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«Wir wollen ein Grundproblem der Chirurgie lösen»
Daniela Marino will mit ihrem Start-up Cutiss die Hautchirurgie revolutionieren. Ihr Ansatz könnte dereinst auch für den Kosmetikbereich interessant werden.
Das vollständige Interview ist auch als Video verfügbar.
Daniela Marino erscheint in bester Laune zum Interviewtermin. Zur Begrüssung gibt es ein High five. Marino ist CEO des Schweizer Life-Science-Unternehmens Cutiss, das personalisierte, biologisch hergestellte Haut anbietet. Die Firma hat soeben die Zulassung für die letzte klinische Phase erhalten.
Daniela Marino, auf LinkedIn schreibt ihr: «Wir stehen an der Schwelle einer technologischen Revolution im Bereich der regenerativen Medizin.» Wie muss ich mir diese Revolution vorstellen?
Daniela Marino: Wir stellen Haut für Verbrennungsopfer im Labor her, und zwar «on demand». Das Revolutionäre an dieser Herangehensweise ist, dass die Haut, die wir produzieren, auf dem Patienten bleiben kann und nur wenige Narben hinterlässt. Die derzeitigen Standardmethoden in der Hautchirurgie hinterlassen vernarbte Patienten. Dies hat teils gravierende Nachteile. Für dieses Grundproblem der Chirurgie wollen wir eine Lösung bieten.
Beim Thema Narbenbildung geht es um weit mehr als nur Kosmetik. Auch die Mobilität oder das Wachstum der Haut können beeinträchtigt sein.
Genau. Insbesondere für Kinder ist es megaschwierig. Die Schmerzen, die eingeschränkte Bewegungsfreiheit, das Wachstum. Grosse, vernarbte Hautflächen können ein normales Leben verunmöglichen und sind eine enorme Belastung. Die Patienten brauchen eine Vielzahl von Behandlungen. Salben, Lotionen, Laser- und Physiotherapien, Rehabilitationen – und das ein Leben lang.
Die Haut ist das grösste Organ des Menschen. Was fasziniert dich daran?
Die Haut ist ein wichtiges Organ. Ohne diese Schutzschicht können wir nicht leben. Und im Gegensatz zu anderen Organen können wir es sehen und fühlen. Während meiner Doktorarbeit an der ETH war ich von Dermatologen umgeben. Wir haben immer über die Haut gesprochen. Dort bin ich quasi auf die Haut gekommen.
Wie ist die Idee zu Cutiss entstanden?
Das war 2014, als wir einen grossen Grant der Europäischen Kommission erhalten haben. In diesem Kontext besuchte ich auch verschiedene Kurse etwa zum Erstellen von Businessplänen. Da dämmerte mir langsam, dass wir vielleicht nicht nur einfach an einem Projekt arbeiten, sondern hier ein potentiell marktfähiges Produkt vor uns haben. Dieser Gedanke hat mich nicht mehr losgelassen. Wir mussten aber noch Studien machen, Mitgründer und Kapital finden, bevor wir Cutiss dann 2017 gegründet haben.
Ist man nach bald acht Jahren eigentlich immer noch ein Start-up?
Da gibt es keine Regel (lacht). Start-up bedeutet Unternehmertum, Risiko einzugehen und Innovationen voranzutreiben. Sagen wir es mal so: Wir sind ein Start-up in der Spätphase.
Weltweit gibt es jedes Jahr Millionen Menschen, die an Hautdefekten leiden und eine Hauttransplantation benötigen, die meisten davon sind Verbrennungsopfer. Wie werden Verbrennungen konventionell behandelt?
Der Chirurg entnimmt gesunde Haut, welche dann auf die Wunde transplantiert wird. Zur Behandlung einer bestehenden Wunde kreiert man also eine neue. Diesen Prozess nennt man «Autografting». Bei grossen Verbrennungen gibt es oft nicht genug gesunde Haut, sodass von ein und derselben Stelle mehrmals Haut entnommen werden muss. Ein anderes Problem ist, dass die entnommene Haut sehr dünn, die Wunden aber sehr tief sind. Man hat also ein Problem punkto Quantität und Qualität.
Welche Vorteile soll euer Ansatz bringen?
Wir wollen mit Bioengineering, also im Labor hergestellter Haut, eine Lösung auf den Markt bringen. Unser Vorteil: Wir können sehr viel Haut produzieren. Die entnommene gesunde Haut in der Grösse einer Briefmarke können wir um mindestens den Faktor 100 vergrössern. Dafür brauchen wir rund drei bis vier Wochen.
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Haben Verbrennungsopfer diese Zeit?
Ja. Unsere Patienten haben grosse, tiefe Verbrennungen, welche lange Spitalaufenthalte zur Folge haben. Aber wir müssen schnell arbeiten. Die Biologie braucht ihre Zeit. Wir mischen ja nicht bloss Zellen mit Kollagen – wir machen Haut! Bei kleinen und oberflächlichen Verbrennungen reicht die Zeit hingegen nicht. Aber das ist nicht unsere Zielgruppe.
Ist der Übergang von der Hautchirurgie zum Beauty- und Kosmetikbereich fliessend? Oder anders gefragt: Kann das ein künftiges Geschäftsfeld sein?
Unser Fokus liegt zurzeit klar bei den grossen Verbrennungen und Hautdefekten. Aber ja, bei der Haut gibt es immer auch eine ästhetische Komponente. Wir haben bereits Erfahrungen in der rekonstruktiven Chirurgie und der Entfernung von Narben und Muttermalen gemacht. Auch Tattoo-Entfernungen können dereinst zum Thema werden.
DenovoSkin, so heisst euer Flagship-Produkt, befindet sich in der späten klinischen Phase. Was passiert da genau?
Ende 2024 haben wir grünes Licht von der EU-Zulassungsbehörde zum Start der klinischen Phase drei erhalten. Das ist ein Meilenstein für uns! Die klinische Studie wird in acht Ländern stattfinden. Die Schweiz kommt später hinzu. Es ist dies die letzte, grösste und schwierigste Phase vor der Marktzulassung.
Wenn alles gut läuft, wann wird DenovoSkin auf dem Markt sein?
In frühestens drei bis vier Jahren. Die regulatorischen Anforderungen sind hoch und die klinischen Versuche dauern lange. Das ist normal im Bereich der Life Sciences.
Geduld ist also gefragt. Unternehmer haben ja gewiss auch noch andere Qualitäten, als geduldig zu sein …
Allerdings (lacht). Man muss widerstandsfähig, hartnäckig sein und auch einstecken können. Dies aber stets – und das ist zentral – in Kombination mit Optimismus, einem Vorwärtsdrive, Leidenschaft, Kreativität und leider eben auch mit viel Geduld.
«Man muss hartnäckig sein und auch einstecken können. Dies aber stets in Kombination mit Optimismus, einem Vorwärtsdrive, Leidenschaft und Kreativität.»
In den USA wurde ein 4-jähriger Junge mit starken Verbrennungen mit DenovoSkin behandelt. Der behandelnde Arzt beschreibt euer personalisiertes Vollhauttransplantat als einen Schritt in Richtung «heiliger Gral» der rekonstruktiven Chirurgie, der die Hautchirurgie sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen verändern könnte.
(Flüstert) Das war toll! Diese Worte tun gut und sind für uns ein Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Zu Beginn gab es auch viele kritische Stimmen. Es gäbe schon zahlreiche und billigere Produkte, warum ich mir das antue. Nun, in Phase drei angekommen, haben die Leute verstanden, dass wir hier wirklich etwas ganz Neues machen.
Gab es für Cutiss auch kritische Momente, in denen du dich gefragt hast, ob du weitermachen sollst?
Kritische Moment gab und gibt es immer. Haben wir genug Geld, genug Ressourcen? Haben wir die richtigen Partner, wie entwickelt sich der Markt, wie die Konkurrenz? Es gibt immer viele Fragen. Wir beantworten sie eine nach der anderen, dann gehen wir weiter. Ans Aufhören habe ich nie gedacht.
Trotz kapitalintensiver Forschung und Entwicklung wollt ihr kein Luxusprodukt sein.
Genau. Unsere Produkte sollen für möglichst viele Menschen auch in ärmeren Ländern zugänglich sein. Das ist unser langfristiges Ziel.
Cutiss ist ein Spin-off der Universität Zürich. Habt ihr Hilfe bei der Gründung und beim Aufbau der Firma erhalten?
Ja, es gab vielfältige Unterstützung von verschiedenen Seiten. Vom Kinderspital der Universität Zürich, Innosuisse, Wyss Zurich, Unitectra oder Venturelab, um nur einige Institutionen zu nennen. Alle haben wertvolle Dienste geleistet. Zum Beispiel in den Bereichen Mentoring, Caching, Netzwerke, dem Erstellen des Businessplans, einer Roadmap oder mit Beratungen das komplexe regulatorische Umfeld betreffend. In der Schweiz gibt es ein enorm grosses Ökosystem für junge Unternehmer. Das ist megatoll.
Was bräuchte die Schweiz, um noch unternehmerfreundlicher zu werden?
Am Anfang gibt es viel Unterstützung. Diese nimmt dann aber schnell ab, wenn die Firmen grösser werden, vielleicht zu schnell. Für die Schweiz wäre es wichtig zu verstehen, dass dies dazu führen kann, dass Firmen in einer späteren Phase abwandern, zum Beispiel in die USA.
Weisst du von solchen Fällen?
Ja. Firmen gehen dorthin, wo sie die besten Bedingungen vorfinden.
Was ist in den USA besser?
In unserer Branche ist in den USA sehr viel Expertise vorhanden. Und der Zugang zu Risikokapital ist einfacher. Beides ist zentral in einer späteren Wachstumsphase. Die Schweiz hat aber eine tolle Ausgangslage und eine riesige Chance. Wir sind nicht die Europäische Union, haben mehr Gestaltungsraum, den wir auch nutzen sollten. Die Schweiz könnte ein echter Hotspot für Innovation sein. Dies nicht nur zu Beginn auf den Stufen Ausbildung, Forschung und bei den Patenten, dort ist die Schweiz heute schon Weltklasse, sondern auch in einer späteren Marktphase. Hier kann die Schweiz noch zulegen. Ich bin zuversichtlich, dass die Schweiz das schaffen kann.
Was bereitet dir zurzeit am meisten Kopfzerbrechen?
Ich habe jetzt eine Firma mit 50 Leuten, da spüre ich schon Druck und Verantwortung auf meinen Schultern. Dieses Gefühl macht mich einerseits stark. Anderseits ist es immer präsent. Ich muss jeden Tag parat sein.
Woher nimmst du deine Energie?
Ich weiss nicht (lacht). Ich komme aus Süditalien. Und bin Mutter zweier Kinder. Da muss man zwangsläufig abschalten können. Und das ist gut so. Ich bin mir sicher, dass ich ohne Kinder schon längst ein Burn-out gehabt hätte.
Du hast Biotechnologie in Mailand studiert und am Pharmazeutischen Institut der ETH doktoriert. Naturwissenschaften sind bei vielen Frauen nicht besonders beliebt. Warum ist das so?
In der Biologie gibt es viele Frauen. Viele Frauen lieben auch die kreative Arbeit im Labor. Aber es gibt zu wenige Frauen, welche eine Firma gründen. Wir brauchen mehr Frauen in der Start-up-Welt! Dazu muss Unternehmertum schon früh gelehrt und erlernt werden. Ebenso sollte die Kinderbetreuung verbessert werden. Dann werden sich die Dinge ändern!
Was rätst du jungen Frauen, die Unternehmerinnen werden möchten?
Ich sehe häufig, dass Frauen zu lange warten. Wir Frauen haben ein anderes Gehirn. Sicherheit und Planbarkeit sind uns wichtiger. Viele Frauen wollen alles zuerst parat haben, alles planen, das Timing muss stimmen, auch die Familie betreffend, und das Risiko darf nicht zu hoch sein. Erst wenn das alles gegeben ist, sind Frauen vielleicht bereit, eine Firma zu gründen. Aber so geht das nicht! Zuwarten kann bedeuten, dass deine Idee von jemand anderem umgesetzt wird. Männer sind da spontaner und impulsiver unterwegs. Die legen einfach los.
Hast du selbst Patientenkontakt?
In der Vergangenheit schon. Im Moment weniger.
Wie oft bist du im weissen Labormantel anzutreffen?
Nur für Pressetermine (lacht). Manchmal vermisse ich die Arbeit im Labor.
Arbeitet ihr mit Tierversuchen?
Ja, wir müssen. Wir machen Wundheilungsstudien an Mäusen. Die so gewonnenen Daten sind für die Marktzulassung unablässig. Mir ist es wichtig zu betonen, dass wir nicht einfach machen, was wir wollen. Wir machen, was die regulatorischen Behörden von uns verlangen. Und dazu gehören zurzeit auch Tierversuche.
Die Life-Science-Industrie ist hochreguliert, was wohl auch sinnvoll ist, da die Produkte an den Menschen gelangen. Wie viele Anwälte beschäftigt ihr, um euch selbst und die Firma rechtlich abzusichern?
Wir haben einen Anwalt. Das war eine meiner ersten Amtshandlungen als Unternehmerin. Im Moment hat der aber gar nicht mal so viel zu tun. Ich spasse nur (schmunzelt). Wir haben grosse Pläne, wir behandeln Patienten, wir machen klinische Studien – da müssen wir rechtlich abgesichert sein.
Sucht ihr zurzeit neue Investoren?
Ja. Das ist eine fast permanente Aufgabe.
Und wie läuft die Investorensuche?
Einfach ist es nicht. Aber es läuft ganz gut. Bis jetzt haben wir rund 90 Millionen Franken weltweit und von verschiedenen Investoren generiert. Momentan läuft eine weitere Runde zur Finanzierung der Phase drei.
Unterscheiden sich Investoren in ihrer Herangehensweise nach Herkunft?
Es gibt schon gewisse Unterschiede. Investoren aus Grossbritannien sind mehr an Finanzkennzahlen interessiert. In Italien zum Beispiel liegt der Fokus mehr auf der Einzigartigkeit des Produktes. Generell ist man in Europa weniger risikofreudig als in den USA. Bei europäischen Kapitalgebern ist neben der Firma und Innovation immer auch der Unternehmer als Person von grosser Bedeutung. Das spüre ich in den USA weniger.
«Bei europäischen Kapitalgebern ist neben der Firma und Innovation
immer auch der Unternehmer als Person von grosser Bedeutung. Das spüre ich in den USA weniger.»
Wie viel Risiko bist du persönlich eingegangen?
Viel, sehr viel (lacht). Ich habe fast alles, was ich habe, in die Firma investiert. Das ist «part of the game».