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«Wir wollen alle immer zu den Guten gehören»

Revolutionäre Ideen haben es schwer. Der Wissenschaftsbetrieb lässt zu wenig Raum für Querdenker und ihre riskante Forschung. Der Wissenschafter Gerd Folkers über den akademischen Herdentrieb, romantische Verklärung – und echte Innovation.

«Wir wollen alle immer zu den Guten gehören»

Herr Folkers, Sie haben das Privileg, am Collegium Helveticum dem wissenschaftlichen Mainstream zu entkommen und sich in aller Ruhe neuen Ideen widmen zu dürfen…
…es wäre schön, wenn dem so wäre! Die Vorstellung von der stillen Reflexionskammer ist falsch, da muss ich Sie leider enttäuschen. Ich kann mich den Sachzwängen des akademischen Lebens ebenso wenig entziehen wie den dominierenden wissenschaftlichen Strömungen.

Das Collegium hat sich immer wieder kritisch mit den Neurowissenschaften auseinandergesetzt. Wie stehen Sie zur Strömung, die das Gehirn zum allumfassenden Erklärungsmodell menschlichen Daseins stilisiert?
Die angebliche Allmacht der Neurowissenschaften ruft zuerst einmal ein Schmunzeln hervor. Man muss das unaufgeregt betrachten. Niemand, der ernsthaft Wissenschaft betreibt, würde sich zur Behauptung versteigen, dass man aus farbig punktierten Karten des Gehirns den emotionalen Zustand einer Person ablesen kann. Die Überschätzung ist vor allem ein Medienphänomen. Neurowissen-schaftliche Befunde werden von aussen oft grotesk überbewertet, um irgendwelche Mythen zu bedienen – Mythen verkaufen sich gut.

Tatsache ist, dass praktisch alle Forschungsfelder mitmachen. Alles ist Neuro – von der Pädagogik bis zur Philosophie.
Jeder Wissenschafter ist sich der Problematik bildgebender Verfahren der Neurophysiologie bewusst. Es gibt das Feld der Neurotheologie – das ist durchaus legitim. Man kann subjektive spirituelle Erlebnisse messen. Aber was heisst das jetzt? Die Normalreaktion ist: die haben gemessen, dass ein blauer Fleck auf der linken Seite bedeutet, ich sei katholisch oder so ähnlich. Das ist natürlich Unsinn, und die Wissenschafter wissen das. Leider wissen es nicht alle Feuilletonisten.

Die Medien springen doch nur auf den fahren-den Zug auf – die Wissenschafter nähren die Illusion des neuen alles erklärenden neurowissenschaftlichen Paradigmas, um Gelder aus dem Forschungstopf zu erhalten.
Ich gebe zu: Es gibt ein Problem bei der Öffentlichkeitsarbeit. Man muss sich heute als Wissenschafter promoten, und um sich zu promoten, werden Befunde so zugespitzt, dass eine klare Botschaft rüberkommt. Auch in der Wissenschaft spielt die Ökonomie der Aufmerksamkeit. Und es widerspricht den Prinzipien dieser Ökonomie, die Forschungsergebnisse in dem Detailgrad auszubreiten, der für eine sorgfältige und zurückhaltende Interpretation nötig wäre. Aber innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft spielt der Wettbewerb der Ideen – und es ist dieser Wettbewerb, der uns letztlich weiterbringt. Hier wird sorgfältig argumentiert und nicht mit dem rhetorischen Zweihänder.

Sie werden aber zugeben, dass Befunde, die unsere Vorstellungen von Glauben und Verhalten verändern, verlockend sind.
Natürlich, aber wir müssen uns fragen, worum es wirklich geht. Es gibt einen Satz experimenteller Methoden, mit denen man Aussagen über die Hirnphysiologie machen kann. Dies können Sie korrelieren mit Verhalten, das Sie über Gespräche, Fragebögen und andere Methoden feststellen. Das ist jedoch nur eine Korrelation, also ein statistischer Zusammenhang. Wir reden damit nicht über Kausalität. Jeder ernstzunehmende Hirnforscher wird es ablehnen, dass eine an einem Punkt im Gehirn festgestellte Aktivität ein bestimmtes Verhalten vorhersagt.

Es ist die Rede von einer psychopharmakologischen Revolution dank Hirnmedikamenten wie Ritalin, Focanil und Modafinil. Sind diese Neuro-Enhancer Teil einer bleibenden Strömung oder werden sie hochgejubelt und später wieder verdammt?
Das Bedürfnis des Menschen nach der Stärkung seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit begleitet uns seit etwa 30’000 bis 40’000 Jahren. Das Phänomen ist also nicht so neu. Pharmakologisch gesehen fängt Neuro-Enhancement mit jeder Einnahme von Drogen an. Und Beschreibungen solcher Versuche gehen mindestens 2000 Jahre zurück. Heute verstehen wir so viel von Hirnphysiologie, dass wir versuchen können, diese Methoden gezielt einzusetzen. Das finde ich ausserordentlich spannend. Es ist ein technologischer Eingriff in ein Individuum, der zunächst weder positiv noch negativ ist. Man muss sich fragen, was dieser Eingriff unter dem Strich bedeutet. Profitiert das Individuum oder nicht?

Tut es das?
Es gibt verschiedene Ansichten. Die einen lehnen jeden Eingriff partout ab, weil sie befürchten, das Menschliche am Menschen gehe so verloren. Anderseits gibt es jedoch philosophische Strömungen, die sagen, wir seien verpflichtet, eine solche Kulturleistung auf den Menschen anzuwenden, wenn wir die Möglichkeit dazu haben. Denn es ist das Ziel der verschränkten biologischen und kulturellen Evolution, den Menschen zu optimieren. Also machen wir uns schuldig, wenn wir Dinge, die wir tun können, nicht anwenden.

Erwarten Sie, dass in absehbarer Zeit eine Gegenströmung zum Siegeszug der Neurowissenschaft entsteht?
Ganz sicher. Wir werden ganz sicher irgendwelchen Formen der neuen Romantik verfallen.

Wie sähe eine solche neue Romantik aus?
Wir erleben heute schon solche Ideen wie «nicht denken, nur noch fühlen» oder «alle kognitiv gesteuerten Sachen sind schlecht, alle emotionalen Sachen sind gut». Das ist eine Schwingung des Pendels auf die andere Seite. Das ist genauso lächerlich wie die extrem-rationalistische Seite.

Sie haben am Collegium Einblick in verschiedene Disziplinen. Wie genau entsteht eigentlich eine wissenschaftliche Hauptströmung?
Bitte erwarten Sie von mir keine allumfassenden Erklärungen. Wie Paradigmen entstehen und sich verändern, können Sie beim Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn nachlesen. Kuhn bezog sich übrigens auf Ludwig Fleck, und wir beherbergen hier im Haus das Ludwig-Fleck-Zentrum. Fleck war einer der ersten, der in den 1930er Jahren beobachtet hat, dass es Denkkollektive und Denkstile gibt, die bestimmen, was als wissenschaftliche Tatsachen akzeptiert wird und wie es zu ihrer Formulierung kommt. Das sind soziale Prozesse: Ergebnisse werden akzeptiert oder nicht. Es ist nicht so, dass jemand eine grandiose Idee auf den Tisch legen kann und allgemeine Zustimmung erhält. Das war nicht mal bei Einsteins Relativitätstheorie, der Kategorien-fehler vorgeworfen wurden, der Fall.

Neue Strömungen in den Wissenschaften haben es oft sehr schwer, sich gegen eta-blierte Denkmuster durchzusetzen. Hat die wissenschaftliche Gemeinschaft ein konservatives Element, das zu wenig thematisiert wird?
Das ist kein Problem der Wissenschaft an sich, sondern des Wissenschaftsbetriebes, wie wir ihn heute sehen: die Belohnung in Form von Geld kommt oft dann, wenn man nur inkrementelle Verbesserungen innerhalb eines bereits bestehenden Paradigmas macht. Man optimiert, worüber man ohnehin schon nachdenkt. Kaum belohnt wird hingegen, wer das herrschende Paradigma in Frage stellt und etwas vollkommen anderes macht. Sagen wir es so: der Wissenschaftsbetrieb hat eine starke Tendenz, das zu belohnen, was bereits erfolgreich gewesen ist.

Also den Mainstream zu bestätigen. Und doch gibt es immer wieder solche, die ausbrechen und ihre Reputation aufs Spiel
setzen.
Ja. Aber sie können sich das nur zu einem Zeitpunkt leisten, in dem sie bereits über eine hohe Reputation verfügen. Wir sehen das Phänomen, dass viele in der Nähe der Pensionsgrenze umdenken und wieder radikal werden. Man muss längere Zeit akademische Erfahrung gesammelt haben, um die Mechanismen des Wissenschaftsbetriebes zu verstehen und um dann bewusst mit einigen von ihnen brechen zu können. Dazu kommen psychologische Faktoren: solange Sie um eine Stelle kämpfen müssen, ist es illusorisch, sich extrem nonkonformistisch zu verhalten. Sie müssen sich erst ein Renommee aufbauen. Sie brauchen eine Gruppe, in der Sie anerkannt sind.

Was geschieht mit Forschern und Ideen, die ausserhalb des Mainstreams stehen? Geraten sie während ihrer Lebzeit in Vergessenheit, verharren sie in Latenz und werden später wieder aktuell?
Max Planck sagte: die Wahrheit triumphiert nie, ihre Gegner sterben nur aus. Das hat etwas Wahres. Neue Ideen brauchen eine Latenzzeit. Eines der berühmtesten Beispiele aus jüngster Zeit ist die Plastizität des Gehirns, also dessen Fähigkeit, sich ständig an veränderte Bedingungen anzupassen. Bis 2003 gab es Publikationen in den weltweit führenden wissenschaftlichen Journalen, die eine neuronale Plastizität aus fundamentalen Gründen abgelehnt hatten. Solche Publikationen stoppen Zusprachen von Geldern. Das hat Karrieren gekostet.

Der Mainstream kann ja auch profitieren, wenn Gegenperspektiven aufkommen: entweder integriert er sie oder er bewährt sich gegen sie. Das ist eine Art evolutionsgeprüftes Verfahren.
Absolut. Versuch und Irrtum: das ist die Essenz der Wissenschaft. Je leidgeprüfter eine Theorie ist, desto robuster ist sie auch!

Wie entstehen neue Ideen ausserhalb gewohnter Denkmuster?
Es gibt den berühmten Regelsatz von Helmholtz und Pointcaré: Saturation, Inkubation, Illumination und Verifikation. Nachdem man sich während der Inkubationszeit intensiv genug mit der Materie beschäftigt hat, braucht es den Geistesblitz. Wichtig ist dabei die produktive Musse. Nach dem Heureka-Moment braucht es Zeit, das Neue in genügender Breite mit allen Kollegen auszutauschen. Das Neue hat den Charme, sich jeder Kategorie zu entziehen. «Neu» ist ja per definitionem das, worüber wir noch nichts wissen. Das Neue muss im Austausch mit anderen Wissenschaftern so weit verfestigt werden, dass es als Erkenntnis in das grosse Archiv des Wissens aufgenommen werden kann. Das braucht Zeit. Diese Zeit, das Neue konsequent zu Ende zu denken, wird immer weniger gewährt. Wir tun aber gut daran, uns auch weiterhin Freiheit zu reservieren, dem Neuen eine Chance zu geben.

Das Neue kann misslingen und trägt deshalb ein grösseres Risiko. Es ist doch verständlich, dass Förderinstitutionen auf das Bewährte setzen. Letztlich geht es ja oft um Steuergelder.
Der Staat und Organisationen wie der Nationalfonds sind in der Verantwortung, sehr haushälterisch mit Steuergeldern umzugehen. Die Frage ist immer: wie viel high-risk leisten wir uns? Ich bin für viel high-risk. Man müsste mehr Querdenken zulassen. Ich mache jetzt einen Werbespruch: wir brauchen mehr freidenkerische Institutionen wie das Collegium Helveticum.

Wann wird das Neue zum Mainstream?
Wir wissen nicht, wie viele Elemente zusammenkommen müssen, damit sich eine neue Qualität konstituiert. Ich bemühe mich eigentlich, nicht von Emergenz zu reden –  wenn man nicht mehr weiterweiss, spricht man von Emergenz. Wir stellen uns hier am Collegium jeweils spöttisch die Frage: wie viele Wassermoleküle braucht es, um den Begriff Wasser zu gebrauchen? Ab wann ist Wasser Wasser? Sind das zehn Moleküle oder 365’000, oder gar nur 42?

In jedem Mainstream gibt es eine inhärente Gegenströmung.
Das ist so. Indem Sie einen Mainstream erzeugen, entsteht zugleich eine Gegenreaktion.

Und wann werden Gegenströmungen eine ernsthafte Bedrohung für den Mainstream?
Mein persönlicher Eindruck ist: sobald der Mainstream seine Versprechungen überstrapaziert, indem er sie nicht mehr einlösen kann, wächst die Zahl seiner Kritiker lawinenartig. Das sieht man bei Medikamenten, der Diskussion um Atomkraftwerke und anderen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Das können Sie auf ganz vielen Gebieten sehen. Der Mainstream tendiert irgendwann dazu, sich in der Geschwindigkeit selber zu überholen. Die Versprechen und Vorhersagungen werden grösser und grösser – und schliesslich unhaltbar. Dann fallen naturgemäss Leute raus, die enttäuscht sind, und andere, die nicht bekommen haben, was sie wollten. Das gibt dann die Gruppe, aus der sich die Gegenbewegung bildet.

Dann ist der Mainstream eine Art Blase, die bei superexponentiellem Wachstum zu platzen droht?
Der Mainstream muss gleichsam immer wieder nachgefüttert werden. Wenn ihm die Basis wegbricht, dann ist es kein Mainstream mehr. Das können Sie im Moment bei den Autos oder beim Rauchen sehen. Zu sagen, dass es selbstverständlich gesund sei, nicht zu rauchen, ist mittlerweile Mainstream. Gleichzeitig gibt es eine zunehmende Zahl von Spöttern, die sagen, dass das Rauchverbot das Beste sei, was einer Party passieren könne. Ich muss nur rausgehen und eine rauchen, um die interessanten Leute zu treffen. Da entsteht eine neue Strömung. Bei den Autos sehen Sie den gleichen Effekt. Das Standardauto ist nach wie vor Mainstream. Aber es bricht ganz langsam weg. Es geht in Richtung Energiesparen, Verantwortungsbewusstsein, keine auffälligen Farben mehr und möglichst klein. Bis hin zum Elektroauto, das sich vielleicht mainstreamartig verbreitet. Die Frage nach der Verbreitung dieser Strömungen überlasse ich den Psychologen. Nur so viel: wir wollen alle immer zu den Guten gehören.

Glauben Sie an eine Parallelität von Mainstream und Gegenströmungen dank des Internets? Jeder, der sich ausserhalb des Mainstreams bewegt, findet dank der globalen Vernetzung genügend Leute, die noch so verrückte Positionen teilen.
Das glaube ich nicht. Ich glaube vielmehr, dass vieles, was ich im Internet sehe, der Entwicklung von Gegenströmungen sogar abträglich ist.

Damit stellen Sie sich gegen den medialen Mainstream, der das Internet fast einhellig lobt. Woher rührt Ihre Skepsis?
Im Internet finden Sie jederzeit eine Gruppe von Leuten, die sich auch mit ihren wildesten Ideen identifizieren kann. So wird das Internet zum Marktplatz der Beliebigkeit. Statt wesentlichen Diskussionen über wesentliche Strömungen haben wir alle Diskussionen über alles. Sie können irgendeinen beliebigen Begriff eintippen und finden mindestens 30 Leute, die sich dazu ge-äussert haben. Ich bin ein intensiver Nutzer des Internets und habe vor 12 Jahren ein Start-up gegründet, das e-learning verkauft. Ich bin mir jedoch nicht ganz sicher, ob das Internet die Erwartungen erfüllt, die man an es stellt.

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