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Wirtschaften für die nächste Generation
Rahel Wunderli, zvg.

Wirtschaften für die nächste Generation

Seit Jahrhunderten nutzen in der Schweiz lokale Organisationen kollektive Ressourcen wie Wälder und Alpweiden. Deren Erhalt ist ein ständiger Balanceakt zwischen Natur, Gesellschaft und Ökonomie.

 

Wenn Sie das nächste Mal durch einen Wald spazieren oder über eine Alpweide wandern, halten Sie doch kurz inne und vergewissern sich, dass Sie sich in einer Umgebung befinden, die seit vielen Jahrhunderten von Menschen gemeinsam bewirtschaftet und gepflegt wird. Die Vielfalt an Bäumen und die Wege durch blumige Wiesen sind nicht in erster Linie das Resultat von Einzelleistungen, sondern zeugen vom Wirken lokaler Organisationen. Die sogenannten Commons – Ressourcen im Eigentum von Körperschaften wie Bürgergemeinden, Korporationen, Bourgeoisies, Pa­triziati – sind in der Schweiz weit verbreitet. Natürlich, es gibt auch Privatwälder und -alpen, doch die kollektive Verwaltung und Bewirtschaftung ist deutlich umfangreicher, sie macht fast zwei Drittel der Wald- und Alpflächen aus.

Sie begegnen den Commons auch andernorts: Städtische und dörfliche Körperschaften, im Fachjargon Common Pool Organizations genannt, haben Spitäler gebaut, unterhalten Altersheime, haben Kirchen und Kapellen (mit)finanziert. In jüngster Zeit betreiben sie Holzschnitzelheizungen mit Fernwärmenetzen und Wasserkraftwerke, kaufen oder bauen Immobilien, sind beteiligt an touristischen Infrastrukturen wie Seilbahnen und Skianlagen oder unterstützen lokale Kulturanlässe.

Bedingungen für den Bestand

Was das alles mit Nachhaltigkeit zu tun hat? Die Commons in der Schweiz sind alte Phänomene. Sie lassen sich in den meisten Fällen bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Wir finden in den Archiven Dokumente, in denen Dörfer oder ganze Talschaften im 14. Jahrhundert festgehalten haben, wer welches Vieh wie lange auf welche Weide treiben darf und wer zum Bezug von welchem Anteil Holz aus dem angrenzenden Wald berechtigt ist. Im Verlauf der Zeit wurden diese Regeln immer wieder von neuem aufgeschrieben und veränderten Umständen angepasst.

Man muss sich das in einer ruhigen Minute einmal vorstellen: Gruppen von Menschen schaffen es, Flächen über mehrere hundert Jahre so zu bewirtschaften, dass jede Generation davon Holz oder Gras ernten kann. Ist es nicht ein grossartiges Prinzip, sich die Reproduktionsfähigkeit natürlicher Ressourcen zunutze zu machen, gleichzeitig dafür zu sorgen, dass diese Fähigkeit erhalten bleibt, und dies alles im Bewusstsein dafür, dass eine solche Leistung nur als Gruppe vollbracht werden kann?

Auch die Ökonomin Elinor Ostrom hat sich für dieses Phänomen interessiert und es in einem Buch beschrieben, für das sie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Damit Common-Pool-Organisationen über lange Zeit bestehen bleiben, müssen sie unter anderen folgende Bedingungen erfüllen1:

  • Den Kreis der Nutzer/-innen festlegen
  • Die Nutzungsberechtigten mittels klarer Organisationsstrukturen und Abläufe so organisieren, dass sie fähig sind, gemeinsame Entscheidungen zu fällen
  • Bewirtschaftungsregeln aufstellen, insbesondere was Dauer, Menge und Art der Nutzung betrifft (siehe oben)
  • Die Regeln durchsetzen mittels Kontrolle vor Ort und Sanktionen bei Missachtung
  • Den Zustand der bewirtschafteten Ressourcen überwachen und bei Bedarf anpassen

So überblickbar diese Liste ist, so komplex ist ihre Umsetzung, und damit wären wir auch schon bei den Schwierigkeiten, die das Prinzip Nachhaltigkeit mit sich bringt.

Nachhaltigkeit hat mehrere Dimensionen

Die oben beschriebene ökologische Dimension der Nachhaltigkeit – dafür sorgen, dass eine Ressource über lange Zeit Ertrag abwirft – ist kompliziert genug. Man muss die Natur genau beobachten, um ihre Logiken zu verstehen. Welche Bewirtschaftungsformen behindern beispielsweise die Fähigkeit eines Waldes, sich selbst zu verjüngen? Wie viele Weidetiere verträgt eine Alp, damit die Grasnarbe nicht geschädigt und die Pflanzen im folgenden Sommer wieder kräftig wachsen können? Neben dem Generieren von Wissen heisst nachhaltiges Bewirtschaften immer auch, die Dynamiken natürlicher Abläufe zu handhaben. Lawinen, Steinschlag, Überschwemmungen erfordern einerseits Vorsorgen, also Schutzvorrichtungen, andererseits wiederkehrendes Reparieren von Schäden. In den Regulierungen von Common-Pool-Organisationen ist deshalb das sogenannte Gemeinwerk ein fester Bestandteil: Die Nutzerinnen und Nutzer sind verpflichtet, bei den Reparationsarbeiten und beim Instandstellen von Infrastrukturen (z.B. Schutzvorrichtungen oder Weganlagen) mitzuhelfen.

Mit dem Aufstellen und Durchsetzen von Nutzungsregeln, die der gemeinsam bewirtschafteten Ressource gerecht werden, ist es allerdings noch nicht getan. Die sozialen Dynamiken müssen ebenso berücksichtigt werden wie die ökologischen. Denn die Mitglieder einer Körperschaft sind nie eine homogene Masse. Sie sind unterschiedlich reich – das Privateigentum ist in den meisten Fällen ausgedehnter als das Gemeineigentum – und haben unterschiedliche (wirtschaftliche) Interessen. Ausserdem sind Bevölkerungen wie natürliche Prozesse nicht fix, sondern dynamisch.
Damit eine Körperschaft ihre Legitimität erhalten und überleben kann, muss sie soziale Nachhaltigkeit also ernst nehmen und regelmässig für internen Ausgleich sorgen.

Übernutzung und Ausschluss

Wir kennen aus der Geschichte und Gegenwart viele Beispiele, in denen kollektive Ressourcen weder ökologisch noch sozial nachhaltig genutzt wurden; wobei – so ein erster Eindruck, der allerdings noch verifiziert werden muss – die Folgen von Raubbau an der Natur oft früher wahrgenommen und die Nutzungsregeln
rascher angepasst wurden, als es beim gesellschaftlichen «Raubbau» – man kann ihn «soziale Asymmetrie» nennen – der Fall war.

Eine gewisse Toleranz für soziale Härte kommt vielleicht von der Sache selbst: Sobald man den Kreis der Nutzungsberechtigten festlegt – ein wesentliches Merkmal der Common-Pool-Organisationen –, produziert man Ausschluss. Jahrhundertelang durften jene, die nicht Bürger der lokalen Körperschaften waren, die kollektiven Ressourcen nicht oder nur eingeschränkt nutzen. Aus heutiger Perspektive eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, wenn man bedenkt, dass Holz und Weidefläche in den damaligen Gesellschaften zentrale Produktionsmittel waren. Die Etablierung von Nationalstaaten, die sich dem Grundsatz verpflichteten, ihren Bürgern gleiche politische Rechte zuzusichern, trug angesichts der Forderungen rund um die Französische Revolution entscheidend zur Entschärfung von Konflikten und indirekt zum Überleben der Commons bei.

Frauen in der zweiten Reihe

Eine weitere Ungleichbehandlung, die diese Organisationen nun einholt, ist jene der Frauen. In den meisten Fällen war der Ausschluss der weiblichen Linie beim Vererben der Körperschaftsrechte eine wichtige Strategie, um den Kreis der Nutzungsberechtigten klein zu halten. Nur Väter konnten das Bürgerrecht vererben. Heiratete eine Frau einen Nichtbürger, verlor sie ausserdem ihre Rechte am kollektiven Eigentum. Und schliesslich weigerten sich viele Körperschaften bis zuletzt, ihren Bürgerinnen das Stimmrecht zu geben. In den letzten Jahrzehnten ist das Verständnis für solche Ungleichbehandlungen markant gesunken und das Ansehen der Common-Pool-Organisationen hat entsprechend gelitten. Deswegen betonen sie heutzutage denn auch, dass viele ihrer Tätigkeiten der gesamten lokalen Bevölkerung zugutekämen. Wir sollten dies als Eingeständnis lesen, dass soziale Gerechtigkeit tatsächlich ein unumstösslicher Pfeiler von Nachhaltigkeit ist.

Allerdings ist es auch eine bedeutsame Erfahrung der kollektiven Nutzung, dass soziale Gerechtigkeit genauso wie Bevölkerungswachstum den Druck auf die natürlichen Ressourcen erhöht. Je mehr Personen mit Holz aus dem lokalen Wald versorgt werden müssen, desto akuter die Gefahr, dass er übernutzt wird. Die Geschichte der Commons ist nicht nur voll von solchen Fällen, sondern enthält auch zahlreiche Beispiele, in denen Körperschaften versuchten, ihr Eigentum zu vergrössern. Der Kauf zusätzlicher Alpen ist gut dokumentiert, aber auch die Aneignung von Weideflächen mittels juristischer Streitigkeiten und Gewalt.

Kampf ums Überleben

Seit dem 19. Jahrhundert sind viele Commons hierzulande in den Sog der fossilen Wirtschaft geraten: Kohle und Erdöl haben das Holz als Hauptenergielieferanten verdrängt, die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion mittels Motorisierung und synthetischer Substanzen hat die wirtschaftliche Bedeutung der extensiv genutzten Alpweiden deutlich geschmälert. So ist der monetäre Wert der beiden klassischen Allmenden Wälder und Weiden im letzten Jahrhundert markant gesunken, ebenso wie die Anzahl jener, die sie nutzen und pflegen, nämlich Förster und Bäuerinnen. Die Frage, wie angesichts solcher Verschiebungen eine kollektive Ressource langfristig bewirtschaftet werden und ihre Eigentümerin überleben kann, stellt sich neu. Damit erhält die dritte Dimension, die ökonomische Nachhaltigkeit, eine neue Dringlichkeit.

Besonders für kleine Körperschaften stellt sich heute angesichts des Preiszerfalls von Agrargütern die wirtschaftliche Überlebensfrage. Wer kann, versucht in anderen Bereichen Einnahmen zu generieren, zum Beispiel mit den eingangs erwähnten Investitionen. Jene Organisationen, die sich andere Einkommensquellen erschliessen können, finanzieren die defizitären Ressourcen quer. Ohne die staatlichen Agrarsubventionen könnten wohl die meisten ihr Eigentum, das sie während Jahrhunderten bewirtschaftet und gepflegt haben, nicht mehr halten.

Wer sich mit Commons befasst, erkennt rasch, dass nachhaltiges Handeln in erster Linie ein nie endender Balanceakt ist. Es gilt ständig zu vermitteln zwischen Natur, Gesellschaft und dem ökonomischen System, in dem diese handelt. Eine Körperschaft, die eine solche Leistung über lange Zeit erbringen will, braucht ein starkes Verantwortungsgefühl, ein ausgeprägtes Sensorium für ökologische, soziale und ökonomische Dynamiken, die Bereitschaft zu Selbstreflexion und Veränderung und nicht zuletzt die Anerkennung und Unterstützung von übergeordneten Instanzen.

Deshalb: Klatschen Sie doch innerlich Applaus, wenn Sie das nächste Mal durch einen Wald oder über eine Alpweide spazieren und dabei an die Leistung der vielen Menschen denken, die hier gemeinsam gewirkt haben.

  1. Elinor Ostrom: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, 1999.

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