Wir treten in große Pfützen und es spritzt gewaltig
Christoph Stalder im Gespräch über die Reform der Rechtschreibung Am 13. Juni reichte Christoph Stalder, der für die FPD im Berner Kantonsparlament sitzt, eine Motion ein, die von der ganzen Fraktion getragen wurde. Sie verlangte unter dem Titel «Rechtschreibreform: Einführung unverzüglich stoppen!», daß die Neuregelung erst eingeführt werde, nachdem der Rat für Rechtschreibung deren Überarbeitung abgeschlossen habe. Der Regierungsrat kam dieser Forderung nach, und zwar – was selten vorkommen dürfte – noch bevor das Parlament verhandelt hatte: der Kanton Bern setzte die Einführung der sogenannten neuen Rechtschreibung aus. Am 8. September überwies das Parlament die Motion mit großer Mehrheit. Stefan Stirnemann sprach mit Christoph Stalder über die Hintergründe seines Vorstoßes.
Herr Stalder, welches Buch lesen Sie gerade?
Ich lese immer parallel mehrere Bücher, allerdings stets mit Unterbrüchen. So bin ich seit längerer Zeit mit Gotthelfs «Käserei in der Vehfreude» beschäftigt, ebenso mit dem zweiten Band der «Weltgeschichte der neuesten Zeit» von Jean Rudolf von Salis, einem Buch, das – obwohl es unterdessen nicht mehr die neueste Zeit beschreibt – unglaubliche Einblicke in das politische Werden des 20. Jahrhunderts vermittelt. Die Kenntnis der Vergangenheit ist wichtig, wenn man die Gegenwart begreifen will; das gilt für die Politik wie für die Sprache. Zudem habe ich vor wenigen Wochen den sechsten Band von Harry Potter verschlungen – auf englisch. Ich bin bekennender Harry Potter-Fan!
Warum kümmern Sie sich um unsere Rechtschreibung?
Weil mir an einer reichen, verständlichen, korrekten Sprache gelegen ist.
Und warum macht Ihnen die neue Rechtschreibung Kummer?
Als Jurist wie auch als Politiker bemühe ich mich um präzise Formulierungen. Dieses Bestreben muß überall gelten; mißverständliche Wendungen, Wörter und Wortverbindungen sind zu vermeiden, und da hat die Rechtschreibreform dem Sprachverständnis keinen guten Dienst erwiesen. Sie hat in mehreren Gebieten – Zusammen- und Getrenntschreibung, Groß- und Kleinschreibung, Silbentrennung, um nur einige zu nennen – zu unhaltbaren, weil unlogischen und unklaren Ergebnissen geführt. Das kann so nicht hingenommen werden. Natürlich wandelt sich die Sprache im Laufe der Zeit und der Generationen, aber dieser Wandel kann und darf nicht behördlich verordnet, nicht befohlen werden.
Prof. Dr. Peter Gallmann, Reformer der ersten Stunde und nun Vertreter der Schweiz im Rat für deutsche Rechtschreibung, hat unlängst in der Nachrichtensendung 10 vor 10 gesagt, es seien nur ältere, eitle Herren gegen diese Reform. Fühlen Sie sich angesprochen?
Ich bin vielleicht ein paar Jährchen älter, aber überhaupt nicht eitel und auch nicht verkalkt. Ich möchte Herrn Gallmann nicht zu nahe treten, aber, mit Verlaub, solche Äußerungen wirken arrogant und lassen auf missionarischen Eifer und auf die Unfähigkeit schließen, mit Kritik umzugehen.
Wann wurden Sie auf diese Reform aufmerksam?
Im Jahr 1998 durch den «Leitfaden zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung», den unsere Bundesverwaltung herausgegeben hat. Dann vor allem durch die Proteste von Dichtern und Schriftstellern, von Zeitungen und Verlagen, welche die Änderungen nicht mittragen wollen. Den Ausschlag für meinen Entscheid, auf politischer Ebene aktiv zu werden, gab das Novemberheft 2003 der Schweizer Monatshefte, in dem die sich abzeichnende Fehlentwicklung differenziert, nüchtern, aber plastisch beschrieben wurde.
Welche politischen Schritte haben Sie unternommen?
Ich reichte zunächst eine Interpellation, das heißt eine einfache Anfrage ein, in der ich die Berner Regierung auf den Einführungstermin vom 1. August 2005 aufmerksam machte und fragte, ob sie angesichts der Widerstände auf eine Einführung verzichten würde. Der Antwort war sinngemäß zu entnehmen, daß die zuständige Direktion das Thema längst abgehakt hatte und von einer problemlosen definitiven Einführung ausging. Nach der Einsetzung des Rates für Rechtschreibung und den ersten Korrekturen, die dieses Gremium vorschlug, erhöhte ich den Druck auf die Regierung und verlangte mit einer Motion, das heißt einem Vorstoß, der die Regierung zu einem Handeln oder Unterlassen zwingt, daß auf die Einführung der neuen Rechtschreibung zu verzichten sei, bis der Rat für Rechtschreibung seine Arbeiten abgeschlossen haben würde. Daß die Berner Regierung im Sinne meines Vorstoßes gehandelt und daß das Parlament diesen Vorstoß mit deutlichem Mehr überwiesen hat, erfüllt mich schon etwas mit Stolz.
Ist Ihr Anliegen bezeichnend für die FDP?
Der Vorstoß ist Ausdruck einer liberalen Grundhaltung, wonach der Staat sich nicht in Gebiete einmischen soll, die sich von ihrem Inhalt her einer amtlichen Reglementierung verschließen.
Und die anderen Parteien – wo könnten sie sich verpflichtet fühlen?
In dieser Frage sollten parteipolitische Erwägungen keine Rolle spielen. Die Frage ist: Warum zum Teufel hat der Staat die Sprache festzulegen? Zuständig für die Sprache ist der Staat nur formell bezüglich der Lehrpläne, materiell in keiner Weise.
War es schwierig, Ihre Überzeugung durchzusetzen?
Mühe hatten Lehrerinnen und Lehrer im Parlament, welche die neue Rechtschreibung in ihren Klassen bereits eingeführt hatten und nun neue Unsicherheiten befürchteten; aber die Mehrheit des Rates konnte davon überzeugt werden, daß das von den politischen Behörden, in der Schweiz also von der Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) gewählte Vorgehen falsch ist. Im übrigen waren sich etliche im Schuldienst tätige Kolleginnen und Kollegen des Parlaments wohl einfach nicht bewußt, daß die neue Rechtschreibung bereits in drei Fassungen vorliegt und daß die Vorschläge des Rates für deutsche Rechtschreibung zu weiteren wesentlichen Änderungen, zu einer vierten Version führen werden. Die Unsicherheit besteht also bereits, und Aufgabe der EDK wäre es gewesen, durch ein Moratorium die Verhältnisse und die Gemüter zu beruhigen.
1996 unterzeichnete unser Land eine zwischenstaatliche Absichtserklärung mit der Verpflichtung, sich für die Umsetzung der neuen Rechtschreibung einzusetzen. Welche Verbindlichkeit hat diese Unterschrift?
Abgesehen davon, daß sich die deutschsprachigen Staaten gar nicht hätten einmischen sollen, ist diese Absichtserklärung – wie schon der Name sagt – von beschränktem Belang. Soweit ihr überhaupt eine Bedeutung zukommt, untersteht sie, wie alle Verträge, dem Vorbehalt der sich ändernden Verhältnisse, der sogenannten «clausula rebus sic stantibus». Diese Verhältnisse haben sich spätestens seit den Anträgen des Rats für Rechtschreibung und den Korrekturen am Reformwerk grundlegend verändert.
Also sind unsere Erziehungsdirektoren zu nichts verpflichtet?
Die EDK hätte die Freiheit, die Vereinbarung insgesamt abzulehnen oder den Mitgliedkantonen zu empfehlen, auf die Einführung der Reform zu verzichten. Ich bin erstaunt, daß sie das bisher nicht getan hat, obwohl die Bundeskanzlei und die kantonalen Staatskanzleien entsprechende Beschlüsse gefaßt haben. Jedenfalls verpflichtet die Absichtserklärung die Erziehungsdirektoren nicht, die Rechtschreibreform einzuführen, und die einzelnen Kantone sind frei, zu entscheiden, nach welchem Sprachwerk in ihren Schulen unterrichtet werden soll. Eine Koordination unter den Kantonen ist allerdings sinnvoll.
Was halten Sie vom Rat für Rechtschreibung?
Ich bin froh, daß dieser Rat spät zwar, aber nicht zu spät eingesetzt worden ist. Ich wünschte mir allerdings, daß er das Reformwerk grundsätzlich und umfassend, weniger zaghaft also, überprüfen würde. Die Zurückhaltung mag damit zusammenhängen – und hier wird die Sache für den außenstehenden Betrachter vollends unverständlich – daß die Schweiz die Mitglieder der ursprünglichen Reformkommission in den Rat delegiert hat. Dort sollen sie also ihr eigenes Reformwerk kritisch überprüfen. Ein unmögliches Vorgehen! Das hört sich an, wie wenn im Obergericht dieselben Leute säßen, die ein erstinstanzliches Urteil gefällt haben und dieses Urteil nun in aller Unabhängigkeit überprüfen sollten. Wie wollen Herr Gallmann und Herr Sitta – und das sei kein Vorwurf – die Rechtschreibreform unvoreingenommen überprüfen und in Frage stellen, die sie selber aktiv mitgestaltet haben? Der Vorwurf geht vielmehr dahin, daß die beiden Herren den Auftrag nicht abgelehnt haben, wie Vernunft, Logik und politischer Anstand es geboten hätten. Daß die Wörter- und Schulbuchverlage im Rat für Rechtschreibung vertreten sind, stört mich nicht grundsätzlich. Ihre Rolle muß sich aber darauf beschränken, die Debatte zu verfolgen und zu gegebener Zeit die Beschlüsse zu vollziehen, nicht aber selber gestaltend Einfluß zu nehmen.
Wo sehen Sie in der jetzigen Lage Handlungsbedarf?
In dreierlei Hinsicht. Erstens muß der Rat für Rechtschreibung das Reformwerk gründlich und ohne Zeitdruck kritisch überprüfen. Zweitens muß die EDK die Schweizer Vertreter in diesem Rat auswechseln. Drittens wird es die EDK nicht umgehen können, auf ihren Entscheid zur integralen Einführung der neuen Rechtschreibung zurückzukommen. Tut sie das nicht, macht sie sich endgültig lächerlich. Ich werde versuchen, die Exponenten der EDK zu einer Überprüfung und Änderung ihrer starren Haltung zu bewegen, und ich werde sie insbesondere auch auf die Kostenfolgen aufmerksam machen, die ihre Weigerung verursacht, einen Marschhalt einzulegen und den Abschluß der Arbeiten des Rats für Rechtschreibung abzuwarten.
Welche Bedeutung hat die deutsche Sprache im Ganzen der Bildungspolitik?
Für uns Deutschschweizer ist die Beherrschung der deutschen Sprache im mündlichen und schriftlichen Ausdruck Voraussetzung und Grundlage für das lebenslange Lernen.
Können Sie ein Gedicht auswendig?
Als «älterer, eitler Herr» habe ich noch viele Gedichte, Monologe und Lieder auswendig gelernt, die ich nun unseren kleinen Großkindern mit Freude weitervermittle. Zu unserem Thema paßt vielleicht ein kurzes Värsli, an dem die dreijährige Leonor ganz besonderes Vergnügen hat:
I bin e chlyne Stumpe / Rund und dick / I trappen ine Glungge / Hui, das sprützt!
Herr Stalder, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Was ist vom Rat für deutsche Rechtschreibung zu erwarten?
Ein Nachtrag von Stefan Stirnemann
Deutsch, Hochdeutsch und Mundart, ist für uns Deutschschweizer die wichtigste Sprache. In ihr lesen und sprechen wir über Fragen der Politik, über die Rätsel des Lebens, über die Schönheit der Welt. Der Deutschunterricht müßte in unserer Schule im Mittelpunkt stehen und mit viel Zeit und Geld ausgestattet sein. Statt dessen geben die Erziehungsdirektoren mit vollen Händen öffentliche Mittel für die sogenannte Rechtschreibreform aus. Bei ihr geht es längst nicht mehr um eine Vereinfachung des Schreibens, sondern darum, ein im Kern mißratenes Werk tauglich zu machen. Den neuesten Versuch unternimmt der Rat für deutsche Rechtschreibung, der vor einem Jahr eingesetzt wurde, aber es zeichnet sich ab, daß auch er dieses Ziel nicht erreicht.
Das liegt zum einen daran, daß die Politiker keine grundsätzlichen Änderungen annehmen werden. Regierungsrätin Aeppli, Erziehungsdirektorin des Kantons Zürich, teilte diesen Juli mit: «Der Rat für deutsche Rechtschreibung arbeitet an Änderungsvorschlägen. Es ist davon auszugehen, dass einige dieser Vorschläge umgesetzt werden, allerdings im Sinne einer Erweiterung der zugelassenen Varianten.» Offenbar haben sich die Politiker darauf geeinigt, daß die Fehler nicht beseitigt, sondern im besten Fall durch weitere Wörterbucheinträge ergänzt werden. Schon das aber macht alle Wörterbücher wertlos, welche die Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) zum ersten August dieses Jahres für verbindlich erklärte. Abgesehen von der Gängelung durch eine verfehlte Politik, ist der Rat auch in sich gehemmt; die Urheber und Verfechter der Neuregelung sind in der Überzahl, und die erforderte Zweidrittelmehrheit kommt für einen echten Neuanfang nicht zustande. Als der Vorsitzende des Rats, der erfahrene bayerische Politiker Hans Zehetmair, von Trägern der «Altlast» sprach, die er «integrieren» müsse, meinte er auch die Schweizer Vertreter.
Daß die Professoren Horst Sitta und Peter Gallmann die Reform verteidigen, versteht sich; sie sind schon seit zwanzig Jahren mit der Abänderung unserer Rechtschreibung beschäftigt. Gallmann ist verantwortlich für ein besonderes Ärgernis, den ausufernden Großbuchstaben. Eigentlich wollten die Reformer das Gegenteil, und nicht zufällig war an ihren Vorarbeiten der Zürcher «Bund für vereinfachte rechtschreibung» beteiligt. Er verfolgt mit der Kleinschreibung der Substantive und der Abschaffung etlicher Buchstaben uralte Reformziele des neunzehnten Jahrhunderts und hat nur wenige Mitglieder. Der «Vorsitzer», Rolf Landolt, schrieb: «Die lösung mit der vermehrten grossschreibung bedaure ich sehr, aber es ist die einzig mögliche, solange die substantivkleinschreibung politisch nicht durchsetzbar ist.» Gallmann, Vertreter dieser Außenseitermeinung, ist nun Mitglied der Arbeitsgruppe, welche die Groß- und Kleinschreibung prüft: er wird nicht das tun, was im Sinne der Sprachgemeinschaft nötig wäre. Rücksichtslosigkeit zeigte er auch mit seiner jüngsten Ausgabe des Buches «Richtiges Deutsch» (Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2004). Er arbeitete die Regeländerungen vom Juni 2004, über die er doch als Mitglied der Reformkommission Bescheid wußte, nur zum Teil ein; der Käufer, der eine, wie der Untertitel verspricht, «vollständige Grammatik und Rechtschreiblehre unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtschreibreform» erwartet, hat sein Geld vertan. Die gleiche Selbstherrlichkeit zeigte Gallmann Ende Juli in der Nachrichtensendung «10 vor 10», als er sagte, es seien nur «ältere, eitle Herren» gegen die Reform. Unterdessen hat sich der stellvertretende Redaktionsleiter für Gallmanns Äußerung entschuldigt, bisher aber nur in einem Brief.
Zu den weiteren Schweizer Räten: Werner Hauck, pensionierter Beamter der Bundeskanzlei, war, wie Gallmann und Sitta, schon Mitglied der Reformkommission. Er ist Mitverfasser des «Leitfadens zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung» (Schweizerische Bundeskanzlei, zweite Auflage 2000); die Beratung haben Gallmann und Sitta. Peter Feller ist Direktor des Lehrmittelverlags des Kantons Zürich. In diesem Verlag erscheint das «Handbuch Rechtschreiben», dessen Autoren Gallmann und Sitta sind. Der Mittelschullehrer Roman Looser ist akademischer Schüler Sittas; der Fachdidaktiker Thomas Lindauer arbeitete schon 1992 im «Internationalen Arbeitskreis für Orthographie» mit Gallmann und Sitta zusammen. Stephan Dové ist Chefkorrektor der NZZ; eine grundsätzliche Umgestaltung der Neuregelung wäre mit dem Eingeständnis verbunden, daß auch die Hausorthographie dieser Zeitung fehlerhaft ist. In Gallmanns «Richtigem Deutsch» ist ihm neckisch ein Beispielsatz gewidmet: «Für das Jahr 1995 wurde Stephan Dové als Vorsitzender gewählt.»
Die neun Schweizer Räte unterstehen keiner Aufsicht; wie schon die Reformkommission wollen sie Ansichten einer Minderheit durchsetzen. Ein Kritiker ist nicht unter ihnen; Christian Schmid, Kulturbeauftragter der EDK, nannte die Reformkritik ein «großes Gejaule». Auch er ist ein alter Bekannter Gallmanns und Sittas; die beiden setzten sich 1996 in einem Brief an ihn dafür ein, daß der Duden in unseren Schulen verbindlich bleibt. Gallmann und Sitta sind Autoren des Dudenverlags.
Zu den Vorschlägen des Rats, die unter den gesetzten Bedingungen keine Lösung bringen werden, führt die EDK jetzt eine Anhörung durch. Die Frist, vier Wochen über die Festtage, zeigt einmal mehr, wie leicht die Verantwortlichen diese Sache nehmen. Diese Sache ist unsere Sprache.
Christoph Stalder arbeitet als Leiter Public Affairs bei
der Schweizerischen Mobiliar-Versicherung. Er vertritt seit 2002 die FDP im Berner Kantonsparlament.
Stefan Stirnemann ist Lehrer am Gymnasium Friedberg in Gossau SG und Mitglied der Forschungsgruppe Deutsche Sprache, FDS (www. sprachforschung.org).