Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie
Das Verhältnis des Staates zur Norm des Friedens steht unter der Bedingung seines Wirklichkeitsbezuges. Und zwar im doppelten Sinne: einmal der Wirklichkeit, die der Staat für sich selbst beansprucht und in politischen Akten manifestiert, und dann der Wirklichkeit, die er dem zubilligt, was er selbst nicht ist. Der Wirklichkeitsbegriff ist ein Kontrastbegriff; er entzieht sich der Definition, denn «definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat»1. Der jeweils zwingendere Anspruch, das am wenigsten Überhörbare und zu Übersehende, womit wir rechnen und was uns Zumutungen stellt, wofür man sich schlägt und wogegen man rebelliert, was Emotionen und Opfer zu mobilisieren vermag – das alles und zumindest dieses hat Wirklichkeitsrang. Wie Wirklichkeit verstanden wird, gehört zu den «Implikationen des Begriffs einer Lebensform»2, aus denen der Komplex von Handlungen eines Individuums oder einer Gesellschaft – jenseits der Unterstellung, es gebe nur Reaktionen auf Reize – als Einheit eines sich Regeln gebenden oder doch prinzipiell auf Regeln reduzierbaren Verhaltens zu Realitäten begriffen werden kann. Auf den Wirklichkeitsbegriff konvergieren theoretische und praktische Einstellung.
Im Komparativ und in konkurrierender Präsenz wird verstanden, was es heisst zu sagen, der Staat beanspruche Wirklichkeit und lasse sie zu für das, was «neben, über, ausser dem Staate und oft genug gegen ihn»3 existiert. Am Präparat der extremen Situationen lässt sich das demonstrieren: In die Konjunktur seiner Realität als der äussersten und ausschliessenden Verbindlichkeit, der Evidenz seiner Notwendigkeit und seines zum Absolutismus tendierenden Rechtes rückt der Staat im Kriege, auch schon am Rande des Krieges, auch schon in der simulierenden Vorwegnahme des Krieges als eines «kalten». Die Krise erst essentialisiert die Existenz des Staates; der Notstand ist der Paradefall seiner Rechtfertigung. Wer sich für den Staat als «höhere Wirklichkeit» engagiert und sich mit ihm identifiziert, denkt ihn als Subjekt von Krisen – und damit nur zu leicht in Krisen hinein. Es verwundert nicht die Insistenz, mit der Politiker an der Macht der perfekten Regelung eines möglichen «Notstandes» nachsinnen. Auch die manipulierte äussere Krise als Instrument innerer Stabilisierung von Macht ist geläufiges politisches Handwerk. Bei einem technischen Standard allerdings, in dem reale Kriege den Staat selbst und als solchen gefährden, seine Identität selbst als Subjekt von Krisen zerbrechen können, wird der hypothetische Krieg, der «Phantomkrieg», zu einem Medium, das Staaten zu kristalliner Solidität zu bringen verheisst. Es gibt also eine Korrelation zwischen der Gefährdung des Friedens und der Evidenz des Staates, und sie legt es nahe, auf eine analoge Korrelation zwischen der Debilität des Staates und der Stärkung des Friedens zu schliessen. Diese Korrelation macht freilich noch nicht die Depotenzierung des Staates zur Kausalität friedlicher Evolution, wenn auch gilt, dass der Staat Subjekt des Friedens seit je nur im Zustand der Erschöpfung gewesen ist: Seine Frieden sind schon immer «kalte» gewesen. Diese Art von Frieden braucht nicht eigens geschlossen zu werden; sie ist der Inertialzustand der politischen Welt, der so lange besteht, wie ihn nicht einwirkende Kräfte stören. Nur der virulente Staat ist potentiell ein solcher Störfaktor. Und Virulenz heisst hier: Wirklichkeit, auf den Komparativ von Wirklichkeit tendierend.
Es ist ein elementarer aristotelischer Gedankengang, der uns annehmen lässt, dass der Staat, wenn er etwas «von Natur Seiendes» ist, wie alles Natürliche auf die Perfektion seines Zustandes hin agiert, also auf die Darstellung seiner Notwendigkeit an jedem Ort und in jedem Augenblick, nicht nur auf die Sicherung der Bedingungen seiner nackten Existenz, sondern auch auf die Prävention gegenüber jeder Möglichkeit ihrer Verunsicherung. Seine Entelechie ist dichteste Präsenz und unentrinnbare Potenz, wie sie eben nur im Medium der Krise verifizierbar wird. Wie brauchbar immer das von Hobbes geschaffene Modell gewesen sein mag, in dem der Naturzustand der Individuen als die Auslieferung aller an alle rational in die Konvention absoluter Herrschaft aufgehoben wird – das Individuum tritt dabei doch nur in einen neuen, freilich mittelbaren «Naturzustand» ein, in dem es ohnmächtig vermittelt wird an «die Geschichte» als die eigengesetzliche Vollstreckung jener Konvention, an die Selbstverwirklichung des Staates, der sich vom Nullpunkt jener ihn begründenden Rationalität ablöst und in eine zweite Naturalität übergeht, die – wie alles, was «natürlich» ist – das strikteste Verbot des Zweifels an dem, was ist und wie es ist, impliziert.
Aber: Gibt es keinen anderen Zusammenhang zwischen der Norm des Friedens und der Wirklichkeit des Staates als den der Friedlichkeit aus Erschöpfung, aus dem Kalkül der gerade nicht zureichenden Macht und der Ungunst der Gelegenheit? Ist der Wirklichkeitsbezug des Staates – und damit sein Verhältnis zur Norm des Friedens – eine Konstante in der Geschichte und damit für die politische Theorie? Dem nachzugehen, nötigt zu einem Umweg.
Die Theorie des souveränen Staates ist ein Resultat des verfallenden Mittelalters. Es wäre Romantik, das gegen sie sprechen zu lassen4. Diese Staatstheorie hatte ihre systematische Formulierung aus der Rezeption der «Politik» des Aristoteles seit dem 13. Jahrhundert gewonnen und in der Zuspitzung des mittelalterlichen Gewaltenstreits geschärft. Was Aristoteles geliefert hatte, war im Gegensatz zur platonischen «Politeia» nicht so sehr eine Lehre vom vollkommenen Staat als vielmehr eine solche von der Vollkommenheit des Staates, insofern er die menschliche Natur als die eines «politischen Wesens» erfüllt. Aus dieser Voraussetzung ergaben sich zwei Folgerungen: erstens die der «Natürlichkeit» des Staates kraft seiner anthropologischen Fundierung; zweitens die Unüberbietbarkeit der Staatstheorie durch eine sie transzendierende Theorie der Ordnungsverhältnisse unter Staaten oder der Rationalität ihrer Selbstaufgabe zur Konstitution höherer Strukturen.
Am Anfang des 16. Jahrhunderts war dieses Resultat der Scholastik, das in den Einzelheiten der Rezeption und Umformung aristotelischer Prämissen im 14. und 15. Jahrhundert hier nicht zu erörtern ist, schon ein Bestandsstück der Tradition. Aber jetzt wird diese traditionelle Staatstheorie von zwei entgegengesetzten Positionen her gleichsam in die Zange genommen:
einerseits von der Berufung auf den Realismus der politischen Situationen und einer Theorie der ihnen entsprechenden Verhaltensweisen her; andererseits von der Ausbildung der rationalen Fiktion in Gestalt der Utopie her. Für das eine steht der «Principe» Machiavellis, für das andere die «Utopia» des Thomas Morus.
Beide Werke – man muss sich dieses Faktum immer wieder vor Augen halten – sind fast in demselben Augenblick der Geschichte entstanden. Der Traktat über den Fürsten war Ende 1513 in der ersten Redaktion fertiggestellt, erschien freilich im Druck erst nach dem Tode seines Verfassers 1532 in Rom. Der Traktat «Über den besten Zustand des Staates und die neue Insel Utopia» wurde 1516 in der lateinischen Fassung in Löwen gedruckt; die erste englische Ausgabe erschien 1551 in London. Was bedeutet die Gleichzeitigkeit des Auftretens dieser beiden extremen Ausprägungen politischer Theorie?
Ernst Cassirer hat zuerst den «Principe» Machiavellis mit den «Discorsi» Galileis der Bedeutung und geschichtlichen Funktion nach verglichen, obwohl mehr als ein Jahrhundert zwischen der Entstehung der beiden Werke lag. Dieser Vergleich bleibt erregend, weil sein Recht so handgreiflich zu sein scheint und sich doch der begründenden Erfassung immer wieder entzieht. Entscheidend ist die Herauslösung der Politik aus dem systematischen Analogiefeld von Physik und Ethik, so wie Galilei die Physik von der Metaphysik und zunächst auch von der Kosmologie aristotelischer Prägung lösen musste oder wie Hugo Grotius nach einer autonomen Begründung der Rechtstheorie diesseits von Metaphysik und Theologie suchte. Machiavelli war weniger der Begründer einer neuen Wissenschaft, der Theorie des Staates in einem vergleichbaren Sinne, wie es Galilei für die neue Physik werden sollte; er war vielmehr derjenige, der einen neuen Gegenstand für eine mögliche Wissenschaft in der Überschärfung des Präparats sichtbar machte, eine Realität als solche zutage förderte. Denn Theoretiker war Machiavelli wider seinen eigenen Willen: Ein aus der Bahn des politischen Erfolges geworfener Mann sieht sich gezwungen, von einer Sache nur zu reden, die zu betreiben er allein als relevant ansieht. Theorie ist für ihn Surrogat, nicht Voraussetzung des Handelns. Aber was ihn zum blossen Nach-Denken im wörtlichen Sinne verurteilt hat, ist selbst nur eine Form der Betroffenheit von derjenigen absoluten Realität, die sich nicht «von aussen» betrachten lässt. Auch wo die Amoralität dieses neuen politischen Realismus auf ihren theoretischen Widerstand stösst, im Antimachiavellismus der Aufklärung, kann dies nicht Rückkehr zur vermeintlichen Einheit von Moral und Politik sein; insofern war Machiavellis Autonomisierung des Politischen irreversibel5.
Indem Machiavelli die Realität des Politischen im Präparat demonstrierte, vollzog er einen Bruch mit dem traditionellen Verständnis von Wirklichkeit als Natur, so wie die neue Physik der «Discorsi» entstand, indem Galilei in die Arsenale von Venedig ging, um den Leistungen der menschlichen Kunstfertigkeit auf die Spur zu kommen. Anschauung der Phänomene, das klassische Ideal der Theorie des Sternenhimmels, genügte hier so wenig mehr wie dort. Die Technik, das Prinzip «gewaltsamer Bewegung» im Sinne der aristotelischen Tradition, gab die Natur der Sache preis. Das von Galilei selbst gerade noch berührte Prinzip der neuen Physik bezeichnet einen Sachverhalt, der in der Natur als Phänomen nicht anzutreffen ist: die Trägheit der Körper. So hatte auch Machiavelli auf die aristotelische Ableitung des Staates aus der Natur des Menschen verzichtet. Was ihn in Atem hielt, war der Staat in seiner gleichsam experimentellen Situation, als habe er «die dem Menschen angeborene Ungeschicklichkeit zu herrschen oder sich beherrschen zu lassen»6 im Gegensatz zum antiken Kanon des «politischen Wesens» sowohl darstellen als auch auffangen wollen. Daher interessieren ihn nicht die alten, historisch oder geistlich legitimierten Staatsgebilde, deren Geschichte wie Wachstum aussieht und die so etwas wie Natur angenommen haben; ihn interessiert die Entstehung und Erhaltung neuer Herrschaft und Machtausübung. Die Kunst des Staates, die arte dello stato, hat ihre genaue Entsprechung in der Künstlichkeit der Macht als dem Normalfall der politischen Struktur, einer Macht, deren Erhaltung immer Problematik besitzt, so dass der Grenzfall in der Statik jener historischen Trägheit des Überlebens liegt. Der durch eigene Tüchtigkeit (virtù) oder durch Gunst des Zufalls (fortuna) zum Herrscher aufgestiegene Privatmann gibt das Paradigma des politischen Artefakts; ihm wird alles Vorgegebene (occasione) zur blossen Materie, der er die Form seiner Entschlüsse aufprägt7. Machiavelli verwendet das Modell des aristotelischen Hylemorphismus, um das politische Handeln den Kategorien der artes mechanicae zuzuordnen. Materialisierung dessen, was zuvor noch wie Natur ausgesehen hatte und damit die Sanktion aller Selbstverständlichkeiten beanspruchen konnte, zum Substrat demiurgischer Prozesse ist ein Grundzug der Neuzeit, der sich hier abzuzeichnen beginnt. Der Staat hat, noch vor dem Zerbrechen des ptolemäischen Kosmos, seinen eigentümlichen mittelalterlichen Gehäusecharakter verloren. Er ist nicht mehr der Rahmen, in dem sich die Auftritte der Geschichte für einen verborgenen Zuschauer abspielen, sondern der Akteur selbst und ausschliesslich. Seine Aktion, nicht seine Konstruktion zu erfassen, wird Aufgabe der Theorie sein.
Mit dem neuen Pathos des Realisten beruft sich Machiavelli auf das Tatsächliche (verità effetuale della cosa) gegen den Phantasiestaat der platonischen Tradition (immaginati repubbliche), wie sie in eben dem Florenz ihre Renaissance erfahren hatte, dem sich Machiavelli mit seinem Traktat als Realpolitiker zu empfehlen sucht8. Plato hatte seine «Politeia» aus der dreistufigen Struktur der menschlichen Seele abgeleitet; im Zentrum des Werkes stand die Ideenlehre, und das berühmte Höhlengleichnis veranschaulichte die Notwendigkeit, den Staat an die Erkenntnis der absoluten Wirklichkeit zu binden. Auf der Evidenz des Wirklichkeitsbezuges sollte das politische Handeln beruhen: Am Ende des Aufstieges von den Schatten der Höhle zum Kosmos der Ideen konnte diese Evidenz erreicht werden. Plato hatte selbst das Bedürfnis empfunden, der statischen Konstruktion seiner «Politeia» eine genetische Darstellung hinzuzufügen; sie sollte in einer Trilogie erfolgen, von der nur der erste Dialog vollendet wurde. Der «Timaios» behandelt die Kosmologie und lässt vermuten, dass Plato diesmal den Staat nicht aus der Struktur der menschlichen Seele, sondern aus der des Kosmos ableiten wollte. Wenn und wie die Natur Kosmos werden konnte, so kann auch der Staat Kosmos sein – das etwa mag das Argumentationsziel der späten Trilogie gewesen sein. In jedem Falle: Natur und Staat liessen sich einem homogenen Wirklichkeitsbegriff zuordnen, dem ein ebenso homogenes Ideal von «Theorie» entsprach.
Machiavellis realistische Ernüchterung richtet sich gegen die «Politeia», noch nicht gegen die «Utopia». Erst den Lesern des 18. Jahrhunderts, die den «Principe» wiederentdeckten, musste auch die Utopie der Aufklärung in die Stossrichtung seiner Argumentation gerückt erscheinen. Aber dies beruhte auf dem bis zum heutigen Tage nicht behobenen Missverständnis, das die Utopie ausschliesslich in der platonischen Tradition ansiedelt. Dabei wird übersehen, dass schon die «Utopia» des Thomas Morus mit dem «Principe» Machiavellis ein Moment gemeinsam hat, das beide von den Voraussetzungen der platonischen ebenso wie der aristotelischen Staatstheorie trennt: Sie sind nicht mehr auf den natürlichen Kosmos bezogen, weder auf den der Ideen noch auf sein Abbild in den Erscheinungen noch auf die Teleologie einer sich im Staat erfüllenden Natur des Menschen. Die politische Realität, wie sie sich beiden Autoren des 16. Jahrhunderts darstellt, ist nicht die Fortsetzung der physischen Realität «mit anderen Mitteln».
Die Utopie hat, das sagt ihr Name, keinen Ort. Für sie kann nicht, wie im platonischen Höhlengleichnis, eine Topographie angegeben werden, durch die ein Weg zur Evidenz der Ideen führt. Ihre Funktion ist von anderer Art, nämlich kritisch gegen die Faktizität des Bestehenden gerichtet. Aber sie definiert nicht, was an dessen Stelle treten soll, obwohl, was treten könnte:
Sie mobilisiert die Möglichkeit gegen die Wirklichkeit, und sei es auch nur, um den Realitäten schärfere Konturen zu geben. Zur Materialisierung als Grundzug der Neuzeit gehört dies, dass sie als Aufklärung die scientia possibilium gegen das Gewordene und Vorhandene ausspielt. L’homme d’esprit voit loin dans l’immensité des possibles; le sot ne voit guère de possible que ce qui est9. Aber dies ist zugleich die Schwäche der Utopie, dass sie zwar den Horizont des Möglichen erweitert, aber nicht die Evidenz seiner Überbietung findet. «Der Modalität nach verlässt der Rationalism die Wirklichkeit, ohne die Notwendigkeit zu erreichen. Die Möglichkeit ist sein ungeheures Feld…»10 Es ist das, was Kierkegaard in der «Krankheit zum Tode» als die «Verzweiflung der Möglichkeit, der Notwendigkeit zu ermangeln» bezeichnet hat. Darin steckt der Rest platonischer Bedürfnisse, der in der Staatstheorie der Neuzeit unübersehbar bleibt.
Die Differenz der utopischen zur platonischen Tradition wird sogleich am Prototyp der Gattung, der «Utopia» des Thomas Morus, deutlich. Die Negation der Evidenz des in ihr demonstrierten Modells steht ausdrücklich im Text. Gegen Ende des Berichtes über die Insel Utopia wird der Kult ihrer Bewohner beschrieben, der mit einem grossen Schlussgebet endet, in dem Priester und Volk gemeinsam dafür Dank abstatten, dass sie in dem besten Staat leben dürfen. Aber sogleich schränken sie die Gewissheit dieses Staatsbewusstseins dadurch ein, dass sie die Bitte an die Gottheit richten, sie wissen zu lassen, falls es ein besseres Staatswesen geben sollte. Diese Relativierung ist eine Demutsfigur, aber nicht zufällig am Schluss einer staatstheoretischen Demonstration, die mit der platonischen «Politeia» in Konkurrenz zu treten beansprucht und unter diesem Anspruch auch rezipiert worden ist.
In jedem Platonismus muss eine solche Pointe der Relativierung ausgeschlossen sein. Der Betrachter der Ideen, der zugleich als der kompetente Politiker vorgestellt wird, erfährt nicht nur, dass der ideale Kosmos das wahre Modell einer Welt, sondern auch, dass er das einzig Wahre ist. Zwar hatten, um im Bilde des Höhlengleichnisses zu bleiben, die Menschen einmal die Schatten mit der wahren Wirklichkeit verwechseln können; aber es ist undenkbar, dass sich diese Täuschung für den wiederholt, der den Weg zur Erkenntnis einmal gefunden hat. Ideen sind von der Art, dass es zu ihnen ein mallon on, ein Mehr an Wirklichkeit, nicht geben kann. Sie erfüllen mit dem Bewusstsein der Endgültigkeit des Erreichten. Der Anspruch auf solche Gewissheit letzter Evidenz gehört durch die ganze Tradition zum Platonismus, auch wenn gegenüber der Anschauung schliesslich noch eine höhere Stufe der unüberbietbaren Gewissheit in der «Berührung» des Einen gefunden wird. Dem Evidenzvertrauen in politischer Philosophie eignete immer jener «Zug der Gewalttätigkeit», den Jacob Burckhardt schon an Plato wahrnimmt.
Während in der moderierten Spätform des platonischen Staates, wie sie in den «Gesetzen» dargestellt ist, den Bürgern das Reisen verwehrt und denen, die aus Gründen dennoch unterwegs sein mussten, geboten sein sollte, die Verhältnisse draussen als nachteilig gegenüber denen im eigenen Staat zu schildern, bitten die Utopier des Thomas Morus gerade um die entgegengesetzte Aufklärung, nämlich sie wissen zu lassen, wenn es irgendwo einen besseren Staat als den ihren geben sollte. Diese Differenz zum Platonismus ist signifikant für die Funktion der Utopie in der Neuzeit. Die Zukunftsdatierung des fiktiven Zustandes, die der Utopie ursprünglich fehlt, ist dabei nicht wesentlich; sie kann auch die Verbindlichkeit einer historischen Formation suchen, wie die Romantik der fränkischen Legislatur des Mittelalters bei Montesquieu, oder die exotische Imagination des prototypischen Reiseromans fortführen. Zwar sagt der Erzähler Hythlodäus in der «Utopia», der geschilderte Staat sei zu dauernder Existenz fähig; aber er nennt diese Feststellung selbst eine humana coniectura, eine menschliche Vermutung. Die Hypothese liegt hier näher als die Idee11.
Angesichts der Gleichzeitigkeit des «Principe» und der «Utopia» ist noch ein anderes Moment aus der Vorgeschichte des utopischen Staates zu beachten: Die Insel der Utopier ist kein natürliches Gebilde, sondern durch künstliche Abtrennung vom Festland entstanden. Die Isolierung von den gemeinen Realitäten des zeitgenössischen politischen Lebens erschien nur um einen Preis möglich, der für den humanistisch geschulten Leser das Odium der Hybris an sich haben musste. Den Griechen waren, wie Burckhardt es vielfältig belegt, «grosse Unternehmungen, durch welche die Gestalt ganzer Landschaften verändert wird, durchgehend als frevelhaft» erschienen, und die Sanktion der inviolata terra ist in der Utopie des Thomas Morus durchaus gegenwärtig, wenn der Bericht, der mit einem Akt einschneidender Veränderung der Natur beginnt, mit der Klage über die Anmassung des Menschen schliesst12. Der Staat Utopia beruht also nicht auf dem Fundament ewig geltender Ideen und ihrer physischen Nachbildung, sondern auf einem Akt entschlossener Loslösung von den Vorgegebenheiten der Natur. Der Horizont des Wirklichkeitsbegriffes, in dem Machiavelli und Thomas Morus inhaltlich antipodische Theorien entwerfen, erweist sich als homogen in der Nötigung, mit den klassischen Sanktionen des «Vorgegebenen» zu brechen. Das Moment der Gewalt und der Macht, das am Anfang steht, wo Staatlichkeit ins Dasein tritt, ist das gemeinsame Axiom. Und etwas Weiteres: die Ununterscheidbarkeit von Schein und Sein, der Mangel jener klaren Struktur der Steigerung an Evidenz im platonischen Höhlengleichnis als Resultat des politischen Prozesses. In der «Utopia» war dies die Anrufung des absoluten Zeugen, der allein die Relativität des vermeintlich besten Staates gegenüber dem vielleicht noch besseren zu erkennen geben konnte. Bei Machiavelli war es, sehr viel härter, der nachträglich dem Resultat des Machtgewinns künstlich zu gebende Anschein der unverletzten Kontinuität und fraglosen Natürlichkeit.
An diesem Anfang des staatsphilosophisch-politischen Denkens der Neuzeit bestätigt sich, dass «Wirklichkeit» immer in der Relation des Kontrastes begriffen wird. Realitäten qualifizieren sich als solche eben dadurch, dass sie gegen den Vorwurf der Irrealität verteidigt werden können. Platonismus – das hiess: die Idee als Instanz gegen das, was «nur Erscheinung» ist. Machiavellismus – das hiess: die Erscheinung als Instanz gegen das, was «nur Idee» ist. Utopie – das hiess: die Fiktion der Möglichkeit als Instanz gegen das, was «nur kontingentes Faktum» und damit weniger als seine rationalen Überbietungen ist.
Aber in diesen Antithesen ist immer noch nicht die elementare Gegnerschaft wieder zutage getreten, die in der Errichtung der metaphysischen Tradition enthalten war: Platos Dämonisierung der Sophistik, seine Abwendung der Rhetorik durch die Philosophie. Der Wirklichkeitsbegriff, den diese metaphysische Tradition aufzuarbeiten und in seinen Konsequenzen auszutragen hatte, liess sich schliesslich auf den fundierenden Gegensatz von «Worten» und «Sachen» reduzieren. Der Platonismus ist eine Philosophie gegen die Herrschaft des Wortes, das Postulat der Anschauung gegen das Anhören, der Evidenz gegen die Überredung, der res gegen die verba. «Nur Worte» ist der durchgängige Topos für das Irreale dessen, worauf es nicht ankommt. Der Verruf der politischen Rhetorik beruhte schon bei Plato auf der Voraussetzung, dass die Wahrheit ihre eigene Mächtigkeit habe und sich durchsetze, wenn nicht in einer Pervertierung der Proportion der schwächere Logos zum stärkeren gemacht wird. Der technische Begriff von Politik, der der Rhetorik ihre bleibende Zweideutigkeit gab, sollte durch die Berufung auf eine letzte und eigentliche Wirklichkeit vom Typus der Ideen ins Unrecht gesetzt werden. Dass im neuzeitlichen «Realismus» diese Problematik latent war und wieder zur Ausdrücklichkeit drängte, gehört zu den späten Wahrnehmungen der Epoche, die zur Geltung kommen zu lassen und unbefangen zu analysieren uns die Mächtigkeit der Tradition immer noch erschwert.
Wir beginnen zu zögern, verbale Demonstrationen von Politik mit der lange vernichtenden Qualifikation als «reine Rhetorik» abzutun. Gelegentlich, vielleicht sogar mehr und mehr, will es uns als wohltätig erscheinen, wenn Politik der «blossen Worte» gemacht wird. Haben wir noch allzu häufig gewagt, vom Staat zu fordern, er solle nach vielen Worten endlich zu Taten schreiten. Eine Analyse unserer jüngsten Geschichte ergibt gerade für die globalen Strukturen den Vorzug der Substitution von Worten für Fakten und Akten, der Proklamationen für Entscheidungen. Es kann alles darauf ankommen, bei den Worten zu bleiben, es – wie man zu sagen sich gewöhnt hat – «bei Erklärungen zu belassen». Was seit Bernard Baruchs Wortprägung in der Diskussion um die Trumandoktrin 1947 der «Kalte Krieg» genannt wird, ist eine Verhaltensweise der Supermächte geworden, in der zunehmend Worte für Realitäten ausgegeben werden – und man wird kaum sagen wollen, wir hätten stattdessen lieber die Realitäten selbst gesehen. Als Verhalten in einer Welt, in der das Risiko des Handelns alle möglichen Erfolge des Handelns zu disqualifizieren vermag, beginnen die «grossen Worte» tröstlich wohl zu klingen. Ich halte es für wenig sinnvoll, von dieser Situation, um schneller zur Moral zu kommen, zu abstrahieren. Sie mag sehr unbefriedigend sein, «vom höheren Standpunkt aus». Aber ist dieser Standpunkt selbstverständlich, rational zwingend, erhebt er sich nicht über der Verachtung der Sophistik mit ihren metaphysischen Implikationen? Die Geringschätzung des Pragmatischen zugunsten dessen, was höher als alle Vernunft sein soll, kommt in das Blickfeld einer Skepsis, die sich das «eigentlich Wirkliche» nicht vorgeben lässt.
Wir wissen nicht, wie stabil eine solche Situation ist und sein kann. Daher sollte man vielleicht die These nicht als ganz selbstverständlich und endgültig hinnehmen, dass «die technische Welt sich nicht von selbst stabilisiert»13. Jedenfalls ist es eine Grenzvorstellung aller Technizität, ihrer Funktion aus der sachlichen Immanenz zu genügen. Nehmen wir einmal an, wir könnten uns diesem Grenzwert der immanenten Regulation nähern, so würde der Satz zunehmend Geltung erlangen, politisches Handeln sei am zweckmässigsten dort, wo es die klassische Qualität der «Entscheidungsfreudigkeit» vielleicht nur noch zur Beruhigung von Funktionsgelüsten und endogenen Unzufriedenheiten simuliert. Das ist eine ärgerlich überspitzte Formulierung, aber gegen die Überschätzung des überkommenen Repertoires politischer «Realität» scheint sie mir brauchbar zu sein.
Man muss sehen, wie wenig getan wird und getan werden kann, wo es um die grossen politischen Alternativen geht, nicht nur in der Aussenpolitik, sondern auch in der Innenpolitik. Es ist freilich selbst ein politisches Bedürfnis, das Bewusstsein zu erhalten, es könnte viel getan werden, wenn nur dies oder jenes – insbesondere Personen – anders würde. Gelegentlich wird leichtsinnigerweise demonstriert, dass die Reserve des Ganz-Anderen erschöpfbar sei. Die verbreitete Enttäuschung an der grossen Koalition in der Bundesrepublik beruht darauf, dass allzu schnell und aus vordergründigen Nöten etwas realisiert wurde, was als ultima ratio der Herstellung von politischer Handlungsfähigkeit ein pragmatischer Mythos war und als solcher wohl gehütet sein wollte. Vergleichbar wäre nur die grosse letzte Reserve des Generalstreiks: Der starke Arm, der alle Räder zum Stehen bringt, bleibt ein fascinosum und tremendum nur diesseits der Enttäuschung seines Zugriffs. Gemessen an dem, was entschieden werden könnte, wird das, was entschieden werden kann, immer mehr reduziert; wenn uns das am Phänotyp der Vorgänge nicht greifbar wird, so liegt dies am Bedarf der modernen Nachrichtenwelt an «Ereignissen», der eher ihren Kapazitäten als den Realitäten entspricht. Schliesslich wird auch die Möglichkeit des Krieges in die «verbale Modalität» übergehen. Es bedeutet nicht, dass an den Krieg als Mittel nicht mehr gedacht wird, wohl aber, dass dieser Gedanke nicht zu Ende gedacht werden kann. Das wäre der schlechte Friede, aber nicht der schlechteste. Nicht der Friede aus Einsicht und Gesinnung, aus der grossen humanen Anstrengung, den zu erwarten, zu fordern und über dessen Bedingungen nachzudenken der Mensch nicht aufhören kann, sondern der Friede aus der Sicherheit der Enttäuschung und der notwendigen Katastrophe am Versuch seines Gegenteils. Es ist oft genug gesagt worden, dass die hochgradige Empfindlichkeit moderner Strukturen in Versorgung, Verwaltung und Produktion jeden Gedanken an Gewalt auch konventionellster Art abenteuerlich macht. Die Einschränkung dieser Aussage, die man heute noch machen muss, beruht darauf, dass solche Empfindlichkeit der Organisation des alltäglichen Lebens auf der Welt nicht überall erreicht ist und das Risiko der «kleinen Abenteuer» bei geringerer Verletzlichkeit unterschätzbar bleibt.
F. v. Weizsäcker hat die These aufgestellt, der Weltfriede sei unvermeidlich, aber keineswegs gewiss14. Dieser Mangel an Gewissheit sei nicht nur eine Schwäche des theoretischen Kalküls, sondern habe auch eine immanent rationale Funktion: Er sichere die ständige Notwendigkeit der grossen Anstrengung, die das Ziel des Weltfriedens weiter erfordere. Das Argument erinnert in seiner logischen Struktur an Kants Postulat der Existenz Gottes, die theoretisch ungesichert bleiben müsse nicht nur wegen der Widerlegung ihrer Beweisfähigkeit, sondern wegen der praktischen Folgen, die eine theoretische Gewissheit des göttlichen Gerichts über alle Handlungen für die moralische Autonomie haben müsste: Freiheit würde in Berechnung übergehen. Ob der Weltfriede wegen seiner Unvermeidlichkeit auch gewiss sei, ist also nicht nur das, was niemand wissen kann, sondern auch das, was niemand wissen darf. Aber das Paradox, das hier vorliegt, ist noch radikaler und härter zu erfassen. Ein Staat, der aus der Unvermeidlichkeit des Friedens seine Gewissheit folgerte, würde die eigene Rüstung vernachlässigen und in der Verletzlichkeit seiner Binnenstrukturen jedem Angriffswilligen die Möglichkeit der Erpressung anbieten, damit aber eine subkutane Verschiebung von Machtverhältnissen ermöglichen, die immer die Gefahr des grösseren Konflikts enthielte. Auch die Ungewissheit der Reaktion auf einen aggressiven Akt muss erhalten und muss relevant bleiben.
Das hat sehr merkwürdige Folgen für die «Friedensmoral» des einzelnen Staatsbürgers. Die Pflicht zum Dienst mit der Waffe ist zwingender geworden, denn nur sie erhält jene Ungewissheit der Reaktion gegenüber der Friedensverletzung aufrecht. Sollte aber dieses Risiko nicht genügen, um die Unvermeidlichkeit des Friedens evident zu erhalten, so ergibt sich ein politisch nicht antizipierbarer, essentiell privater Schluss. Wenn das einzige definierbare Ziel bewaffneter Macht und der durch sie ermöglichten Bündnisse, den Krieg durch Risikobildung sinnlos zu machen, erkennbar gescheitert ist, erlischt die Pflicht des unter dieser Zieldefinition stehenden Waffendienstes. Alles, was jetzt kommt, wiegt die Ziele nicht auf, für die es ertragen werden könnte. Das politisch fast Undenkbare wäre logisch zwingend: Die Streitkräfte wären aufzulösen, die Bündnisse für unerfüllbar zu erklären. Kein Staat könnte und dürfte dies vorher deklarieren, jeder müsste es im Zeitpunkt X tun und würde es vermutlich tun. In der Erwägung der Antinomie dieser Situation muss man mit dem Vorwurf des neuen Machiavellismus und den analogen Gebärden des Abscheus rechnen. Dem entschlossenen, erklärten oder erkennbaren Friedensbrecher seinen Willen zu lassen, nachdem ihn die Demonstration des Risikos nicht zurückhalten konnte, und noch vor der Kraftprobe die Fahne zu streichen, ist ein schon in dieser Sprache als schwer erträglich sich ausweisender Gedanke. Aber gerade gegenüber den Widerständen der klassischen politischen Mentalität muss die Prämisse auch hier festgehalten werden, dass Sieg kein Gewinn mehr sein kann, dass der Unterlegene darauf vertrauen darf, der Angreifer werde alsbald mit der Kompliziertheit der Probleme einer nur noch technisch möglichen Welt konfrontiert werden und die Illusion seines Gewinnes müsse sich ihm rasch enthüllen. Ist diese Wendung des Zwanges zur Rationalität für den Aggressor zuverlässig?
Um diese Frage zu beantworten, muss man ein weiteres Paradox unserer politischen Realität durchdenken: das Paradox der ohnmächtigen Macht. Die Instrumentarien von Macht haben sich in der gegenwärtigen Welt in ungeheurem Masse vergrössert, und es liesse sich denken, dass sie sich durch ein Kartell der Supermächte zu einem nahezu absoluten Grad akkumulieren. Aber diese konventionelle Betrachtungsweise von Macht lässt die Frage beiseite, welches Äquivalent von Machtausübung eigentlich den Grössenordnungen entspricht, von denen hier die Rede ist. Zweifellos hat es immer Zwecke gegeben, die durch die Ausübung blosser Macht nicht erreicht werden konnten. Aber die hier relevante Frage ist die, welchen Anteil an allem, was Gegenstand und Ziel von politischer Macht je war und sein könnte, diejenigen Dinge haben, die sich nicht mehr mit Macht erreichen lassen, und von welcher Dignität sie im Verhältnis zur klassischen Konzeption von Macht sind. Und auch: In welcher Tendenz entwickelt sich die Proportion dieses Anteils?
Man muss, um diese Fragen zu beantworten, von der primitivsten Form der Machtausübung ausgehen, von der Identifizierung des Menschen mit seiner physischen Leistungskraft und der Verfügung über diese. In dieser elementaren Betrachtung lässt sich Arbeits- und Kampfkraft aus der Zahl der Menschen errechnen, die im Erzwingungsbereich einer politischen Struktur stehen. Aber gerade diese Art von Macht im klassischen Sinne ist ebenso uninteressant wie irrelevant geworden. Heute heisst, industrielle und militärische Kapazitäten zu beherrschen, über die «Köpfe» im engeren und engsten Sinne, also nicht mehr in dem der pars pro toto, zu verfügen. Das Scheitern der Kolonialherrschaften ebenso wie das der Blockbildungen ist mit diesem Vorgang verbunden. Erweiterung von Grenzen, Verfügung über Territorien und deren Bevölkerungen sind ineffektiv geworden, weil man die Köpfe dadurch verliert, dass man sie gegen ihren Willen beherrscht. Während das physisch zu erzwingende Aufgebot menschlicher Kraft und Geschicklichkeit fast beliebig technisch ersetzt werden kann, bleibt spontane Intelligenz und Erfindungskraft das Unerzwingbare. Wie immer man die Kräfte und Qualitäten nennen mag, die unter Botmässigkeit zu bringen Sache eines expansiven politischen Willens gegenwärtig sein könnte: Sie sind nicht mehr so abtrennbar von der freien Zustimmung zu diesem Willen, wie es pure Arbeitsleistung und Waffendienst, Zunftfertigkeiten und Funktionärsverstand gewesen sind. Deshalb unausweichlich die späten und verspäteten Versuche, imperiale Politik als ideologische zu betreiben.
Dass Macht in dem Augenblick, in dem sie gleichsam rein dargestellt werden kann, ihre Schrecken verliert, liegt weniger, als manche glauben, in dem Schrecken begründet, der ihr entgegengesetzt werden kann, als vielmehr darin, dass ihre Ausübung in fast lächerlicher Weise unergiebig geworden ist und ihre Entwertung als politisches Ziel rasch fortschreiten muss. Mag es so scheinen, als bestände das Paradox der ohnmächtigen Macht vor allem in der unhandlichen Übergrösse der Waffen, auf die sie sich stützt und mit denen sie nichts ausrichten darf; dieses vordergründige Phänomen verbirgt die, wenn ich so sagen darf, humane Überraschung, dass die Substanz dessen, was durch Macht weder zu gewinnen noch zu beherrschen ist, in der modernen Wirklichkeit entscheidend für den Bestand dieser Wirklichkeit geworden ist. Aufschlussreich dafür ist der Punkt der technisch-kulturellen Entwicklung eines Staates, von dem an die politische Sphäre dieses Staates sich Konflikte mit der intellektuellen nicht mehr leisten kann. Wir leben in einer Welt, in der es lästig werden muss, Macht auszuüben, und in der die Attraktivität der Macht in keinem Verhältnis mehr zu den Risiken steht, die um ihretwillen eingegangen werden müssen. Das muss nicht bedeuten, dass die politischen Verhaltensweisen sich phänomenal radikal verändern. Aber solche Unveränderlichkeit kann Schein sein. Wir sehen auch auf anderen Gebieten, wie zum Beispiel auf dem der Arbeitskämpfe, dass das klassische Repertoire erworbener Verhaltensformen als Ritual festgehalten wird. Die verbale Modalität, von der ich sprach, kann als Schwundstufe von rein phänomenaler Konstanz betrachtet werden. Aus der res-verba-Antithese wäre die verba-pro-rebus-These geworden – und das wiederum wäre so etwas wie die Wiederkehr der Sophistik aus ihrer platonischen Verbannung, freilich unter einem neuen und der Tradition unausdenkbaren Aspekt.
Wer die Gegenwart aus dieser Tradition und mit ihren Mitteln überdenkt, muss diese Analyse enttäuschend, vielleicht erschreckend finden. Der Staat sollte nicht mehr die wahre und wirkliche Erfüllung des zoon politikon sein, sondern der Träger einer «Rolle» – und noch dazu einer blossen Sprechrolle – in der Ökonomie der menschlichen Geschichte. Was in seiner Dignität einmal von der Betrachtung des Kosmos her zu erfassen gewesen war, sollte nun in der Sphäre institutionalisierter Rhetorik angesiedelt werden? Wenn hier Enttäuschung und Erschrecken zu gewärtigen sind, so bedarf gerade dies der Untersuchung seiner Selbstverständlichkeit. Der Bezug auf den Wirklichkeitsbegriff mag hier zu Aufschlüssen verhelfen.
Wie die Natur im Laufe der Geschichte der europäischen Kultur an Schicksalshaftigkeit gegenüber der Politik verloren hatte, so scheint diese selbst durch die Relevanz anderer Strukturen überboten werden zu können. Was das Leben bewegt und seine Geschicke bestimmt, das ist im höchsten Masse real: Das Wetter kann der Inbegriff aller Realitäten, der Wettergott das schlechthin höchste Wesen sein. An Unerbittlichkeit hat das politische Medium des menschlichen Lebens seit langem das physische übertroffen. Zur Neutralisierung der Natur, zu der eigentümlichen Irrealität, die sie in ihren Reservaten innerhalb der modernen Zivilisation für den Menschen angenommen hat, haben Wissenschaft und Technik geführt. Die Schwierigkeit des Sachverhalts besteht darin, dass der zentrale Strang der Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit Wissenschaft von der Natur ist, dass aber eben diese Naturwissenschaft im Fazit ihrer Erfolge dahin geführt hat, dass Natur als Inbegriff der für den Menschen schicksalshaften Vorgegebenheiten abgeblendet und nivelliert wurde. Dem Wechsel im Vorrang der Wirklichkeiten ist das philosophische Denken nur zögernd gegen die Paradigmasetzung der Tradition gefolgt. Wie schwer dem Vorrang des Politischen nachzudenken war, findet sich in einem Brief von Marx unter dem 13. März 1843 ausgesprochen, in dem er über Feuerbachs «Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie» schreibt: «Feuerbachs Aphorismen sind mir nur in dem Punkt nicht recht, dass er zu sehr auf die Natur und zu wenig auf die Politik hinweist. Das ist aber das einzige Bündnis, wodurch die jetzige Philosophie eine Wahrheit werden kann.»15Könnte aber auch diese Phase schon Vergangenheit sein oder im Übergang zu Vergangenheit, in der Politik der Inbegriff schicksalsträchtiger Realität für den Menschen ist? Die nüchterne Wahrnehmung der Sachverhalte, auf die es hier ankommt, verdeckt sich uns durch den Kunstgriff, dass neue und heterogene Faktoren ganz einfach unter den Oberbegriff des Politischen subsumiert werden, weil man auf sie die Institutionsschemata der klassischen politischen Ressorts übertragen hat. Es ist uns schon fast selbstverständlich geworden, dass es so etwas wie Wirtschaftspolitik gibt, die nicht mehr im klassischen Sinne Handelspolitik oder nur auch diese ist. Und sobald Wissenschaft als Basis der modernen Lebensmöglichkeiten akut genug geworden war, wurde «Wissenschaftspolitik» zum Range der Ressortfähigkeit erhoben und eben dadurch dem Corpus von Politik integriert. Auch «Bildungspolitik» sieht nur so aus, als sei sie die Fortsetzung des klassischen Kultusressorts.
Alles als Politik zu deklarieren, ist eine Verschleierung des Wandels der realen Verhältnisse. Wenn die Ausübung von Macht nach innen und aussen zur Definition des Politischen geworden war, so stand dahinter die Idee der Selbsterhaltung des Staates als des Inbegriffs seiner Selbstzweckhaftigkeit. Und Selbsterhaltung war eine jener aus dem Naturbegriff entnommenen Kategorien des Politischen. In der Ablösung dieser Kategorien kann die humane Chance des umrissenen Prozesses liegen. Was für diese Chance spricht, ist die Verdrängung des traditionellen Repertoires politischer Substanz, jener «grossen» Begriffe von den natürlichen Grenzen, den legitimen Ansprüchen, von der Souveränität, vom Lebensraum, von der Unabhängigkeit der Bestandssicherung, vom Herr-über-sich-selbst-Sein – all dieser so oft auf Leben und Tod erprobten und missbrauchten Vorstellungen durch eine neue Skala von Regulativen und Denkmöglichkeiten. Rousseau konnte noch das Resultat seiner Erfahrungen beim Aufenthalt in Venedig als eine der «grossen dem Glück der Menschheit förderlichen Wahrheiten» aussprechen: «Ich war zu der Einsicht gelangt, dass im letzten Grunde alles auf die Staatskunst ankäme und dass jedes Volk, wie man es auch anstellen mochte, niemals etwas anderes sein würde als das, was das Wesen seiner Regierungsform aus ihm machen musste.»16 Aber hätte er wohl zugelassen, diesen «substantiellen» Begriff von Politik auf das anzuwenden, was heute etwa als Wirtschaftspolitik nicht nur «auch», sondern vordringlich Politik genannt wird?
Als Sachverhalt nicht zu bezweifeln ist wohl, dass Wahlen, Krisen, Regierungsbildungen immer stärker unter dem Einfluss wirtschaftlicher Faktoren und Situationen stehen. Ganz davon zu schweigen, dass die Interessen der wirtschaftlichen Existenz hinter der Durchsetzbarkeit fast aller Forderungen anderer Provenienz, zum Beispiel der Wissenschafts- und Bildungspolitik, stehen. Vor allem aber: Wo noch vor wenigen Jahren oder Jahrzehnten eine Regierung über einen aussenpolitischen Lapsus gestürzt wäre, überlebt sie heute spielend, während eine geringfügige Abschwächung der Steigerungsrate der Produktion, ein Ausschlagen der Arbeitslosenziffer nach oben sie in eine ausweglose Lage bringen. Wirtschaftspolitik ist nicht nur ein Kabinettsressort, das es in Deutschland seit 50 Jahren – nämlich seit dem 21. Oktober 1917 – gibt; sie ist, obwohl sie den grössten Teil dieser kurzen Geschichte ihres Kabinettsranges in Gestalt einer trüben Bewirtschaftungspolitik verbracht hat, immer mehr zur Substanz der Politik oder, was dasselbe ist, zur Entsubstantialisierung ihrer historisch sanktionierten Gestalt geworden. Und es scheint, dass die Verlagerung von politischer Qualität auf das Wirtschaftsressort fortschreitet: Der «Freiburger Imperativ» Walter Euckens, der wirtschaftspolitisches Handeln auf die «Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft» beschränkte, wird gegenüber dem Postulat der Wachstumssteuerung zurücktreten, nachdem der Automatismus der Selbststeuerung alarmierende Schwankungen gezeigt hat.
In diesen Zusammenhang gehört die gewandelte Bedeutung der Finanzpolitik. Sie war über das Bewilligungsrecht des Parlaments das klassische Instrument der Ausübung von Macht im Staat, also Politik im genauesten Sinn. Seit langem degeneriert sie erkennbar zu einer abhängigen Variablen der Wirtschaftspolitik, und zwar infolge der von dieser besorgten Steigerungsrate der Staatseinnahmen, die allein noch den Spielraum des Handelns einer Regierung abgrenzen. Die Haushaltsdebatten der Parlamente, einst deren grösste Augenblicke in der Kontrolle der Exekutive, haben am ehesten den Charakter des fiktiven Nachspielens einer vergangenen grossen Rolle angenommen.
Die Schicksalshaftigkeit der Wirtschaftspolitik steht, nach traditionellen Massstäben, in einem verblüffenden Missverhältnis zu der Tatsache, dass gerade ihr Instrument im wesentlichen das Wort der öffentlichen Rede ist: die vertrauenswürdige Information, die Beschwörung zur Nichtintervention anderer, Orientierungshilfen und Leitlinien, Zielprojektionen und Konsumermunterungen. Wie auch immer sie sich das Ansehen eines Inbegriffs von «Massnahmen» geben mag – man weiß, wie wenig mit derartigem noch auszurichten ist, wenn die Witterung dagegensteht, wenn elementares Zutrauen schwindet und undefinierbare Reserve aufkommt. Statt von den Hebeln, deren sich die Macht bedienen kann, spricht man vom «Zerreden» einer Konjunktur, vom Ausstrahlen von Vertrauen, von der verbalen Vorwegnahme des gewollten Umschwungs, von der Wirkung der Prognose auf ihr Objekt, vom Investitionsklima (das wie ein «Betriebsklima» gepflegt sein will) und vom «Impuls der schönen Worte». Solche Wortpolitik ist, was immer sie sonst noch sein mag, in jedem Fall auch eine Demonstration von Ohnmacht der Macht, also von unpolitischer Politik, wenn man «Politik» als geschichtslose Konstante unterstellen wollte. Aber gerade auf einem Felde, das nicht die Dignität des Politischen seit jeher hat, kann auch Rhetorik am ehesten das Odium verlieren, Verfälschung der Wahrheit, Manipulation einer sonst freien Willensbildung, Vertauschung von Schein und Sein sei ihre unabdingbare Funktion. Entrüstung freilich über die Trennung von Worten und Realitäten liegt immer im Schosse einer Tradition bereit, die es mit dem eigentlich Seienden und den Sachen selbst zu tun haben wollte. «Es soll, wer für die Wahrheit besorgt ist, seine Worte nicht mit Absicht und besonderer Sorgfalt setzen, sondern was er will und wie er es vermag auszusprechen suchen. Denn denen, die an den Worten hängen und ihnen Mühe zuwenden, entziehen sich die Dinge selbst.»17 Dass man dem Missverständnis kaum entgehen kann, wenn man dies nicht als die selbstverständlichste Norm zitiert, hat seinen Grund in dem elementaren «Komplex» unseres geistigen Herkommens, Sophistik unmöglich zu machen und nur die letzte Wirklichkeit selbst, die nach Sokrates immer eine Wirklichkeit ausserhalb des Menschen und über dem Menschen gewesen ist, gelten zu lassen. Die ontologische Depotenzierung des Staates als der «Wirklichkeit der sittlichen Idee», dem gegenüber «das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit als ein Glied desselben» besitzt18, ist zwar einevRegel für ein noch zu vollziehendes Umdenken, aber nicht ein solches, das einen neuen Wirklichkeitsbegriff entwirft und den Gang der Dinge gleichsam vorschreibt, sondern das nur die Aporie der Entmachtung der Macht nachvollzieht und vor der falschen Enttäuschung bewahrt.
Vielleicht wird man sagen, dies alles habe eine fatale oder assimilatorische Ähnlichkeit mit der These vom Absterben des Staates im kommunistischen Endzustand bei Marx. Über Endzustände freilich wage ich nichts zu sagen. Es geht mir um eine Analyse von Tendenzen. Dabei darf man den Vorwurf des Präparats nicht scheuen, denn Präparate machen Unsichtbares sichtbar. Der Sprachgebrauch vom «Absterben des Staates» erweist sich freilich selbst als ein realistischer, nämlich als gebunden an einen bestimmten Wirklichkeitsbegriff, der den Staat in dem Augenblick als inexistent ansehen würde, in dem er innerhalb des Schemas der res-verba-Antithese auf die Seite der «blossen Worte» gerückt wäre. Aber die Transformation innerer und äusserer Konflikte, Störungen, Bedrohungen, Aggressionen auf die Ebene des Wortes ist anthropologisch längst vertrauter Sachverhalt, und wir beginnen uns daran zu gewöhnen, dass die oft geschmähte «endlose Diskussion» sehr wohl die momentane Entladung eines Konflikts ersetzen und übersetzen kann. In Piatos’ Kritik der Sophistik war es der Inbegriff rhetorisch-demagogischer Verworfenheit gewesen, den schwächeren Logos zum stärkeren machen zu wollen. Die Zustimmung, die diese Kritik während unserer ganzen Tradition gefunden hat, beruhte auf der Vieldeutigkeit von Logos im Griechischen. Voraussetzung der diskriminierenden Formel war, dass der schwächere Logos dies wegen seines mangelnden Gehaltes an Wahrheit und Vernunft sein sollte; überliesse man gleichsam die Logoi sich selbst, ihrer inneren Kraft, so würde der wahrere der stärkere sein. Dieses natürliche Verhältnis wird durch rhetorische Künstlichkeit verfälscht. Dem entspricht der moderne Aberglaube, politische Parteien würden ohne Zuhilfenahme propagandistischer Künste im Verhältnis der politischen Wahrheitsgehalte ihrer Programme zum Zuge kommen. Das Ablösungsschema der wirksamen Demokratie schliesst aber im Grunde diese Voraussetzung aus und impliziert vielmehr, dass wer an der Macht ist, mit Wahrscheinlichkeit das Recht verspielt, an ihr zu bleiben, weil er die Beweislast für das, was zuvor nur Argument war, übernommen hat, während die Opposition Alternativargumente eben für diesen Fall anzubieten hat. Hier liegt weder die Macht in der Wahrheit noch die Wahrheit in der Macht. Macht heisst potentia – und sie muss es bleiben: Möglichkeit ist ihre Wirklichkeit. Es ist wiederum die falsche Leitvorstellung, Möglichkeiten «drängten» auf Realisierung, die Wahrheit darauf, erkannt zu werden, das Werkzeug zum Gebrauch, die Rüstung zur Schlacht. Es ist zwar noch kein moralischer Fortschritt, denjenigen, der einen Konflikt für unvermeidbar hält und drauf und dran ist loszuschlagen, dazu zu bringen, sich auszusprechen; aber wo Moral nie realisiert werden konnte, ist es vielleicht nicht der einzige und beste Weg, sie nur immer erneut zu fordern oder unter dem Stichwort «Reethisierung» mit einer trügerischen Romantik zu suggerieren, es habe sie dort einmal schon gegeben, sondern die Realität selbst, der da vergeblich so lange etwas abverlangt wurde, infrage zu stellen.
Machiavellis Trennung von Ethik und Politik ist durch die zynischen Maximen seines Fürstenspiegels ins Zwielicht geraten. Wenn er dem neu zur Macht aufgestiegenen Fürsten in einem Atemzuge so grundverschiedene Ratschläge geben kann wie den, kein Mitglied des angestammten Fürstenhauses am Leben zu lassen, und den, an den Gesetzen und den Steuern nichts zu ändern, so erscheint uns dies freilich als unerträglich. Aber dieser Typus von politischer Technik ist nicht nur auf die Praxis von Gift und Dolch abgestellt, sondern lässt auch schon die Entfaltung derjenigen Rationalität erkennen, die sich damit begnügt, bestimmte Handlungen zu unterlassen oder zu verhindern oder zu simulieren. In Machiavellis Trennung von Ethik und Politik steckt auch, so paradox das klingen mag, die Konsequenz einer Theorie des politischen Minimums. Der Übergang in die verbale Modalität setzt voraus, dass Handlungen auf diesem Felde nicht mehr so heilig sein können, dass sie nicht durch Quasihandlungen «umbesetzt» werden könnten. Den politischen Nominalismus, der dabei herauskommt, kann nur scheuen, wer den Realismus als segensreich zu behaupten riskiert.
Natürlich liegen auch Demagogie und Propaganda – eine Technik eher der grossen als der blossen Worte – auf dieser Linie. Aber ebenso ist lange erkennbar geworden, dass es eine solide Technik zumindest der Vorschaltung von Reden vor Handlungen, von Informationen vor Interventionen, wenn nicht der Ersetzung dieser durch jene gibt. Den Irrtum, die Fehleinschätzung der Absichten und Potenziale und damit die irreversible Handlung eines potentiellen Gegners zu verhindern, diesen so lange wie möglich als einen Konkurrenten im rational planenden Denken zu betrachten, sich mit ihm auf Signale über gemeinsame Denkstrukturen einzuspielen und ihn wissen zu lassen, was und wie man selbst denkt, ist zum Inbegriff politischer Strategie geworden, einer Strategie, die Politik mit anderen Mitteln als denen des Wortes nicht mehr zulassen kann. Der Sinn gewaltiger technischer und wirtschaftlicher Anstrengungen besteht zu einem guten Teil darin, den Worten, den Informationen, den Signalen ihre Glaubwürdigkeit zu verschaffen und zu erhalten. Natürlich ist es selbst ein Spiel mit Worten zu sagen, dass hier also die Worte Handlungen seien und nicht «nur» Worte. «How to do things with words» heisst ein wichtiges Buch von J. L. Austin – vielleicht muss ein anderes noch geschrieben werden: «How to do nothing with words».
Die Idee einer «offenen Welt» kann sich durchsetzen, sie ist wahrscheinlich schon dabei, es zu tun. Und zwar nicht nur deshalb, weil die Niederlagen der Geheimhaltung offenkundig, die Instrumentarien technischer Aufklärung allgegenwärtig geworden sind und weil die innere Logik wissenschaftlicher und technischer Prozesse in isolierten Systemen praktisch ein Äquivalent der ausgeschalteten Kommunikation ergeben hat, sondern auch und vor allem weil die Verfügbarkeit von Information sich als wichtigster Faktor zur Vermeidung von Krisen erwiesen hat. Schlechte Kalkulierbarkeit von Risiken war einer der Hauptgründe vieler grosser Krisen. Eine durchsichtiger und durchlässiger gemachte Welt wird die Pokermentalität in der Typologie des Politikers anachronistisch werden lassen. Spielregeln des gegenseitigen Sichwissenlassens, ohne dies wissen zu lassen, haben sich ausgebildet. Mächte, die sich wie Feinde im klassischen Stil dämonisieren, verhöhnen, bedrohen, haben unterhalb der Ebene der offiziellen Rhetorik ständige Kontakte, wie die USA und China in Warschau. Sogar eine Umwertung der grossen Spionagefälle als einer Art von Ökonomie der unfreiwilligen Information hat sich angebahnt, jedenfalls wenn man bemerkt, wie bei Aufrechterhaltung drastischer Strafbestimmungen die Folgen durch Austausch der Akteure aus der Welt geschafft werden. War früher auch der eigene Mann im anderen Lager ein kaum honoriges Subjekt, so kann er heute nach getaner Arbeit als eine Art Held der vorweggenommenen Information vorgezeigt und dekoriert werden. Man will nicht nur sicher vor Überraschung sein, sondern den anderen auch wissen lassen, dass man es ist. Die Unwahrscheinlichkeit der grossen Geheimnisse will demonstriert, die Synchronisation im Ausbau der Potenziale verifiziert sein. Eine Vereinbarung über den «offenen Himmel» konnte zwischen den Weltmächten nicht zustande gebracht werden; aber schon wenige Jahre später begannen Aufklärungssatelliten eben diese Arbeit zu leisten, und erstaunlicherweise ist es niemals zu einer dem U-2-Zwischenfall vergleichbaren Reaktion oder auch nur zu einem deutlichen Protest gekommen. Auch die Publizistik leistet entlang dem «Abgrund von Landesverrat» Ähnliches: Sie erschwert den Regierungen jeden Versuch, Schicksalsmächtigkeit auszuüben und unter nicht objektivierbaren Voraussetzungen Kabinettspolitik zu betreiben. Die Unsicherheit hinsichtlich dessen, was künftig noch mit dem strengen Interdikt des Verrats belegt werden kann, ist symptomatisch dafür, dass der Aggregatszustand der politischen Wirklichkeit in Veränderung begriffen ist.
Die Wirklichkeit, auf die man sich beruft, wenn man politischer «Realist» zu sein beansprucht, gewinnt ihren Ernst und ihre Verbindlichkeit erst dann, wenn der Staat in seinem eigenen Anspruch auf Realität nicht mehr mit ihr konkurriert, wenn er nicht mehr die Notwendigkeit zu sein vorgibt, der er doch nur zu genügen hat. Das wird deutlich, wenn die Entscheidungen, die heute möglich geworden sind, als politische nicht mehr getroffen werden können. Es ist dies, was man einen Substanzverlust nennt; ob mit Recht Verlust, sollte infrage gestellt werden, ob mit Recht Verlust von Substanz, bleibt an die hier thematische Voraussetzung des Wirklichkeitsbegriffs und seiner Konstanz gebunden.
Wenn nicht die Bedingungen gezeigt werden können, unter denen der Weltfriede als Resultat einsichtiger Prozesse erreichbar würde, gerät diese unverzichtbare Norm aus der Resignation gegenüber ihrer Durchsetzbarkeit in die Nähe eschatologischer Hoffnungen, die immer bedeuten, dass erst der Untergang der Welt eine neue Welt möglich macht. Wenn aus diesem Schema religiöses Vertrauen ausgetrieben ist, lässt es sich umdenken in die magische Formel, dass die Zerstörung des Bestehenden die Qualität des Kommenden verbürge. Nun darf man nicht aus dem Auge verlieren, dass die Depotenzierung des Staates nicht mehr ermöglichen kann als einen Frieden von gleichsam technischer Qualität. Sein Imperativ wäre hypothetisch, nicht kategorisch. Er würde als Bedingung für anderes gewollt. Aber was wäre dieses andere?
Der Gedanke, man müsse die Menschen zuerst glücklich machen, dann würden sie ganz von selbst auch friedlich, ist tief in der utopischen Tradition verwurzelt. Aber er setzt schon voraus, dass die Wirklichkeit des Staates nicht von derart autonomer Dichte wäre, um sich dem Friedenswillen der Bürger entziehen zu können. Der Mangel dieser Voraussetzung zwingt dazu, die Friedensproblematik als eine Sache technischer Vernunft wie eine Vorfrage zu dem zwar wesentlicher, aber kaum akuter anmutenden Thema zu behandeln, wie denn eine Menschheit im Frieden leben werde, was sie aus der ihr technisch vermittelten Chance machen könne. Die Unvermeidlichkeit des Friedens ist nicht seine Gewissheit, aber auch noch nicht seine Attraktivität für die menschliche Glücksphantasie. Die Utopie impliziert nicht die Rationalität; sie muss sie überbieten, ohne sie dabei zu zerstören. Es gibt Grund, an diese Zuordnung zu erinnern. Einer hochfliegenden Imagination menschlicher Möglichkeiten muss es als Verrat an der Utopie erscheinen, wenn als rationale Konsequenz für möglich gehalten wird, was doch nur als humane Anstrengung mit der emphatischen Gebärde der grossen Änderung verwirklicht werden sollte. Die Verflechtung der beiden Probleme muss aufgelöst werden. Die Utopie kann nicht den Frieden verheissen, da er doch ihre Bedingung ist; der Weltfriede bringt nicht schon als solcher das Weltglück der Menschheit. Denn er ist nur der erste Schritt, um an diesem nicht verzweifeln zu müssen. Es ist erschreckend, wie wenig Probleme des Menschen durch den Weltfrieden gelöst werden; dennoch ist er das Problem der Probleme. Begeisterung, Entfachung der konstruktiven Kräfte kann freilich nur bewirken, was nach dem gewonnenen Frieden kommen könnte. Solche Zukunft wird jede Gegenwart infrage stellen, aber das darf nicht bedeuten, ihr die Wahrnehmung des Minimums an rationalen Erwartungen zu versagen, die sie sich zurechnen kann.
Auch wenn man darauf besteht, dass die Norm des Friedens nicht Bestandteil einer Utopie sein kann, weil sie als Bedingung der Möglichkeit von Entwürfen glücklicher Zustände die Evidenz besitzt, die jedem dieser Entwürfe versagt bleiben muss, ergibt sich dennoch ein wichtiger Zusammenhang zwischen Utopie und Friedensproblem, nachdem in der Neuzeit utopisches Denken wesentliche Instanz für die Kontingenz des Staates, also gegen das platonische Moment in der Staatstheorie, geworden ist. Aber diese geschichtliche Funktion, die die Utopie zugunsten der Möglichkeit des Weltfriedens hat, darf die Differenz nicht verwischen, dass das Problem des Friedens unter der Voraussetzung der Konsistenz mit den gegenwärtig bestehenden Gegebenheiten betrachtet werden muss, weil die Annäherung an diesen notwendigen Zustand erfordert, «dass jede Zwischenform, jede Übergangsphase, in sich existenzfähig sein muss»19. Man mag eine Mutation des Menschen fordern können, damit alle Menschen glücklich werden, aber man kann nicht auf der Forderung nach einer radikalen Änderung der menschlichen Gesinnung ansetzen, um jenes Unvermeidliche zu erreichen, dass die Menschheit ihre blosse Existenz bewahrt. Die Utopie hält jeder Realität die Möglichkeiten vor, die sie ausgeschlagen hat, und gibt dadurch den Zuständen und Institutionen die Anstössigkeit der Kontingenz alles nur Tatsächlichen. Die Realität gesteht ihre Kontingenz nie an sich selbst ein, sondern verbirgt sie, indem sie sich den Ausweis der zwingenden Konsistenz verschafft. Indem die Neuzeit sich durch einen Begriff der Konsistenz ihrer Geschichte, nämlich den des Fortschritts, selbst zu bestimmen suchte, erwehrte sie sich der Infragestellung nicht nur durch die theologische Transzendenz, sondern auch durch die Transzendenz der Utopie. Als ständige Verwirklichung von Möglichkeiten lässt der Fortschritt vergessen, dass dies doch immer nur die in der Verlängerung einer gegenwärtigen Wirklichkeit liegenden Möglichkeiten sind. Die literarische Spezies der Utopie wird aus ihrer ursprünglichen Funktion verdrängt, sobald sie für den Fortschritt in Dienst genommen wird: Ihre Transzendenz wird als Schein der Auslassung einer Zeitstrecke gedeutet und dadurch in die Immanenz der einen Zeit zurückgeholt. Die Zukunftsutopie als Extrapolation dessen, was ohnehin kommen muss, vermag Optimismus oder Resignation zu erzeugen, aber beides als Einstellungen, die die Geschichte sich selbst zu überlassen geneigt sind. Insofern ist die Verdrängung der exotischen Utopie durch die Zukunftsutopie, der sozialen durch die technische, ein Vorgang des Funktionsschwundes, weil darin der Wirklichkeitsbegriff der Konsistenz mit der Kategorie des Fortschritts übernommen wird. Dass die utopische Provinz ihren Namen nach keinen Ort hat, meint gerade, dass sie ausserhalb des Kontextes der Realitäten steht.
Sie bleibt daher auch in eigentümlicher Weise unbetroffen durch das, was Hegel in der Vorrede zur «Rechtsphilosophie» in Ablehnung aller Versuche, den Idealstaat zu entwickeln, sagt: Um zu «belehren, wie die Welt sein soll», komme «ohnehin die Philosophie immer zu spät». Die Utopie kann freilich nicht belehren, wie die Welt oder wie der Staat sein soll, aber doch, dass sie nicht so sein müssen, wie sie sind, dass das Bewusstsein ihrer Selbstverständlichkeit anfechtbar ist. Die Kontingenz, die aus der Utopie folgt, ist die Antithese zur Evidenz der Idealität, aus der die Metaphysik den Kosmos abgeleitet hatte. Diese unausweichliche und den Raum der Möglichkeit ausfüllende Ordnung – das haben schon die Gnostiker empfunden – konnte tyrannisch werden, das Bewusstsein der Gefangenschaft und der Erlösungsbedürftigkeit erwecken oder auf den Ausweg der Flucht in die private Mystik verweisen. Für den Staat, der sich auf seine kosmische Dignität berufen wollte, galt die Gefahr dieses Umschlages ins Zwanghafte nicht minder: Ihm konnte nicht bestritten werden, das Leben seiner Bürger bis auf den Grund in Anspruch zu nehmen. Die Alternative des Kosmos war das Chaos, und aus ihr erwächst jene Unausweichlichkeit, sich der gegebenen Ordnung zu fügen. Noch bei Hobbes ist dies die Struktur des Arguments, das die Unauflöslichkeit des Staatsvertrages und des daraus gefolgerten Absolutismus als den Inbegriff der Vernunft selbst demonstriert: Selbsterhaltung des Staates als elementare Definition aller politischen Akte ist die delegierte Selbsterhaltung der Individuen. Der einzelne tritt in den mythisch-präexistenten Vertrag ein wie in die Erbsünde, er soll sich als Rechtsperson immer schon preisgegeben haben und dennoch den gegen sich selbst gerichteten puren Zwang als Konsistenz eines von ihm zu verantwortenden Rechtszustandes legitimieren. So macht sich die Vernunft sogleich dem «Überschuss» dienstbar, den sie im faktischen Staat vorfindet, statt diesen von der Ökonomie des Unausweichlichen her zu problematisieren. Dennoch ist nicht die Rationalität dieses Modells der Staatsbegründung als solche zweifelhaft, sondern der Widerspruch zwischen dem Vertragsmotiv und der vermeintlich aus ihm notwendigen Preisgabe der Rechtspersonalität: Man kann sich nicht aufgeben müssen, um sich zu erhalten.
Jede rationale Argumentation, wie der Friedensnorm Genüge verschafft werden kann, wird eine formale Ähnlichkeit mit der Konzeption des Staatsvertrages haben: Wie der Staat die Rationalität der Individuen, denen der Naturzustand Untergang bedeuten würde, repräsentiert, so stellt die Sicherung des Friedens die Rationalität der Staaten dar, zu deren Untergang heute ein zwischenstaatlicher «Naturzustand» führen muss. Wenn die Staatstheorie der Neuzeit die Selbsterhaltung des Staates zum höchsten politischen Prinzip macht, wird sie sich nicht nur daran messen lassen müssen, ob sie in jedem ihrer theoretischen Schritte diesem Prinzip dient, sondern sie wird dafür beweispflichtig, dass sie ihm genügt. Dieses Kriterium gilt gerade für den auf der Ebene der Staaten wiederkehrenden «Naturzustand» des Rechtes aller auf alles und damit des absoluten Widerstreits der Bedingungen der Selbsterhaltung aller. Musste nicht dieselbe Rationalität, die die Individuen zu jenem pactum subiectionis als der Preisgabe ihres absoluten natürlichen Rechts motiviert hatte, auch auf der Stufe des absoluten Rechtes der Staaten zwingend werden? Das kann nur heissen: In der Konsequenz der Idee der Preisgabe von Rechten durch Verträge musste es einen Staatsvertrag der Staaten geben, wenn dem Zwang der Vernunft aus dem Prinzip der Selbsterhaltung Genüge getan werden sollte. Aber in diese Öffnung ihrer Konsistenz war die klassische Staatsvertragstheorie nicht vorgedrungen, und zwar deshalb, weil sie nicht das abstrakte Prinzip der Erhaltung des Staates, sondern das konkrete der Erhaltung bestimmter, aus den gegebenen physischen Einheiten der Völker und ihrer Territorien historisch hervorgegangener Staaten und Staatsformen vertrat. Als Konsequenz der Staatsvertragstheorie und in dieser Ausdrücklichkeit ist die Forderung nach dem «Staatsvertrag der Staaten» von Destutt de Tracy in seinem Montesquieu-Kommentar von 1819 ausgesprochen worden.
«Die Nationen sind hinsichtlich ihres gegenseitigen Verhältnisses in dem Zustande, worin sich Wilde befinden würden, welche zu keiner Nation gehören und durch kein Gesellschaftsband untereinander vereinigt sind und die also, um Schutz zu finden, keinen Gerichtshof anrufen und keine öffentliche Macht in Anspruch nehmen könnten. Es müsste sich wohl jeder seiner persönlichen Kräfte zu seiner Selbsterhaltung bedienen…» Den Staaten fehle untereinander, um zu einem Zustande der «vollendeten und organisierten Gesellschaft» zu gelangen, nur noch die Gründung eines gemeinsamen Gerichtshofes und einer übergeordneten Zwangskraft. Diese Zielsetzung sei zwar stets als ein Hirngespinst angesehen worden, aber von der Theorie des Staatsvertrages her gesehen sei dieser zweite Schritt zur Überwindung des «Naturzustandes» wahrscheinlich nicht einmal so schwierig, wie der erste gewesen sein müsse. Die Utopie ist hier in die Konsistenz des Fortschritts hereingeholt. Aber konnte nur der Logik vertraut werden? Wohl so lange nicht, wie der «Naturzustand» unter den Staaten die absolute Gefährdung aller durch alle noch nicht enthielt, die Hobbes für die Individuen vorausgesetzt hatte. Zumindest die Subjekte der Geschichte, die fiktiven Personalitäten der Staaten, konnten noch als jeden Krieg und jede Krise überlebend gedacht werden; das enthielt dem Gedanken der Wiederholung des Staatsvertrages seine zwingende Kraft vor. Nicht nur deshalb aber erschien es als undenkbar, dass der Akt der zweiten und endgültigen Überwindung des «Naturzustandes» dem ersten analog sein könnte; vielmehr war das Moment der Selbstpreisgabe an eine übergeordnete Gewalt das der letztgültigen Wirklichkeit des Staates schlechthin Widersprechende.
So konnte auch Kant in seinem philosophischen Entwurf «Zum ewigen Frieden» von 1795 über die Konstruktion eines rechtsstiftenden «Friedensbundes» souveräner Staaten nicht hinausgehen, obwohl er ausdrücklich sagt, sie müssten in ihrem Verhältnis untereinander als im «Naturzustand» befindlich betrachtet werden; die Fraglosigkeit der Hypostasierung des Staates wird nicht durchbrochen, indem jenes foedus pacificum wirksam werden soll, ohne dass die Staaten «sich deshalb (wie Menschen im Naturzustande) öffentlichen Gesetzen und einem Zwange unter denselben unterwerfen dürfen». Die Zukunft des grossen Friedens in der «Idee der Föderalität» als dem «Surrogat des bürgerlichen Gesellschaftsbundes» liegt zwischen, nicht über den Staaten. Die positive Vernunftidee einer «Weltrepublik» erweist sich zwar als logisch, nicht aber als historisch konsequent, weil sie bei dem einmal bestehenden Pluralismus der Staaten den Selbstwiderspruch gegen den einem jeden inhärenten Willen zur Selbsterhaltung voraussetzen würde. Hegel deduziert in der «Rechtsphilosophie»20daraus, dass der Staat «Individualität als ausschliessendes Für-sich-Sein» ist; Staaten seien nicht nur faktisch «im Naturzustande gegeneinander», sondern dieser Zustand bleibe unüberbietbar, denn «ihre Rechte haben nicht in einem allgemeinen zur Macht über sie konstituierten, sondern in ihrem besonderen Willen ihre Wirklichkeit». Diejenigen, die eine übergeordnete Gesamtheit auch nur von der Art eines Staatenbundes wünschen, «wissen wenig von der Natur einer Gesamtheit und dem Selbstgefühl, das ein Volk in seiner Unabhängigkeit hat». Wenn es den «Gang Gottes in der Welt» manifestiert, dass der Staat ist, dann ist dieser Absolutismus der Realität des Staates jedenfalls die Sackgasse für die Norm des Friedens, und konsequent kann der «Streit der Staaten… nur durch Krieg entschieden werden». Im Staat «etwas Technisches mehr als etwas Geistiges» zu sehen21, also etwas, was nach Hegel «nicht den emphatischen Namen eines Wirklichen verdienen» kann, öffnet zumindest wieder den Spielraum dessen, was «keinen grösseren Wert als den eines Möglichen hat». Es wird nochmals deutlich, was es heisst, den Wirklichkeitsbegriff als Fundament der Staatstheorie zu thematisieren und der kritischen Befragung auf seine Implikationen für die Friedensnorm auszusetzen. Die gleichsam abgebrochene Konsistenz der Staatsvertragstheorie ist dafür nur ein Demonstrationsmodell.
Die klassischen Staatstheorien haben die Schwäche, dass der Prozess der Konstitution des Staates in einem einzigen entscheidenden Schritt zu einer in sich konsolidierten Struktur führen soll. Dieses unausgesprochene normative Erfordernis hat selbst die Rezeption der Staatsphilosophie Montesquieus zur Dogmatik der Gewaltenteilung erstarren lassen und sie in eine Reihe mit anderen «Bauplänen» gerückt. Aber jede Lektüre des «Esprit des lois» zeigt, dass es hier nicht darum geht, die Heraufkunft des Staates aus dem vorstaatlichen Zustand zu beschreiben, sondern den immer schon vorgefundenen historischen Staat auf die Masse humaner Erträglichkeit zu bringen. Montesquieus Abneigung gegen die Staatsvertragstheorie beruht darauf, dass es ihm nicht darum ging, den Staat zu begründen und zu «bauen», sondern darum, die genuine Dynamik der Macht aufzufangen und zu hemmen. Der Trieb zur Machtausübung erschien ihm als die vorgegebene, als Natur in die Geschichte eingebrachte Energie, und nichts war zu unbedeutend und gering, was dieser Energie entgegengesetzt werden konnte. Noch dem Despoten könne gelegentlich menschliche Rührung Einhalt gebieten – so wie dem Meere, das die ganze Erde überfluten zu wollen scheine, auch kleinste Hindernisse am Strand, Kiesel und Gräser, Widerstand bieten22. Höhnend hat Voltaire dieses Gleichnis zerschlagen. Lakonisch merkt er an, was das Zurückfliessen des Meeres bewirke, seien nicht Gräser und Kiesel, sondern das Gesetz der Gravitation.
Solcher Zusammenprall elementarer Metaphern lässt mit Erschrecken verspüren, wie die konstruktive Schwäche des Gedankens den Kritiker zur härtesten Anschaulichkeit provoziert: Was einmal den Typus des Naturereignisses annimmt, schliesst noch den geringsten Spielraum des Wortes und der humanen Affektion aus. Die Richtigstellung des Bildes, die Berufung auf das Naturgesetz, rückt den Gedanken der Moderation des Staates ins Irreale. Fast wie eine Illustration auf den Widerstreit der Metaphern ist die erste Spur der Friedensproblematik, die sich bei Kant 40 Jahre vor dem Friedenstraktat findet. Im November 1755 schreckt die Nachricht vom Lissaboner Erdbeben mit seinen 30 000 Toten Europa auf; Kant greift dreimal zur Feder, um seinen Mitbürgern das Ereignis zu erklären, es noch einmal mit der Theodizee der deutschen Aufklärung zu versöhnen. Aber zugleich zieht der Krieg, der ein siebenjähriger werden sollte, ins Land, als Kant 1756 seine «Geschichte und Naturbeschreibung des Erdbebens» abschliesst. Der letzte Satz hat seinen Adressaten, den preussischen König, dem Kant eben noch die «Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels» gewidmet hatte: «Ein Fürst, der, durch ein edles Herz getrieben, sich durch diese Drangsale des menschlichen Geschlechts bewegen lässt, das Elend des Krieges von denen abzuwenden, welchen von allen Seiten überdem schwere Unglücksfälle drohen, ist ein wohltätiges Werkzeug in der gütigen Hand Gottes und ein Geschenk, das er den Völkern der Erde macht, dessen Wert sie niemals nach seiner Grösse schätzen können.» Der Flut wirft Kant sein Steinchen entgegen, appelliert mit der Naturkatastrophe gegen die politische, aber sein Argument sind die «Drangsale des menschlichen Geschlechts».
Erschienen: Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Band (Jahr): 48 (1968-1969), Heft 2
Nietzsche, Zur Genealogie der Moral II 13. ↩
P. Winch, Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie. Frankfurt 1966, 56. ↩
Th. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen. Berlin 1918, 121. ↩
<Souveränität> istt hier im Sinne der Definition von Carl Schmitt: «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.» (Politische Theologie. München 1934, 11 [1922].) Aber die politische Qualität, die sich erst im extremen Zustand «rein» darzustellen vermag, tendiert darauf hin, nicht mehr auf das faktische Eintreten dieser Bedingung angewiesen zu sein, sondern das Definitionsrecht für das, was extrem ist, in die Hand zu bekommen. Dieser conceptus terminator ist dem Politischen nicht essentiell, aber essentiell attraktiv. Darin liegt der Zusammenhang von Wirklichkeitsanspruch und Friedensproblematik. Die Frage nach der Kompetenz für das, was jenseits geregelter Kompetenzen liegt, ist nicht mehr ein Problem innerhalb der politischen Realität, sondern der Konkurrenz heterogener Realität mit der politischen. Hier wird jeder Widerstand gegen eine Komparativierung beginnen müssen. ↩
Machiavelli und Galilei: E. Cassirer, The Myth of the STate. 1946. Dt. Übers. Zürich 1949, 180 ff. Galilei und Grotius: E. Carisser, DIe Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, 324 ↩
So in der <Flüchtigen Schilderung florentinischer Zustände> Goethe im Anhang zu seiner Übersetzung des Benvenuto Cellini (Artemis-Ausg. 15, 883). ↩
Il Principe c. 6 ↩
Il Principe c. 15. ↩
Diderot, Pensées philosophiques 32. ↩
Neuerdings hat auch quellenkritische Analyse die <Utopia> aus der Zuordnung zur platonischen Tradition und Rezeption herausgerückt (H. Süßmuth, K. H. Gerschmann). Was bei Morus platonische Abhängigkeit bezeugt, fällt in die letzte Phase der Entstehung des Werkes und ist bereits ein Stück Selbstinterpretation in Richtung auf den Gedanken der «Konkurrenz» mit Platos <Staat>. Solche Stilisierung hat die Leser des schnell zum Erfolg kommenden Buches auf den Eindruck platonischer Nachfolge fixiert. Aber die Unterstellung einer Tradition dient der Betonung des Konkurrenzgedankens: schon der ersten Ausgabe ist ein lateinisches Gedicht vorangestellt, in dem der utopische Staat als möglicher Sieger über den platonischen gepriesen wird, und der darauf folgende Geleitbrief des Petrus Ägidus empfiehlt die <Utopia> als einen für alle Menschen wichtigeren Besitz als den des platonischen Werkes. ↩
<Isthmum perfodere> gehört zu den Proverbien, die Erasmus von Rotterdam – seit 1499 zum Freundeskreis des Thomas Morus gehörig – in den <Adagia> behandelt. (Opera II 1030 BD.) Zur Formel <inviolata terra> vgl. das bei Varro überlieferte Dikaiarch-Zitat (ed. Wehrli, fr. 48). ↩
C. F. von Weizsäcker, Friede und Wahrheit. In: Die Zeit 26/1987. ↩
Bergedorfer Gespräche zu Fragen der freien industriellen Gesellschaft Nr. 24, 1966. ↩
MEGA I 1/2, 308. ↩
Confessions IX (1756). ↩
Schiller an Goethe, 19.1.1798. ↩
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 257/258. ↩
C. F. von Weizsäcker, Bergedorfer Gespräche Nr. 24, S. 12. Dieses wichtige Prinzip jeder Erörterung des Friedensproblems bezeichnet v. Weizsäcker als «Spezialfall des sehr allgemeinen Satzes aus der darwinistischen Evolutionstherie …, daß nur diejenigen Lebewesen heute existieren können, deren sämtliche Vorfahren zu jeder Stunde der vergangenen Geschichte lebensfähig waren» (a.a.O. S. 9). ↩
§§ 322, 333, 334. ↩
Th. Mann, Betrachtungen… 121. ↩
Esprit des Lois II 4 (éd. Didot, 1846, p. 198 mit der Note Voltaires). ↩