaft. Er ist unter anderem Autor von «Die sieben Sünden des Kapitals», Verlag BILANZ, Zürich 2003.